Dieser Artikel behandelt Staatsorganisation, Behorden und Staatsgebiet Deutschlands unter nationalsozialistischer Herrschaft. Zu den Aufstiegsbedingungen der Nationalsozialisten ab 1918 und zu weiteren Merkmalen der NS-Diktatur siehe
Zeit des Nationalsozialismus
; zu den mit staatlichen Zustandigkeiten rivalisierenden Parteigliederungen siehe
Struktur der NSDAP
.
Als
NS-Staat
(kurz fur
nationalsozialistischer Staat
) oder
NS-
Deutschland
wird das
Deutsche Reich
bzw. das sogenannte
Großdeutsche Reich
fur die
Zeit des Nationalsozialismus
(1933?1945) bezeichnet, in dem die
Diktatur
Adolf Hitlers
, die von der
Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei
(NSDAP) gestutzt wurde, an die Stelle der demokratisch verfassten
Weimarer Republik
getreten war.
Dieser umgangssprachlich auch
Drittes Reich
genannte Staat war gepragt von einem absoluten Herrschaftsanspruch uber das Individuum, einem radikalen
Antisemitismus
, einem ausgreifenden
Fuhrerkult
und zunehmendem
Staatsterror
. Die Errichtung der Diktatur begann unmittelbar nach der
Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933
: Mit der
Verordnung des Reichsprasidenten zum Schutz von Volk und Staat
vom 28. Februar 1933 und dem
Ermachtigungsgesetz vom 24. Marz 1933
wurden wesentliche Teile der
Weimarer Reichsverfassung
dauerhaft suspendiert, darunter die
Gewaltenteilung
, die parlamentarische Kontrolle der Regierung sowie
grundlegende Burgerrechte
. Der
Ausnahmezustand
blieb bis zum Ende des NS-Staates bestehen.
Innerhalb weniger Monate schuf das
NS-Regime
durch die
Gleichschaltung
von Politik und Gesellschaft einen
zentralistischen Staat
nach der Ideologie des
Nationalsozialismus
. Die
Gewerkschaften
und alle politischen Parteien außer der NSDAP wurden verboten. An die Stelle der fruheren Staatsordnung mit ihren klar abgegrenzten Machtbefugnissen trat ein rivalisierendes Nebeneinander sich uberschneidender Kompetenzen des Staates und der NSDAP, eine
Polykratie
, in der Hitler stets die letzte Entscheidungsgewalt in Anspruch nahm. Mit Hilfe der
Geheimen Staatspolizei
(Gestapo) und Parteiorganisationen wie
SA
und
SS
verwandelte das Regime den
Rechtsstaat
in einen
Polizeistaat
mit
Konzentrations-
und spater auch
Vernichtungslagern
.
Holocaust
und
Porajmos
? die systematischen
Genozide
an
Juden
sowie
Sinti und Roma
?, die Verfolgung und Ermordung
Oppositioneller
,
Andersdenkender
,
Behinderter
und
Homosexueller
wie auch die
NS-Krankenmorde
forderten mehrere Millionen Menschenleben.
Als Hitler 1934 zusatzlich das Amt des Reichsprasidenten ubernahm, fiel ihm auch das
Beamtenernennungsrecht
zu, das er sich fur das hohere
Beamtentum
personlich vorbehielt. Bereits unmittelbar nach der sogenannten Machtergreifung hatte sich das Regime vom Prinzip des nur dem Gemeinwohl verpflichteten, unpolitischen Beamten abgewandt. Neben der fachlichen Qualifikation mussten Anwarter auf ein Amt nun auch ihre politische Zuverlassigkeit im Sinne des Nationalsozialismus nachweisen. In Feldern, die ihm besonders wichtig waren, setzte der Diktator
Staatskommissare
ein, die allen Regierungs- und Verwaltungsstellen ubergeordnet waren. Mit der Ubernahme der Befehlsgewalt uber die
Wehrmacht
1938 sicherte Hitler sich auch die unmittelbare Fuhrung des Militars.
Der NS-Staat ging in dem von ihm selbst ausgelosten
Zweiten Weltkrieg
unter. Die
Anti-Hitler-Koalition
zwang die deutsche Wehrmacht am 8. Mai 1945 zur
bedingungslosen Kapitulation
. Am 5. Juni 1945 ubernahmen die Siegermachte
USA
,
Großbritannien
,
Sowjetunion
und
Frankreich
auch formell die
Regierungsgewalt
in Deutschland.
In der politikwissenschaftlichen und historischen Forschung wurde und wird der NS-Staat unter anderem als
faschistisch
,
totalitar
,
polykratisch
,
absolutistisch
,
modernisierend
, als
charismatische Herrschaft
und als Gefalligkeitsdiktatur beschrieben.
Der Nationalsozialismus verstand sich als alle Bereiche von
Staat und Gesellschaft
umgestaltende, revolutionare Bewegung. Ziel war es, die
parlamentarische Demokratie
durch die Diktatur der NSDAP als einziger
Partei
? beziehungsweise durch die ihres Fuhrers ? und die grundsatzlich offene, burgerliche Gesellschaft durch eine rassistisch definierte
Volksgemeinschaft
zu ersetzen.
Um den Staat im Sinne des
Fuhrerprinzips
und einer spezifischen Vorstellung von Volksgemeinschaft umzugestalten, galt es, die individuellen
Burgerrechte
und die institutionalisierte
Gewaltenteilung
zwischen Reichs- und Landesregierungen einerseits sowie
Legislative
,
Exekutive
und
Judikative
andererseits zu beseitigen. Eine ?starke Zentralgewalt des Reiches“ gehorte bereits zum
25-Punkte-Programm
der NSDAP von 1920.
Nach innen sollte die Idee der
Volksgemeinschaft
Politik, Moral und Recht zu einem unauflosbaren Ganzen zusammenschweißen. Der keiner hoheren Rechtsinstanz verpflichtete ?Fuhrerwille“ sollte ? von den Parteigliederungen im vorauseilenden Gehorsam erahnt ? eine neue nationalsozialistische
Herrschafts-
und
Regierungsform
schaffen. An die Stelle der Verpflichtung der Staatsbeamten auf allgemeine Rechtsprinzipien trat die personliche, durch ?
Fuhrereide
“ zu bekraftigende Verpflichtung. Zentraler Bestandteil der NS-Ideologie war der
volkische Nationalismus
,
Rassismus
und
Antisemitismus
.
Juden
, aber auch
Sinti und Roma
sowie weitere als ?nicht-
arisch
“ definierte Bevolkerungsgruppen, konnten demnach nicht Teil der Volksgemeinschaft sein.
Die Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur erfolgte in einer Geschwindigkeit, die Gegner und selbst Anhanger der NSDAP uberraschte. Bereits am 1. Februar 1933 erwirkte Hitler von Reichsprasident Hindenburg die Auflosung des Reichstags und die Anberaumung von
Neuwahlen fur den 5. Marz
. So wurde das Parlament fur die Zeit bis zur Wahl als Machtzentrum ausgeschaltet. Am 4. Februar erging die
Verordnung des Reichsprasidenten zum Schutze des Deutschen Volkes
, die die Presse- und Versammlungsfreiheit so weit einschrankte, dass Hitlers Minderheitsregierung oppositionelle Parteien im Wahlkampf praktisch mundtot machen konnte.
[3]
Ebenfalls schon im Februar leitete die Regierung Hitler Maßnahmen ein, um
Demokratie
und
Pluralismus
zu beseitigen. Sie zielten darauf ab, konkurrierende Machtzentren in Reich, Landern und Kommunen auszuschalten und das gesamte staatliche, gesellschaftliche und kulturelle Leben der Ideologie des Nationalsozialismus unterzuordnen. Dieser Prozess der Gleichschaltung betraf neben staatlichen Institutionen alle bedeutenden Organisationen, Verbande und
politischen Parteien
. Diese wurden entweder verboten oder ideologisch und organisatorisch auf die Linie der NSDAP gebracht.
Die sogenannte
Reichstagsbrandverordnung
vom 28. Februar 1933 setzte verfassungsmaßig verburgte
Grundrechte
auf unbestimmte Zeit außer Kraft und begrundete den
Ausnahmezustand
. Die linken Oppositionsparteien wurden gewaltsam unterdruckt, wobei Einheiten von
Sturmabteilung
(SA) und
SS
in Preußen als ?freiwillige Hilfspolizei“ (Erlass vom 22. Februar 1933) eingesetzt wurden. Bis Herbst 1933 wurden auf Grundlage der Reichstagsbrandverordnung mehr als 100.000 politische Gegner in ?
Schutzhaft
“ genommen.
[4]
Mit dem
Ermachtigungsgesetz
wurde schließlich der staatsorganisatorische Teil der
Weimarer Verfassung
beiseite geschoben, indem die Gewaltenteilung aufgehoben und die
Reichsregierung
als vollwertiger Gesetzgeber mit der Autoritat zu
Verfassungsanderungen
installiert wurde.
[5]
Zwar waren die einschlagigen Bestimmungen zur Gesetzgebungskompetenz von Reichstag und
Reichsrat
in Kraft gelassen worden. Aber der Reichstag existierte lediglich als ?Akklamationsinstanz“ Hitlers und seiner Regierung weiter.
[6]
Das Ermachtigungsgesetz setzte neues
Verfassungsrecht
ohne Rucksicht auf geltendes Recht, zwar in den Formen der Verfassungsanderung nach der Reichsverfassung, aber ohne von deren Befugnis gedeckt zu sein.
[7]
Es brach nicht nur mit der Verfassung, ohne sie außer Kraft zu setzen, sondern verabschiedete Form und Gestalt rechtsstaatlicher Verfassung gleich prinzipiell.
[8]
Die Weimarer Verfassung galt hiernach nicht mehr, auch nicht in den Teilen, die, formal gesehen, vom Ermachtigungsgesetz und der Reichstagsbrandverordnung nicht beruhrt worden waren. Wenn dennoch einzelne Verfassungsnormen nach 1933 angewendet wurden, dann ohne Begrundung oder unter Berufung darauf, dass sie dem Willen des ?Fuhrers“, der auch oberster Gesetzgeber war, nicht widersprachen.
[9]
Die Weimarer Reichsverfassung war damit in ihrer rechtlichen Substanz faktisch ausgehohlt. Auf der Grundlage des Ermachtigungsgesetzes konnte auch der
Foderalismus in Deutschland
aufgehoben werden.
[10]
Zunachst wurden die
foderalen
Strukturen der Weimarer Republik aufgehoben. Die beiden dazu erlassenen Gesetze schalteten samtliche bis dahin gewahlten Minister, Abgeordneten und hoheren Staatsbeamten der Lander ? vor allem
Suddeutschlands
? und die Senate der
Hansestadte
aus. Das erste
Gleichschaltungsgesetz
vom 31. Marz 1933 loste die Landtage, Burgerschaften, Kreistage und Gemeinderate auf und ermachtigte die Landesregierungen, Gesetze auch gegen die Landesverfassungen zu erlassen. Die Selbstverwaltungskorperschaften mussten nach den Stimmverhaltnissen der Reichstagswahl vom 5. Marz 1933 neu zusammengesetzt werden. Dadurch ruckten Tausende NSDAP-Mitglieder auf freigewordene Posten nach. Das zweite Gleichschaltungsgesetz vom 7. April 1933 schuf in allen Landern außer
Preußen
, in dem dies schon durch den ?
Preußenschlag
“ 1932 geschehen war,
Reichsstatthalter
mit diktatorischen Vollmachten, die vom Reichsprasidenten ernannt werden durften, direkt dem
Reichskanzler
unterstellt und den Landesregierungen ubergeordnet waren. Sie durften deren Mitglieder, sonstige Staatsbeamte und Richter ernennen und entlassen. Auch das Recht, Gesetze zu erlassen, wurde ihnen ubertragen. Das Amt eines Staatsprasidenten, das einige Landesverfassungen verankerten, wurde fur beendet erklart. In der Praxis folgte Reichsprasident
Paul von Hindenburg
bei der Besetzung der Reichsstatthalter fast uberall Hitlers Vorschlagen aus alten Gefolgsleuten und NSDAP-Gauleitern.
Mit der Verfolgung der
KPD
ab dem 28. Februar infolge des
Reichstagsbrands
, dem Verbot der SPD am 22. Juni und der Selbstauflosung der ubrigen Parteien bis zum
Gesetz gegen die Neubildung von Parteien
vom 14. Juli 1933 wurde die NSDAP zur einzigen und alleinherrschenden Partei des Reiches, was im Dezember 1933 mit dem
Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat
noch bekraftigt wurde. Damit war ein
Einparteiensystem
errichtet und der als Kennzeichen des verhassten ?
Systems
“ betrachtete
Parlamentarismus
beseitigt. Um jede mogliche Opposition auszuschalten, zerschlug das NS-Regime unmittelbar nach dem
Tag der nationalen Arbeit
am 1. Mai 1933 alle
Gewerkschaften
, beschlagnahmte ihr Vermogen und schaffte das Streikrecht ab. Alle Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbande wurden am 10. Mai 1933 zwangsweise in der
Deutschen Arbeitsfront
(DAF) zusammengeschlossen, die ab 1934 der NSDAP unterstand.
Der
Reichstag
hatte seine legislative und die Exekutive kontrollierende Funktion bereits mit der Zustimmung einer
Zweidrittelmehrheit
zum Ermachtigungsgesetz am 23. Marz 1933 aufgegeben. Er blieb als Institution formal bestehen, um fur Hitlers Regierungserklarungen eine
Staffage
zu liefern und auch gegenuber dem Ausland einen demokratischen Schein zu bewahren. Er bestand nun zur Halfte aus Parteimitgliedern, zur anderen Halfte aus Vertretern von SA, SS und der Partei angeschlossenen Verbanden. Bis 1939 erließ er noch neun Gesetze, wahrend die ubrigen an die 5.000 Gesetze und Verordnungen von den Spitzen des NS-Regimes direkt erlassen wurden.
Mit dem
Gesetz uber den Neuaufbau des Reichs
vom 30. Januar 1934 verloren die Lander ihre staatliche Souveranitat, so dass in den bis 1935 anhaltenden Gleichschaltungsverordnungen die Justiz- und Verwaltungshoheit der Lander vollstandig ausgehebelt wurde, bis diese den zustandigen Reichsministerien direkt unterstellt war. Der
Reichsrat
, der als Landervertretung in der Weimarer Verfassung ein Einspruchsrecht gegen alle Gesetzesvorlagen der
Reichsregierung
hatte, wurde am 14. Februar 1934 aufgelost.
Aufgehoben oder durch eine nationalsozialistische Verfassung ersetzt wurde die Weimarer Reichsverfassung gleichwohl nicht. Nachdem sie in wesentlichen Punkten materiell dauerhaft außer Kraft gesetzt war, musste sie das aber auch nicht mehr.
[10]
Nationalsozialistische Staatsrechtslehrer wie
Carl Schmitt
erklarten schon 1933, die Weimarer Verfassung habe zu gelten aufgehort. Fur
Ernst Forsthoff
war die Verfassungsfrage 1935 ?erledigt“,
[11]
und
Ernst Rudolf Huber
beschrieb die nationalsozialistische Machteroberung 1939 als ?wirkliche Revolution“, welche ?die Weimarer Verfassung als Gesamtsystem beseitigt“ und ?zugleich die volkische Verfassung aufgerichtet“ habe.
[12]
Die in der NS-Ideologie proklamierte ?Einheit von Volk und Staat“ fuhrte zur Aufhebung der Gewaltenteilung; die obersten Regierungsamter erhielten sowohl legislative wie exekutive und judikative
Kompetenzen
. Als das
Fuhrerprinzip
in allen staatlichen Aufgabenbereichen und auf allen Staatsebenen wirksam wurde, ergab sich einerseits eine Zentralisierung der bisherigen Ressorts und Amter, andererseits ihre oft wildwuchsige Vermehrung.
Die Uberschneidung von Aufgaben zentralisierter und neugeschaffener Staatsbehorden sowie oberster Parteiamter mundete in eine Fulle von Kompetenzstreitigkeiten und Rivalitaten, die dann oftmals durch eine Entscheidung Hitlers autoritativ beendet werden mussten. In der Regel wurden im Ergebnis Verwaltungsbehorden mit Parteiamtern verschmolzen. Daraus entstand eine Reihe neuer ?Oberster Reichsbehorden“.
Am 30. Januar 1933 wurde der Vorsitzende der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), Adolf Hitler, zum neuen
Reichskanzler
ernannt.
Staatsoberhaupt
war bis zu seinem Tod am 2. August 1934
Reichsprasident
von Hindenburg. Die Abschaffung des selbstandigen Reichsprasidentenamtes hatte Hitler schon lange vorher beschlossen. Mit dem am 1. August 1934 ausgefertigten
Gesetz uber das Staatsoberhaupt des Deutschen Reichs
ließ Hitler die Amter des Reichsprasidenten und des Reichskanzlers vereinigen und fur sich den neuen Titel
Fuhrer
und Reichskanzler
einfuhren. In pseudo-demokratischer Manier wies er eine
Volksabstimmung uber das Gesetz
an, die am 19. August abgehalten wurde. Das Gesetz markiert mit der Errichtung des
Fuhrerstaats
den Abschluss der nationalsozialistischen Machtubernahme.
[13]
Die unkontrollierte Vereinigung aller
Staatsgewalt
in der Person Hitlers war vollendet.
[14]
Den Titel ?Fuhrer und Reichskanzler des Deutschen Reiches“ trug Hitler nach außen bis 1938, ab Januar 1939 ließ er sich nur noch ?
Fuhrer
“ nennen.
Hitlers Amtssitz war die Reichskanzlei in Berlin. Diese fungierte als Behorde zur Abwicklung der laufenden Regierungsgeschafte und zugleich als Parteizentrale der NSDAP. Fur die Regierungsgeschafte zustandig war der Staatssekretar
Hans Heinrich Lammers
, spater
Martin Bormann
. In unmittelbarer Nahe zu Hitlers privatem, zum Sperrgebiet erklarten Wohnsitz auf dem
Obersalzberg
wurde 1937 zudem die
Reichskanzlei Dienststelle Berchtesgaden
, die so genannte
Kleine Reichskanzlei
, errichtet.
Zentrales Fuhrungsorgan der NSDAP und fur die Koordination von Reichskanzlei und Ministerien zustandig war der
Stab des Stellvertreters des Fuhrers
von
Rudolf Heß
, der im Rang eines Ministers dem Reichskabinett und dem
Ministerrat fur die Reichsverteidigung
angehorte. Zudem hatte er ein Mitspracherecht bei wichtigen Verordnungen der Reichsministerien und bei der Ernennung hoher Staatsbeamter. Ab 1941 wurde diese Stelle unter der Bezeichnung
Parteikanzlei
von Bormann weitergefuhrt. Die als ?Privatkanzlei Adolf Hitlers“ 1934 geschaffene
Kanzlei des Fuhrers der NSDAP
, die von
Philipp Bouhler
geleitet wurde und in der auch Martin Bormanns Bruder
Albert Bormann
tatig war, beschrankte sich bei Parteiangelegenheiten auf Gnadengesuche und Petitionen, steuerte aber auch die ?
Aktion T4
“.
Am 12. Januar 1939 verlegte Hitler seinen Amtssitz in die von
Albert Speer
konzipierte
Neue Reichskanzlei
an der Voßstraße in Berlin.
Die im
Kabinett Hitler
fortbestehende Reichsregierung bestand aus 12 bis 15 Reichsministern mit und ohne Geschaftsbereich und weiteren Spitzenbeamten des NS-Staates. Unter dem Vorsitz des Reichskanzlers war sie hauptsachlich damit beschaftigt, Gesetzentwurfe zu beraten und zu beschließen. Hitler hielt jedoch nur bis zur Konsolidierung seiner Machtstellung und -funktionen regelmaßige Kabinettssitzungen ab. Ab 1935 tagte das Kabinett nur noch unregelmaßig und immer seltener. Es verabschiedete dann im Eilverfahren reihenweise neue Gesetze, ohne diese zu diskutieren. Die letzte gemeinsame Sitzung fand am 5. Februar 1938 statt.
Indem immer mehr Kompetenzen an den Regierungschef delegiert bzw. von diesem an sich gezogen wurden, wurden Minister zunehmend zu Befehlsempfangern. Hitler regierte unmittelbar mit Verordnungen. Damit verlor das Kabinett seine gesetzgeberische Rolle und zerfiel schließlich wahrend des Krieges in Teilressorts, die sich nur noch partiell untereinander abstimmten.
Nach dem Tod Hitlers bildete der fruhere
Reichsfinanzminister
Johann Ludwig Graf Schwerin von Krosigk
im Auftrag von Großadmiral
Karl Donitz
, den Hitler zu seinem Nachfolger als
Reichsprasident
bestimmt hatte, eine
geschaftsfuhrende Regierung
. Sie versuchte, Verhandlungen mit den Alliierten uber eine Verwaltung Deutschlands aufzunehmen, wurde aber von diesen am 23. Mai 1945 abgesetzt und verhaftet. Bis zur Ubernahme der obersten Staatsgewalt in Deutschland durch Großbritannien, die USA, die Sowjetunion und Frankreich, die am 5. Juni 1945 in der
Berliner Erklarung
und in begleitenden Deklarationen verkundet wurde,
[15]
existierte keine zentrale Regierung Deutschlands mehr. Der
Alliierte Kontrollrat
, der diese Funktion ubernehmen sollte, verfugte uber keine eigene Exekutive und war fur die Umsetzung seiner Beschlusse auf die
Militarregierungen
in den Besatzungszonen angewiesen.
Als
Reichsministerium
wurden ab 1933 folgende Behorden bezeichnet:
Dabei veranderte das NS-Regime Zuschnitt und reale Kompetenzen der einzelnen Ministerien teilweise erheblich. Ab 1933 wurden folgende Ressorts neu eingerichtet:
Zu den obersten Reichsbehorden und Spitzenamtern, die keinem Reichsministerium, aber direkt der Reichskanzlei unterstellt waren oder wurden, zahlten:
- die Dienststelle Stellvertreter des Fuhrers (
Parteikanzlei
, ab Juni 1933)
- die
Reichsgerichte
- der
Rechnungshof des Deutschen Reiches
- der
Reichsbauernfuhrer
(
Richard Walther Darre
, spater in
Personalunion
mit dem Ernahrungsminister)
- das
Reichsforstamt
(
Hermann Goring
, Personalunion mit dem Amt des
Reichsjagermeisters
)
- das
Reichsamt fur Wirtschaftsausbau
- die Reichsstelle fur Wohnungs- und Siedlungswesen (1939?1940)
- der Reichskommissar fur sozialen Wohnungsbau (Reichsorganisationsleiter der NSDAP,
Robert Ley
, ernannt am 15. November 1940)
- der Generalinspekteur fur das deutsche Straßenwesen (
Fritz Todt
, ab November 1933)
- der
Generalbauinspekteur fur die Reichshauptstadt
(Albert Speer, ab Januar 1937)
- das
Rasse- und Siedlungshauptamt
- das
Reichsamt fur Wetterdienst
(Februar 1933 bis November 1934:
Reichsamt fur Flugsicherung
)
- das
Statistische Reichsamt
(bis 1940)
- das
Reichsversicherungsamt
(bis 1944)
- die
Reichsversicherungsanstalt fur Angestellte
(bis 1935)
- das
Reichsaufsichtsamt fur das Versicherungswesen
(bis Juni 1943:
Reichsaufsichtsamt fur Privatversicherung
)
- das
Reichsgesundheitsamt
(bis 1938)
- die
Reichsanstalt fur Vitaminprufung und Vitaminforschung
(ab 1941/42)
- die
Reichsanstalt fur Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung
(Prasident bis Ende 1938:
Friedrich Syrup
, ab Januar 1939 Staatssekretar unter dem Reichsarbeitsminister)
- der
Reichsarbeitsdienst
(
Konstantin Hierl
, von 1935 bis 1943; danach Teil des Innenministeriums)
- der Generalbevollmachtigte fur die Wirtschaft (1935; spater fur Kriegswirtschaft)
- der Chef des Technischen Amtes des Reichsministeriums fur Rustung und Kriegsproduktion, Hauptdienststellenleiter
Karl-Otto Saur
(1945
testamentarisch
Rustungsminister
in spe
)
- die
Reichsstelle fur Raumordnung
(1935)
- das
Reichsamt fur Landesaufnahme
- der
Reichswohnungskommissar
(1942?1945)
- das
Reichspatentamt
- die
Reichsjugendfuhrung
(
Baldur von Schirach
, ab 1936)
- der
Reichskommissar fur Preisbildung
(
Carl Friedrich Goerdeler
, ab November 1936)
- der
Reichssportfuhrer
(ab 1936)
- der Beauftragte fur den Vierjahresplan (Staatssekretar
Erich Neumann
, ab 1936)
- der
Reichsfuhrer SS und Chef der Deutschen Polizei
(
Chef der Sicherheitspolizei und des SD
;
Heinrich Himmler
, ab 1936)
- der
Generalgouverneur
(
Hans Frank
, ab 1941 auch dessen standiger Stellvertreter Staatssekretar
Josef Buhler
)
- der Generalbevollmachtigte fur die Reichsverwaltung (ab 1938)
- der
Ministerrat fur die Reichsverteidigung
bzw. Geheime Kabinettsrat (ab 1938)
- die
Reichsbank
(ab Juni 1939)
- die
Reichshauptkasse
(bis 1939)
- die
Reichsschuldenverwaltung
(bis 1938)
- die
Reichsdruckerei
- der
Reichsprotektor in Bohmen und Mahren
(ab Marz 1939)
- der
Reichsarbeitsfuhrer
(Konstantin Hierl, ab 1943)
- der
Generalbevollmachtigte fur den Arbeitseinsatz
(
Fritz Sauckel
, ab Marz 1943)
- der
Reichsbevollmachtigte fur den totalen Kriegseinsatz
(
Joseph Goebbels
, ab Juli 1944)
Ein Großteil der Beamtenschaft zu Zeiten der Weimarer Republik stammte noch aus der Kaiserzeit und blieb antidemokratisch eingestellt. In Preußen waren schon ab 1930 uberdurchschnittlich viele Beamte in die NSDAP eingetreten, obwohl das Beamtengesetz ihnen politische Betatigung fur diese Partei ? ebenso wie fur die KPD ? verbot.
Beim Machtantritt Hitlers blieben die meisten Beamten passiv; erst nach der
Reichstagswahl vom Marz 1933
kam es zu einer Welle von Aufnahmeantragen in die NSDAP. Der
Reichsbund der Deutschen Beamten
rief seine Mitglieder dazu auf, sich der ?nationalen Revolution“ anzuschließen. Proteste der Altkader in der NSDAP fuhrten jedoch dazu, dass die als ?
Marzgefallene
“ verhohnten Neubewerber einen untergeordneten Mitgliedsstatus erhielten und schließlich Neuaufnahmen ganz gestoppt wurden.
Zugleich entließ die neue Reichsregierung von Anfang an moglichst viele missliebige Spitzenbeamte, bei denen man politische Unzuverlassigkeit annahm. Besonders in Preußen entließ Goring viele Ober- und Regierungsprasidenten, Landrate und Polizeiprasidenten. Bis 1941 wurden dort 354 von 365 Landratsstellen mit NSDAP-Mitgliedern besetzt, darunter 201 ?
alte Kampfer
“. In den Kommunen vertrieb die SA oft ohne gesetzliche Grundlagen Beamte aus ihren Amtern. Hinzu kam am 7. April 1933 das
Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums
, das Angehorige von Linksparteien und
Juden
ausschließen sollte, dessen Wirkung jedoch durch das von Hindenburg eingefuhrte ?
Frontkampferprivileg
“ zunachst eingeschrankt blieb.
Dennoch ließ das NS-Regime den Beamtenapparat insgesamt weitgehend unangetastet. Die NSDAP verfugte zudem nicht uber genugend qualifizierte Funktionstrager, die in freigemachte Stellen hatten nachrucken konnen. Diese wurden vielfach weiterhin nach Befahigung und nicht vorrangig aufgrund politischer Linientreue besetzt. NSDAP-Mitglieder blieben in manchen Verwaltungsbereichen und Ressorts in der Minderheit, zum Beispiel im Reichsarbeitsministerium und im Innenministerium. So ließ das NS-Regime die vorhandene Burokratie in der Phase der
Machtubernahme
vorlaufig bestehen, um sie erst nach der Machtkonsolidierung in weiten Bereichen zu entmachten. Unter anderem schuf man eine Vielzahl neuer Reichsbehorden, um bestehende Verwaltungseinrichtungen zu ?uberwolben“. Infolgedessen kam es nach 1933 zu widerspruchlichen, mitunter lahmenden Entwicklungen in Staatsaufbau und Staatsverwaltung.
[16]
Diese
Polykratie
, das heißt, die Konkurrenz unterschiedlicher Institutionen mit sich teilweise uberschneidenden Kompetenzen, widersprach zwar der eigenen Ideologie eines
starken Staates
, weil sie dessen Handeln oft ineffizient machte, aber sie war durchaus gewollt, da konkurrierende Machtebenen die letztgultige Entscheidung stets dem Diktator an der Spitze uberlassen mussten.
[17]
Auf der Fuhrungsebene wurde das
Deutsche Beamtengesetz
vom 26. Januar 1937 entworfen, das auf Weimarer Reformansatzen beruhte und 1953 durch das
Bundesbeamtengesetz
aufgehoben und ersetzt wurde. Es legte traditionelle Pflichten, Rechte und formale Dienstwege fur die Beamten fest, um so politische Einflussnahme, Willkur und Korruption auch fur NSDAP-Mitglieder einzuschranken, wobei dennoch ein ?von
nationalsozialistischer Weltanschauung
durchdrungenes
Berufsbeamtentum
, das dem Fuhrer des Deutschen Reichs und Volkes, Adolf Hitler, in Treue verbunden ist“, laut
Praambel
zum ?Grundpfeiler des nationalsozialistischen Staates“ werden sollte. Das Gesetz konnte gegen Widerstande aus der NSDAP und Vorbehalte Hitlers, der sich verfassungsrechtlichen Grundsatzen nicht unterordnen wollte, in Kraft treten.
In der Folgezeit beschnitt das NS-Regime das Eigengewicht der Burokratie immer starker. Bei Neubesetzungen kommunaler Amter hatten die NSDAP-Gauleiter ein Vorschlagsrecht, bei Reichsbehorden hatte die Parteikanzlei ein Widerspruchsrecht. Dieses wurde zur regelmaßigen ?politischen Beurteilung“ von Amtskandidaten genutzt, was die Anpassung der Beamten an das Regime begunstigte und vertiefte. Mit einem
Fuhrereid
wurden u. a. Hochschulprofessoren zu einem Loyalitatsbekenntnis zu Hitler gezwungen; wer ihn verweigerte, verlor in der Regel sein Amt. Zusatzlich richtete die NSDAP in vielen Bereichen konkurrierende Verwaltungs- und Vollzugsorgane ein. Bei der Personalpolitik loste Martin Bormann den eher moderaten Rudolf Heß ab und setzte allmahlich eine neue Generation von Hitler ergebenen und zugleich fachkompetenten NS-Spitzenbeamten durch.
Am 26. April 1942 beanspruchte Hitler im Reichstag das personliche Recht, jeden Staatsbediensteten zum Rucktritt zu zwingen oder zu entlassen, der aus seiner Sicht seine Pflichten verletzte (→
Beschluss des Großdeutschen Reichstags vom 26. April 1942
). Dieses Recht nahm er vor allem nach dem
20. Juli 1944
fur großflachige ?Sauberungen“ auch in der Beamtenschaft in Anspruch. Damit verloren die deutschnationalen Beamten, die anfangs eine wesentliche Stutze fur Hitlers Machtkonsolidierung gewesen waren, in der NS-Zeit endgultig ihre gestaltenden Einflussmoglichkeiten.
[18]
Hitler hatte Hermann Goring im Januar 1933 zum
Reichskommissar fur das preußische Innenministerium
ernannt. Goring nutzte dies umgehend, um die preußische Polizei zur Machtsaule des NS-Regimes umzubauen. Im Februar 1933 stellte er aus SA- und SS-Truppen eine 50.000 Mann starke
Hilfspolizei
auf, die dann auch in den Landern eingefuhrt wurde. Ende April 1933 grundete er zudem ein
Geheimes Staatspolizeiamt fur Preußen
mit der Aufgabe, ?alle staatsgefahrlichen politischen Bestrebungen im gesamten Staatsgebiet zu erforschen“. Daraus entstand die
Geheime Staatspolizei
(
Gestapo
). Diese blieb wegen einer relativ geringen Personaldecke jedoch auf Mithilfe der Bevolkerung angewiesen. Die NS-Propaganda rief die
Deutschen
zur
Denunziation
missliebiger Nachbarn, Kollegen o. a. auf, was vielfach auf fruchtbaren Boden fiel. Die breite Denunziationsbereitschaft der Bevolkerung stellte daher die wichtigste Quelle von Informationen der Gestapo dar, die dann durch sogenannte ?verscharfte Verhore“, also
Folter
von Verdachtigen, erweitert wurden.
[19]
Weil die Bevolkerung des NS-Staates mehrheitlich die Ziele Hitlers teilte, spricht man in der Forschung von einer ?Selbstuberwachung“.
[20]
Heinrich Himmler fuhrte ab 1929 die
SS
, die bis zum sogenannten
Rohm-Putsch
von Ende Juni/Anfang Juli 1934 der SA unterstellt war. Er brachte bis 1934 die
Politische Polizei
und die
Konzentrationslager
im gesamten Reich unter die Kontrolle der SS. Per
Erlass vom 17. Juni 1936
wurde er als
Reichsfuhrer SS
auch zum
Chef der
Deutschen Polizei
im Reichsministerium des Innern
ernannt und leitete somit beide Organisationen in Personalunion. 1937 wurde diese Verklammerung durch die
Hoheren SS- und Polizeifuhrer (HSSPF)
durchgangig auch institutionell verankert. Ihre Funktion bestand darin, einerseits die dem Chef der Polizei, andererseits die dem Reichsfuhrer SS unterstellten Krafte einheitlich zu fuhren.
[21]
Himmler baute die SS fortan systematisch und erfolgreich zur Schaltzentrale und zum ?Gehirn“ des NS-Systems aus. Ziel der Machtkonzentration war der Aufbau einer parallelen, auf Uberwachung ausgerichteten Machtelite als ?Staat im Staate“ mit starker Bindung an den ?Fuhrer“, die spater uberall die Fuhrungsschicht des deutschen Großreichs bilden sollte. Als zentrale Leitungsbehorde zur Lenkung der bisher staatlichen Polizei und des parteieigenen Sicherheitsapparats wurde 1938 das
Reichssicherheitshauptamt
(RSHA) unter
Reinhard Heydrich
, spater unter
Ernst Kaltenbrunner
gegrundet. Es entstand aus der Zusammenlegung von
Sicherheitspolizei
(SiPo) und
Sicherheitsdienst
(SD). Dem RSHA unterstanden auch die Gestapo unter
Heinrich Muller
und ab Kriegsbeginn die
Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD
. Das RSHA war zentral an der Planung und Durchfuhrung der Judenverfolgung und des
Holocaust
sowie an der nationalsozialistischen
Umvolkungs
- und Rassenpolitik beteiligt.
In den besetzten Gebieten trat die SS teilweise in Konkurrenz zu den zivilen und militarischen Verwaltungen.
Wie fur den Verwaltungsapparat besaß die NSDAP auch fur die von ihr angestrebte Rechtsordnung kein klares Konzept. Das 25-Punkte-Programm hatte in Punkt 19 ein nicht naher definiertes ?deutsches Gemeinrecht“ als ?Ersatz fur das der materialistischen Weltanschauung dienende romische Recht“ gefordert. Darunter verstand die NSDAP vor allem die Unterordnung der individuellen Burgerrechte unter das angebliche Gesamtinteresse der ?Volksgemeinschaft“:
Recht ist, was dem Volke nutzt.
Als oberste Rechtsguter wurden unklar definierte Begriffe wie Rasse, Erbgut, Ehre, Treue, Wehrhaftigkeit, Arbeitskraft, Zucht und Ordnung propagiert.
Diesen Vorstellungen entsprechend verstießen schon einige der ersten Maßnahmen des NS-Regimes gegen grundlegende Prinzipien des
Rechtsstaats
wie die Gleichheit aller
Staatsburger
vor dem Gesetz, Gewaltenteilung und
nulla poena sine lege
: so die ?Reichstagsbrandverordnung“, das ?Heimtuckegesetz“ und das ?Gesetz uber Verhangung und Vollzug der
Todesstrafe
“ (
Lex van der Lubbe
). Das
Gesetz uber die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft
vom 7. April 1933 zielte auf die Ausschaltung judischer Rechtsanwalte, doch aufgrund der von Reichsprasident Hindenburg geforderten Ausnahmeregelung (?
Frontkampferprivileg
“) konnte ein von den
Antisemiten
unvorhergesehen großer Teil der judischen Anwalte ihren Beruf bis 1938 weiter ausuben. Hitlers Mordbefehle und ihre Ausfuhrung beim angeblichen
Rohm-Putsch
vom 30. Juni bis 3. Juli 1934 wurden nachtraglich legalisiert. Damit wurden der Wille und die ausfuhrende Gewalt des Fuhrers dem kodifizierten Recht und Gesetz ubergeordnet.
Die Gleichschaltungsgesetze und -maßnahmen hoben bis Januar 1935 auch die Justizhoheit der Lander auf. Das Reichsjustizministerium wurde dadurch zur obersten Aufsichtsbehorde uber alle Gerichte, Strafvollzugsanstalten und deren Personal. Eine einheitliche Justizausbildungsverordnung sollte die Loyalitat der Absolventen gegenuber dem Fuhrerstaat gewahrleisten: Sie sah fur
Referendare
eine zweimonatige ideologische Schulung im
Gemeinschaftslager ?Hanns Kerrl“
und die mundliche Prufung des Fachs ?Volks- und Staatskunde im weitesten Sinn“ vor.
Andererseits wurden die meisten seit dem 18. Jahrhundert entstandenen Justizbehorden beibehalten. Von den Richtern, die bis 1933 nur selten NSDAP-Mitglieder waren, wurden nur etwa 600 entlassen. Die Spitzenpositionen des Reichsjustizministers und des
Reichsgerichtsprasidenten
wurden deutschnationalen Vertretern uberlassen und nicht neu besetzt. Dagegen betraf das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vor allem ?nichtarische“ und politisch missliebige Rechtsanwalte. Alle Anwalte mussten sich in der
Reichsrechtsanwaltskammer
und der
Reichsnotarkammer
registrieren lassen, die ihre Zulassung regelte und politische Zuverlassigkeit uberwachte. Spater mussten alle Richter einen personlichen Treueeid auf den ?Fuhrer und Reichskanzler“ Adolf Hitler ablegen, der ab 30. Juni 1934 auch der ?oberste Gerichtsherr des deutschen Volkes“ zu sein beanspruchte. Frauen wurden ab 1935 nicht mehr als Richterinnen, Staats- und Rechtsanwalte zugelassen.
Neben dem traditionellen Gerichtswesen wurde fur immer mehr Bereiche eine Sonder- und Standesgerichtsbarkeit aufgebaut. Nur fur ?Artgleiche“ galt annahernd gleiches Recht, fur zu ?Artfremden“ erklarte Bevolkerungsgruppen dagegen wurde Sonderrecht eingefuhrt: so fur die ?
Asozialen
“,
Juden
und ?
Fremdvolkischen
“, vor allem Polen und
Russen
. Juden durften nur noch als ?
Konsulenten
“ fur andere Juden vor Gericht erscheinen. Fur
Polen
und
Juden
im vom
Deutschen Reich besetzten Polen
galt ab Dezember 1941 die
Polenstrafrechtsverordnung
.
Schon ab Juli 1933 wurden allen Amtsgerichten
Erbgesundheitsgerichte
angegliedert, die u. a. das
Gesetz zur Verhutung erbkranken Nachwuchses
mit Gesundheitszeugnissen durchfuhren sollten. Endgultig entscheidendes Rechtsmittelgericht war das bei den
Oberlandesgerichten
zu bildende Erbgesundheitsobergericht. Im
burgerlichen Recht
wurden Eheverbote aus
eugenischen
Grunden ermoglicht. Bei rassischen ?Mischehen“ wurde die
Ehescheidung
erleichtert und die Fortpflanzung verboten. Den Versuch, Unfruchtbarkeit als Scheidungsgrund zu legalisieren, verhinderte die katholische Kirche. Zugleich wurden unverheiratete Mutter und uneheliche Kinder rechtlich besser gestellt; ?arische“ Frauen durften ab 1941 sogar gefallene Soldaten nachtraglich heiraten.
Die
Sondergerichte
fur politische Delikte und der neu geschaffene
Volksgerichtshof
blieben zwar dem Justizministerium unterstellt, aber fur dort durchgefuhrte Verfahren gab es keine
Revisionsinstanzen
. Neben sie traten ab Mai 1933 selbstandige Kriegsgerichte, die ab 1936 dem neu eingerichteten
Reichskriegsgericht
unterstellt waren. Diese durften unter bestimmten Bedingungen auch Zivilisten verurteilen. Seit Kriegsbeginn entfielen auch dort Instanzenwege und Berufungsmoglichkeiten; die Urteile wurden nur von den jeweiligen Militarbefehlshabern bestatigt oder zur Neuverhandlung ? fast immer mit dem Ziel einer Strafverscharfung ? angewiesen.
Himmler schuf nach dem ?Rohm-Putsch“ 1934 fur die SS ein eigenes
Ehrengericht
, aus dem sich ab Oktober 1939 eine besondere SS- und Polizeigerichtsbarkeit unter dem
Hauptamt SS-Gericht
entwickelte. Dessen Gerichtsherr war er selbst. Das neu geschaffene
Reichsverwaltungsgericht
unterstand dem Reichsinnenministerium, durfte aber keine politisch veranlassten Willkurakte vor allem der Polizei uberprufen. Samtliche Gewaltakte der SA, Gestapo und SS blieben so der Strafverfolgung unabhangiger Gerichte entzogen. In praventive ?
Schutzhaft
“ genommene Strafgefangene waren entrechtet.
In der Strafjustiz wurden die Kriterien fur Straftatbestande immer mehr von eindeutigen Tatmerkmalen auf die
Gesinnung
eines mutmaßlichen Taters verlagert. Den Richtern wurde dabei ein viel großerer Ermessensspielraum als bisher zugestanden. Diese Aufweichung zielte praktisch auf Strafverscharfung. Zugleich wurden viele Straftatbestande direkt mit hoheren Strafen belegt, einige neu geschaffen. Die 1941 geanderten, am
Taterstrafrecht
orientierten
Mordmerkmale
wurden dennoch nach 1945 unverandert im
Strafgesetzbuch
beibehalten.
Der Grundsatz
nulla poena sine lege
wurde nach punktueller Missachtung ganz aufgegeben. So erließ Hitler nach zwei Einzelfallen im Juni 1938 ruckwirkend neue Strafen und Gesetze fur diese und analoge Taten: Er verlangte z. B. die Todesstrafe fur einen im Vorjahr begangenen erpresserischen Kindesraub und fur das vorsatzliche Stellen einer ?
Autofalle
“ (
Lex Gotze
), die nicht naher definiert wurde. Nachdem das Reichsgericht die Angeklagten in einem Fall von ?Elektrizitatsdiebstahl“ und einem Fall von ?Fernsprechautomatenbetrug“ freigesprochen hatte, wurde auch das
Analogieverbot
im Strafrecht aufgehoben. Richter durften nun nicht ausdrucklich strafbare Taten nach ihnen vergleichbar erscheinenden Straftatbestanden ?in Ubereinstimmung mit dem volkischen Rechtsempfinden“ verurteilen.
Die Todesstrafe, die 1933 fur drei Tatbestande vorgesehen war, wurde auf zuletzt 46 Tatbestande ausgedehnt und vor allem im Krieg exzessiv angewandt. Die
Kriegsgerichte
bezogen Tatbestande wie ?
Wehrkraftzersetzung
“ auch auf subjektive Einstellungen; als
Kriegswirtschaftsverbrechen
galten immer geringfugigere Vergehen. Die 5. Verordnung zum Kriegssonderstrafrecht vom 5. Mai 1940 erlaubte den Sonderrichtern schließlich, fur jede Straftat jede Strafe bis einschließlich der Todesstrafe zu verhangen, wenn der nach Gesetzestext vorgesehene Strafrahmen ?nach gesundem Volksempfinden“ fur eine
Suhne
nicht ausreiche. Infolge dieser Rechtswillkur fallten die zivilen Sondergerichte rund 16.000 Todesurteile, 15.000 davon ab 1941; die Kriegsgerichte fallten rund 30.000 Todesurteile, davon etwa 23.000 wegen
Fahnenflucht
.
[22]
1942 begann das NS-Regime, die
Rechtsprechung
zusatzlich durch regelmaßige
Richterbriefe
und analoge
Rechtsanwaltsbriefe
zu lenken. Zudem ermachtigte Hitler den Reichsjustizminister, alle ihm erforderlich erscheinenden, auch vom bisherigen Recht abweichenden Maßnahmen zum Aufbau einer ?nationalsozialistischen Rechtspflege“ zu treffen. Gewohnliche Landes- und Oberlandesgerichte waren jedoch schon ab 1933 Teil des staatlichen Verfolgungsapparates geworden, indem sie viele Falle von Regimekritik, Oppositionsverhalten, ?
Rundfunkverbrechen
“ und ?
Rassenschande
“ verurteilten.
In einer Reichstagsrede im Fruhjahr 1942 beschwerte sich Hitler uber angeblich zu milde Urteile der Justiz. Die Gestapo wurde daraufhin bei politischen oder gewohnlichen, aber politisierten Delikten faktisch zur Revisionsinstanz und durfte bereits Verurteilte, die ihre Strafe verbußt hatten, nach eigenem Ermessen erneut festnehmen, wobei Folterungen mit Todesfolge in der Regel strafrechtlich nicht geahndet wurden. Die ?Fremdarbeiter“ verfolgte und bestrafte sie direkt ohne Gesetzesgrundlage, Anzeige, Gerichtsverfahren und Urteil.
[23]
Weitere Gerichte und Gerichtshofe:
Seit seinem Machtantritt setzte Hitler die unter seinen Vorgangern begonnene, zunachst noch geheimgehaltene
Aufrustung
der durch den Versailler Vertrag begrenzten
Reichswehr
energisch fort, die er als zweite Saule des nationalsozialistischen Staates neben der Partei betrachtete. Die immer deutlicher werdende Rivalitat zwischen Reichswehr und
SA
ließ er im Juni 1934 durch die als Niederschlagung des Rohm-Putschs getarnte Entmachtung der SA-Fuhrung beenden, die Reichswehr wurde zum alleinigen Waffentrager der Nation erklart. Nachdem er sich mit Hilfe des am 1. August 1934 erlassenen ?Gesetzes uber das Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches“ zum Nachfolger des einen Tag spater verstorbenen Reichsprasidenten Hindenburg hatte erklaren lassen, ubernahm er Kraft der Weimarer Verfassung den politischen Oberbefehl uber die Reichswehr. Der Reichswehrminister und militarische Oberbefehlshaber
Werner von Blomberg
ließ in der Folge die Streitkrafte personlich auf Hitler vereidigen. Ebenfalls 1934 begann der Aufbau der
SS-Verfugungstruppe
, aus der spater die
Waffen-SS
hervorgehen sollte.
Bereits im Oktober 1933 hatte Hitler den Austritt Deutschlands aus dem
Volkerbund
unter gleichzeitigem Ruckzug von der
Genfer Abrustungskonferenz
verkundet, auf der Deutschland von den anderen europaischen Machten noch eine Rustungsparitat angeboten worden war. Am 16. Marz 1935 verkundete das Deutsche Reich mit dem ?Gesetz fur den Aufbau der Wehrmacht“ die Wiedererlangung der
Wehrhoheit
, die Wiedereinfuhrung der
allgemeinen Wehrpflicht
und das Ziel des Aufbaus eines
Heeres
von 550.000 Mann. Von nun ab wurde die Armee nur noch als ?
Wehrmacht
“ bezeichnet, die
Reichsmarine
wurde wenig spater in ?
Kriegsmarine
“ umbenannt. Bereits am 11. Marz hatte Reichsluftfahrtminister Goring die Existenz einer deutschen
Luftwaffe
bekanntgegeben. Von den anderen Machten wurden diese eklatanten Verletzungen des Versailler Vertrags weitgehend hingenommen, so schloss Großbritannien im Juni 1935 das
deutsch-britische Flottenabkommen
ab, das Deutschland eine Aufrustung der Kriegsmarine auf 35 % der
Royal Navy
erlaubte. Im Marz 1936 fuhrten deutsche Truppen unter Bruch der
Vertrage von Locarno
die
Wiederbesetzung des Rheinlands
durch. Kurz darauf wurde mit der Einfuhrung des
Vierjahresplanes
die Herstellung der Kriegsfahigkeit des Landes und der Wehrmacht binnen vier Jahren beschlossen. Im gleichen Jahr griffen deutsche Freiwillige der
Legion Condor
erstmals auf Seiten der spanischen Nationalisten in den
Spanischen Burgerkrieg
ein.
Im Zuge der
Blomberg-Fritsch-Krise
setzte Hitler am 4. Februar 1938 Reichswehrminister Blomberg und den Oberbefehlshaber des Heeres
Fritsch
ab, loste das Kriegsministerium auf und ubernahm auch den operativen Oberbefehl uber das neugebildete
Oberkommando der Wehrmacht
(OKW), das sein personlicher Generalstab wurde. Es war in der Spitzengliederung wie folgt besetzt:
Die bereits zuvor bestehenden Oberkommandos der Teilstreitkrafte waren dem OKW weisungsgebunden, wahrten aber mit ihren angeschlossenen Staben eine teilweise Selbstandigkeit. Die Oberbefehlshaber und deren Stabschefs waren:
Oberkommando des Heeres
|
Oberkommando der Marine
|
Oberkommando der Luftwaffe
|
- Oberbefehlshaber des Heeres:
- Chef des Generalstabs des Heeres:
|
- Oberbefehlshaber der Kriegsmarine:
- Chef des Stabes der Seekriegsleitung:
|
- Oberbefehlshaber der Luftwaffe:
- Chef des Generalstabs der Luftwaffe:
|
Auf die Einrichtung des OKW folgten der
Anschluss Osterreichs
und des
Sudetenlandes
(1938), die Einverleibung der
?Rest-Tschechei“
(1939) und schließlich die Entfesselung des
Zweiten Weltkriegs
durch den
Uberfall auf Polen
.
Einer
Volkszahlung
zufolge lebten 1939 auf dem deutschen Reichsgebiet 79.375.281 Menschen, einschließlich der Mitarbeiter von
Reichsarbeitsdienst
(RAD) und Militar. Darunter fielen 38.761.645 (48,83 %) Manner und 40.613.636 (51,17 %) Frauen. Davon lebten in Großstadten 24.187.422 (30,47 %), in Gemeinden von 2.000 bis unter 100.000 Einwohnern 29.875.968 (37,64 %) und in Gemeinden von unter 2.000 Einwohnern 25.311.877 (31,89 %) Menschen. Das ehemalige Gebiet Preußens mit seinen zahlreichen Provinzen machte dabei den bei Weitem großten Bevolkerungsraum aus (40.941.155 Einwohner bzw. 51,58 %). Auf das zu diesem Zeitpunkt bereits ?angeschlossene“ Osterreich entfielen 6.881.457 Personen (8,67 %).
Das 1871 gegrundete Kaiserreich war ein
Bundesstaat
aus 22
monarchischen
Staaten, drei
republikanischen
Stadtstaaten
und dem
Reichsland Elsaß-Lothringen
gewesen. In der Weimarer Republik bestand das Deutsche Reich aus
18 Landern
. Der NS-Staat behielt die Gliederung in Lander zwar bei, reduzierte deren Aufgaben jedoch auf die ausfuhrender
Organe
der zentralen Reichsministerien und -behorden. Den Ministerprasidenten der Lander wurden
Reichsstatthalter
ubergeordnet. Neben die Lander traten die
Gaue der NSDAP
als konkurrierende Einheiten.
Der
Freistaat Preußen
blieb auch in der NS-Zeit das großte Land des Reiches. Seine Verwaltungsstrukturen waren aber schon 1932 durch den
Preußenschlag
der Regierung Papen stark geschwacht worden. Mit der Gleichschaltung Preußens verloren seine zentralen Institutionen 1933 weiter an Bedeutung und traten gegenuber denen der Reichsregierung und Oberprasidien der
preußischen Provinzen
in den Hintergrund. In manchen Provinzen wurde das Amt des
Oberprasidenten
vom jeweiligen
NSDAP-Gauleiter
bekleidet, wie etwa in
Ostpreußen
von
Erich Koch
. Der Reichsstatthalter von Preußen war Hitler selbst, der jedoch seine diesbezuglichen
Befugnisse
an den preußischen Ministerprasidenten
Hermann Goring
ubertrug.
Weitere Lander mit eigenem Reichsstatthalter waren:
Lander, die mit anderen von einem gemeinsamen Reichsstatthalter regiert wurden, waren:
Bereits vor 1939 erweiterte das NS-Regime das Reichsgebiet schrittweise durch die Eingliederung des
Saargebiets
(1935), Osterreichs und des Sudetenlandes 1938. Dort wurden im Folgejahr
Reichsgaue
unter einem oder mehreren
Reichsstatthaltern
gebildet, die spater auch im ubrigen Reich eingerichtet werden sollten. Bis auf die Angliederung des Saargebiets erfolgten alle territorialen Zugewinne unter Gewaltandrohung.
[24]
Mit der
Zerschlagung der Tschechoslowakei
im Marz 1939 dehnte sich das Reich erstmals auf Territorien aus, die mehrheitlich nicht von
Deutschen
besiedelt waren. Damit verlor es seinen Charakter als
Nationalstaat
.
[25]
Das Reichsgebiet umfasste seit 1939 das
Protektorat Bohmen und Mahren
, die eroberten
CdZ
-Gebiete waren als ?Gebiete des Großdeutschen Reiches“ vorgesehen. Nach Auskunft des Generalgouverneurs
Hans Frank
hatte Hitler wohl schon im Herbst 1939 beschlossen, auch das
Generalgouvernement
, in welchem er ein Landarbeiterreservat fur das Reich sah, zu einem Teil des Großdeutschen Reiches zu machen. Allerdings, so vermutet der Historiker
Martin Broszat
, wollte Hitler den Rechtsstatus zugleich ungeklart lassen, um das Generalgouvernement außerhalb volkerrechtlicher und reichsrechtlicher Verbindlichkeiten zu belassen. Hitler akzeptierte im Sommer 1940 die von Frank entwickelte Theorie vom ?
Nebenland
des Reiches“. Bei der amtlichen Bezeichnung des Generalgouvernements wurde zwar der Zusatz ?fur die besetzten polnischen Gebiete“ fortgelassen. Aber das Generalgouvernement erhielt nicht den Status eines Protektorats, sondern wurde ?ein zum Zwecke moglichst rechtsunverbindlicher Herrschaft ad-hoc konstruiertes reichs-exterritoriales deutsches ?Nebenland‘ ohne Staatseigenschaft mit staatenlosen Einwohnern polnischer
Volkszugehorigkeit
.“
[26]
Nach dem polnischen Historiker
Tomasz Szarota
zeigt sich in den von Frank zitierten Außerungen Hitlers eine ?Tendenz zur
Annektierung
expressis verbis
“,
[27]
gleichwohl unter dem Aspekt der volkerrechtlichen Angliederung durch das Deutsche Reich ?schon am Vorliegen einer wirklichen Inkorporationshandlung einige Zweifel bestehen“.
[28]
Wie im NS-System ublich, fand die nationalsozialistische Staatsrechts- und Volkerrechtslehre keine Begriffe, um das neue Gebilde Generalgouvernement zu beschreiben. So lasst sich dessen staatsrechtliche Stellung, so
Diemut Majer
, ?nur vom Faktischen unter Berucksichtigung der politischen Zielsetzung erklaren“. Hierbei zeigt sich, dass das Generalgouvernement ?trotz der weitgehenden Verwaltungs- und Rechtssetzungsautonomie grundsatzlich als Bestandteil des Reiches, als
Reichsgebiet
, betrachtet wurde“. In der Praxis wurden allerdings zahlreiche Ausnahmen gemacht, wenn sich dadurch eine sonderrechtliche Behandlung ?Fremdvolkischer“ besser durchsetzen ließ.
[29]
Zugleich war das Generalgouvernement dazu bestimmt, die ?erste
Kolonie
des Reiches“ zu werden, was sich in einer ?Politik der okonomischen Ausbeutung, der kulturellen Niederhaltung der Polen und der Vernichtung ihrer Intelligenz“ niederschlug.
[30]
- Das nach dem Ersten Weltkrieg unter franzosischer Verwaltung stehende Saargebiet wurde nach Auslaufen der im Versailler Vertrag gesetzten Frist und einer
Volksabstimmung
am 1. Marz 1935 als ?Saarland“ ins Reich eingegliedert.
- Der ?
Anschluss
“ des osterreichischen Staates an das nationalsozialistische Deutschland wurde unter Androhung von Gewalt mit dem Einmarsch der Wehrmacht am 12. Marz 1938 begonnen.
Durch politische Erpressung oder mit militarischer Drohung wurde außerdem die
Abtretung
einiger Gebiete erzwungen:
Diese vor dem Zweiten Weltkrieg vorgenommenen Angliederungen wurden
staatsrechtlich
wirksam.
Die
Slowakei
musste sich von der
Tschecho-Slowakischen Republik
unabhangig erklaren (14. Marz 1939), erhielt eine beschrankte Selbstandigkeit und den
Satellitenstatus
eines deutschen Verbundeten.
Nach der ?
Zerschlagung der Rest-Tschechei
“ am 15. Marz 1939 wurde dem
Protektorat Bohmen und Mahren
eine scheinbare
Autonomie
[32]
unter der Aufsicht eines deutschen Reichsprotektors zugebilligt; es galt als Bestandteil des Reiches, das auch die hochste
Regierungsgewalt
hatte. Die Bildung dieses
Protektorats
brach einen
internationalen Vertrag
und war damit ebenso wie die folgenden, durch militarische Eroberungen erreichten Erweiterungen des deutschen
Hoheitsgebietes
volkerrechtlich
unwirksam.
Das deutsche Reichsgebiet wurde nach dem
Polenfeldzug
vom Herbst 1939 uber die Ruckgliederung der im
Friedensvertrag von Versailles
an
Polen
abgetretenen Gebiete hinaus erweitert:
Die eingegliederten Gebiete Polens waren doppelt so groß wie diejenigen, die 1919 abgetreten wurden, und verschoben die Reichsgrenze um 150 bis 200 km nach Osten.
Viele von deutschen Streitkraften besetzte Staaten konnten eigene Regierungen behalten, wie es die
Haager Landkriegsordnung
vorsieht, aber nicht alle. Nach dem
Westfeldzug
1940 wurden in einigen besetzten Gebieten zivile Behorden eingerichtet, die einem ?
Chef der Zivilverwaltung
“ (CdZ) unterstanden, der seinerseits deutschen Reichsstellen verantwortlich war.
- Eupen-Malmedy
, das 1919 an Belgien abgetreten worden war, wurde sofort annektiert, dabei jedoch um Gemeinden vergroßert, die vor 1920 nicht zum Deutschen Reich gehort hatten.
[33]
Weitere Gebiete im Westen wurden de facto dem deutschen Staat eingegliedert, aber in keinem Fall formell annektiert.
[34]
Sie wurden von den
Gauleitern
der angrenzenden Reichsgebiete mitverwaltet:
In ihnen wurde eine ?Eindeutschungspolitik“ betrieben.
Nach dem
Balkanfeldzug
1941 wurde das
Konigreich Jugoslawien
in drei Separatstaaten (Kroatien, Serbien, Montenegro) aufgeteilt. Zwei Drittel von
Slowenien
wurden unter die CdZ-Verwaltung des
Karntner
Gauleiters gestellt und de facto eingegliedert:
Nach dem
Russlandfeldzug 1941
wurden weitere Gebiete einer deutschen Zivilverwaltung unterstellt:
Nach dem
Waffenstillstand Italiens mit den Alliierten
im September 1943
okkupierte
Deutschland auch
Italien
, und
Benito Mussolini
richtete in Oberitalien die
Italienische Sozialrepublik
(RSI) als
faschistischen
Satellitenstaat
ein. Hier und im italienisch besetzten Jugoslawien ubten die Wehrmacht, die unter die
Fuhrung der SS
des Reichsgebiets gestellte Polizei und eine deutsch-italienische Zivilverwaltung in zwei Gebieten die Macht aus:
Diese Operationszonen, deren Grenzen sich nicht an Staatsgrenzen orientierten, sondern an militarischen Erfordernissen, wurden durch die SS-Herrschaft und die Zivilverwaltung vom italienisch regierten Territorium getrennt, das weiterhin formell unter der Souveranitat der RSI verblieb. In ihnen wurde weitgehend deutsches Recht und die deutsche
Amtssprache
eingefuhrt. Eine deutsch-italienische Zivilverwaltung war sogenannten ?zivilen Beratern“ mit der offiziellen Bezeichnung
Oberster Kommissar
unterstellt, die sich nach personlichen Weisungen Hitlers an die Leiter der benachbarten Reichsgaue
Tirol-Vorarlberg
und
Karnten
Franz Hofer
und
Friedrich Rainer
zu richten hatten. Deren Zustandigkeit erstreckte sich auch auf den 1941 von Italien besetzten Teil Sloweniens. Diese personlichen Vollmachten bedingten eine grundsatzliche Rechtsunsicherheit der Bevolkerung in den Gebieten der Zivilverwaltung.
[35]
Dem Reich angegliedert, aber nicht annektiert, waren auch zwei riesige ?Reichsprovinzen“ unter deutscher Zivilverwaltung, die
Reichskommissariate Ostland
(
baltische Staaten
und
Weißrussland
) und
Ukraine
.
Wie weit das NS-Regime seine Eroberungsziele steckte, ist in der Forschung umstritten.
Eberhard Jackel
argumentiert in Anlehnung an
Hugh Trevor-Roper
, Hitler habe im Wesentlichen
Lebensraum im Osten
erobern wollen, das heißt im europaischen Russland.
[36]
Der unter der Agide des Reichsfuhrers SS
Heinrich Himmler
bis 1942 erstellte
Generalplan Ost
sah bereits ein neues Bodenrecht und in einem auf 25 Jahre angelegten Plan eine Besiedlung des eroberten Gebiets mit vier Millionen ?
germanischstammigen
“ Siedlern im ?
Ingermanland
“ um
Leningrad
, im ?
Gotengau
“ auf der
Krim
und im Gebiet um
Cherson
sowie im Einzugsbereich der Flusse
Memel
und
Narew
vor.
[37]
Dieser ?kontinentalistischen“ Interpretation der nationalsozialistischen Eroberungsplane, der sich unter anderem
Hans-Adolf Jacobsen
und
Dietrich Aigner
anschlossen,
[38]
wurde von verschiedener Seite widersprochen. So entfaltete das nationalsozialistische Deutschland verschiedenste
Aktivitaten zur Wiedergewinnung von Kolonien
, namentlich in
Afrika
.
[39]
Wie ernst diese
revisionistischen
Uberlegungen waren, ist in der Forschung ebenfalls umstritten. Durch das Bundnis mit Japan verzichtete das Deutsche Reich auf die ostasiatischen Kolonien der
besetzten Niederlande
und Frankreichs. Die bereits ab 1941 eingeschrankte Ambition zur Wiedergewinnung eines
Kolonialreichs in Afrika
wurde Anfang 1943 eingestellt.
[40]
Auch mit Blick auf diese Afrikaplane argumentieren viele Historiker, Hitler habe letztlich die
Weltherrschaft
angestrebt.
[41]
Das Deutsche Reich hatte zur Zeit seiner großten Ausdehnung 1942 (neben der
Kriegsfront
zur
Sowjetunion
) zehn Nachbarstaaten: Im Norden grenzte es an
Danemark
(67 Kilometer Grenzstrecke), im Sudosten an die
Erste Slowakische Republik
sowie
Ungarn
und
Kroatien
, im Suden an
Italien
,
Furstentum Liechtenstein
(35 Kilometer) und die
Schweiz
(550 Kilometer), im Sudwesten an
Frankreich
(392 Kilometer), im Westen an
Belgien
(221 Kilometer) und im Nordwesten an die
Niederlande
(567 Kilometer).
Von diesen Staaten waren alle außer Italien, Liechtenstein und der Schweiz von deutschen Truppen besetzt bzw. wie die Slowakei zum
Vasallenstaat
gemacht worden.
Bereits vor ihrem Sieg uber Deutschland hatten die USA, Großbritannien und die Sowjetunion alle Gebietserweiterungen des Reichs seit 1938 fur nichtig erklart.
[42]
Die
Westverschiebung Polens
, im Wesentlichen auf Kosten der
deutschen Ostgebiete
, war seit der
Konferenz von Teheran
1943 im Grundsatz beschlossen.
[43]
Auf der
Konferenz von Jalta
gestanden die
drei Machte
im Februar 1945 auch Frankreich den Status als Siegermacht zu und entschieden, Deutschland nach Kriegsende in vier
Besatzungszonen
und
Berlin
in vier
Sektoren
aufzuteilen. Weitergehende Plane, Deutschland dauerhaft in mehrere Staaten aufzuteilen, wurden schon im Fruhjahr 1945 fallen gelassen.
[44]
Die militarische Niederlage und vollstandige Besetzung Deutschlands beendete die Herrschaft der NSDAP. Auch die aufs engste mit der Partei verflochtene staatliche Verwaltung horte weitgehend auf zu funktionieren. Deutsche Amtstrager konnten nach der Besetzung nur mit Duldung oder nach Ernennung durch die jeweilige
Besatzungsmacht
tatig werden. Der von Hitler testamentarisch als Reichsprasident eingesetzte Großadmiral Karl Donitz und seine
Regierung
hatten noch Zugriff auf die deutschen Truppen, nicht aber auf zivile Behorden. Nachdem sie die
bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht
vom 7./8. Mai 1945 unterzeichnet hatte, gestanden die Alliierten ihr keinerlei hoheitliche Aufgaben mehr zu.
[45]
Vielmehr wurde die Regierung am 23. Mai 1945 fur abgesetzt erklart und verhaftet. Mit der
Berliner Erklarung
vom 5. Juni 1945 proklamierten die Alliierten auf Basis des Artikels 4 der Kapitulationsurkunde die Ubernahme der ?obersten Regierungsgewalt in Deutschland“.
[46]
Oberstes Organ des Besatzungsregimes und Trager der deutschen Staatsgewalt wurde der
Alliierte Kontrollrat
.
[47]
Neben dem Begriff
NS-Staat
verwenden heutige Wissenschaftler Bezeichnungen wie
NS-Diktatur
,
NS-Regime
und weiterhin auch
?
Drittes Reich
“
, letzteres meist in Anfuhrungsstrichen, um den ursprunglich
propagandistischen
Charakter dieses Begriffs hervorzuheben. Um das
politische System
des nationalsozialistischen Deutschland zu betonen, wird es oft als ?
Fuhrerstaat
“ bezeichnet.
Marxistische
Historiker in der fruheren
DDR
und in
Westdeutschland
nutzten in diesem Fall Begriffe wie ?deutscher
Faschismus
“ oder ?faschistische Diktatur“.
[48]
In der Umgangssprache sind Benennungen wie ?Nazi-Deutschland“, ?Hitlerdeutschland“ oder ahnliche Komposita ublich.
Die zeitgenossische amtliche Bezeichnung des deutschen Nationalstaats fur die Zeit von 1871 bis 1945 war
Deutsches Reich
. Sie wird fur diesen Zeitabschnitt auch heute noch in den
Staatswissenschaften
verwendet.
Nach dem
?Anschluss“ Osterreichs
im Marz 1938 war zeitweilig die Bezeichnung
Großdeutsches Reich
offiziell in Gebrauch, so auch im
Reichsgesetzblatt
. Ein Erlass des Reichsministers und Chefs der Reichskanzlei, Hans Heinrich Lammers, vom 26. Juni 1943 an die
obersten Reichsbehorden
und die Hitler unmittelbar unterstellten Dienststellen machte die bis dahin inoffizielle Sprachregelung verbindlich.
[49]
Mit dem auch
umgangssprachlich
verwendeten Begriff
Großdeutschland
beanspruchte das NS-Regime, die
1848 erwogene
großdeutsche Losung
erreicht zu haben, die Einbeziehung der Deutschen in der
Habsburgermonarchie
in einen einheitlichen
Nationalstaat
. Zudem deutete er expansive Absichten an: Die
nationalsozialistischen Europaplane
sahen vor, weitere Lander, etwa Norwegen, Danemark, die Niederlande und Belgien, in ein neu zu schaffendes ?Großgermanisches Reich“ einzugliedern.
[50]
Gleichfalls seit dem Anschluss Osterreichs bezeichneten die deutschen Behorden das ursprungliche Staatsgebiet, das so genannte
Deutschland in den Grenzen von 1937
als
Altreich
. Die Unterscheidung war erforderlich, da fur alle neu eingegliederten oder unter
deutsche Besatzungsverwaltung
gestellten Gebiete Gesetze erlassen und Verwaltungsverfahren geschaffen wurden, die sich von denen des Altreichs unterschieden. Dazu zahlten neben
Osterreich
[51]
u. a. auch das
Sudetenland
, das
Memelland
und die
Freie Stadt Danzig
, die alle 1938 und 1939 annektiert worden waren.
Bereits vor 1933 war der Begriff
Reich
zum Kampfbegriff der Rechten und der
Monarchisten
gegen die demokratische
Republik
geworden.
Das dritte Reich
, wie ein 1923 veroffentlichtes Buch von
Arthur Moeller van den Bruck
hieß, bezog sich auf die Tradition des ersten, des
Heiligen Romischen Reichs Deutscher Nation
, und des zweiten, des kleindeutschen
Deutschen Kaiserreichs
; er meinte damit ein großdeutsches Reich.
Die Idee eines ?
Dritten Reiches
“ lasst sich bis ins 12. Jahrhundert zuruckverfolgen. Der italienische Theologe
Joachim von Fiore
hatte seinerzeit ein drittes, tausendjahriges Zeitalter des
Heiligen Geistes
prophezeit, das auf die beiden Zeitalter
Gottes
und
Jesu Christi
folgen wurde. Die Nationalsozialisten griffen das Schlagwort auf, weil es ihre Bestrebungen zu bundeln schien. Hitler versuchte des Ofteren, den Mythos der ?tausend Jahre“ fur seine Herrschaft zu vereinnahmen. Spater kamen ihm zum Begriff ?Drittes Reich“ Bedenken. Man hatte uber ein weiteres, ein
viertes Reich
spekulieren und die Kontinuitat des Reiches der Deutschen in Frage stellen konnen. Im Juli 1939 verbot Propagandaminister
Joseph Goebbels
die Verwendung des Begriffs ?Drittes Reich“.
[52]
Der Charakter des NS-Staats wird von Historikern und Politikwissenschaftlern bis heute unterschiedlich gedeutet. Konsens besteht jedoch daruber, dass es sich um eine außergewohnlich gewalttatige, verbrecherische Diktatur handelte. Selbstdeutungen des NS-Staates wie ?germanische Demokratie“
[53]
spielen im wissenschaftlichen Diskurs der Gegenwart keine Rolle.
Von
Marxisten
wurde der NS-Staat als faschistisch und somit als
Klassenherrschaft
der
Bourgeoisie
gedeutet. Ihre kanonische Formulierung fand diese Annahme in der so genannten
Dimitroff-These
von 1933, wonach der Faschismus als ?
terroristische
Diktatur der am meisten reaktionaren,
chauvinistischen
und
imperialistischen
Elemente des
Finanzkapitals
“ definiert wurde.
[54]
Sie lag den geschichtswissenschaftlichen Analysen von Forschern aus der
DDR
und den anderen
Ostblockstaaten
zugrunde, wo sie mitunter zur
Agententheorie
verkurzt wurden: Demnach waren Hitler und die anderen Nationalsozialisten bloße Agenten oder Marionetten der eigentlich herrschenden Kapitalistenklasse gewesen.
Im
Westen
wurde demgegenuber von fuhrenden Wissenschaftlern lange die
Totalitarismusthese
vertreten: Demnach war der Nationalsozialismus ebenso wie der
Stalinismus
in der Sowjetunion eine Herrschaftsform, die durch eine allumfassende, keinen Widerspruch zulassende
Ideologie
, eine hierarchisch organisierte
Massenpartei
, einen Terrorapparat, ein staatliches Monopol an Kommunikationsmitteln und Waffen sowie eine zentrale Lenkung der Wirtschaft gekennzeichnet sei. Der NS-Staat wurde dabei als ?monolithischer Fuhrerstaat“ beschrieben, in dem widerspruchsfrei von oben nach unten durchregiert wurde.
[55]
Diese Position war, ahnlich wie die Anwendung des Faschismusbegriffs von Seiten des Ostblocks, deutlich zweckgerichtet in der Auseinandersetzung des
Kalten Kriegs
.
[56]
Nach dessen Ende wird der Totalitarismusbegriff heute in differenzierter Form von Forschern wie zum Beispiel von
Uwe Backes
und
Eckhard Jesse
[57]
von
Francois Furet
und
Ernst Nolte
[58]
oder von
Hans-Ulrich Wehler
verwendet.
[59]
Der Historiker
Wolfgang Wippermann
dagegen lehnt ihn strikt ab, weil die ihm inharente Gleichsetzung mit anderen Diktaturen ?die
Singularitat des Holocaust
in Frage stellt und auch in Frage stellen soll“.
[60]
Bereits in den fruhen 1940er Jahren hatten zwei deutsche Exilanten in den USA den NS-Staat allerdings mit jeweils unterschiedlicher Schwerpunktsetzung als deutlich heterogener beschrieben, als der Topos vom monolithischen Fuhrerstaat glauben machte:
Ernst Fraenkel
legte 1940/41 sein Buch
Der Doppelstaat
vor, in dem er die Januskopfigkeit des NS-Staats herausarbeitete: Der
Normenstaat
der herkommlichen, burokratisch arbeitenden Behorden und Ministerien sei gekennzeichnet durch
Rechtsnormen
, die grundsatzlich auf Berechenbarkeit angelegt seien und der Aufrechterhaltung der privatkapitalistischen
Wirtschaftsordnung
dienten. Hier galten wie in jedem ordentlichen Staat Gesetze,
Gerichtsentscheidungen
und
Verwaltungsakte
. Demgegenuber sei der
Maßnahmenstaat
durch die neu geschaffenen Organisationen der NSDAP gepragt und folge nicht dem
Recht
, sondern ausschließlich situativen Nutzlichkeitserwagungen. Beide zusammen bildeten eine ?
Symbiose
zwischen Kapitalismus und Nationalsozialismus“; im Konfliktfall setze sich aber immer der
Maßnahmenstaat
durch. Die Judenverfolgung sei dafur das zentrale Beispiel.
[61]
1944 beschrieb
Franz Neumann
in seinem Werk
Behemoth
den NS-Staat als einen ?Unstaat“: Es sei im Grunde nur eine Allianz wechselseitig voneinander abhangiger Machtblocke, namlich der NSDAP mit ihren Einzelorganisationen, der Großwirtschaft und der Reichswehr. Ab 1936 sei noch die SS bzw. die Gestapo dazu gekommen. Diese Allianz sei durchaus nicht stabil, vielmehr wurden sich die Machtgewichte verschieben und zwar tendenziell zugunsten der SS.
[62]
Dieser Ansatz erwies sich in den 1960er und 1970er Jahren als fruchtbar: Martin Broszat, Reinhard Bollmus,
Peter Huttenberger
und andere entwickelten daraus die Deutung des NS-Staates als einer
Polykratie
: In allen Politikfeldern habe es Institutionen mit sich uberschneidenden Zustandigkeiten gegeben, die miteinander um Gestaltungsmoglichkeiten konkurriert hatten: Das
Amt Rosenberg
, die
NSDAP/AO
, die
Dienststelle Ribbentrop
und das
Auswartige Amt
in der Außenpolitik, die Schulbehorden und die
Hitlerjugend
in der Beeinflussung der Jugend, das
Reichswirtschaftsministerium
, die
Reichsbank
unter
Hjalmar Schacht
und die
Vierjahresplanbehorde
in der Wirtschaftspolitik, die Wehrmacht und die Waffen-SS als Streitkrafte usw. Die standigen Gegensatze und Streitereien zwischen diesen Institutionen habe dann zu der destruktiven Radikalisierung der nationalsozialistischen Politik hin zu Krieg und Holocaust gefuhrt, die sich somit
funktionalistisch
aus der Eigendynamik der anarchischen Amterrivalitat und ohne Berucksichtigung von Hitlers ?Programm“, wie er es in
Mein Kampf
formuliert hatte, erklaren ließen. Ihm wird in diesem Ansatz nur die Rolle eines Propagandisten, eines Reprasentanten des Gesamtsystems bzw. eines Schiedsrichters zugewiesen.
Hans Mommsen
spitzte 1971 diesen Ansatz in dem vielzitierten Bonmot zu, Hitler sei letztlich ?ein schwacher Diktator“ gewesen, ?entscheidungsunwillig“ und ?haufig unsicher“.
[63]
Anstelle der vormaligen Forschungsstreitfrage, ob sich das NS-Herrschaftssystem besser als Monokratie oder als Polykratie fassen lasse, erkannte
Magnus Brechtken
?die dialektisch-komplementare Wirklichkeit“: eine bewusst polykratische Herrschaft mit der monokratisch integrierenden Fuhrungsfigur Hitler an der Spitze. Die Installation von immer neuen Sonderbehorden und ?Beauftragten des Fuhrers“, deren Macht allein auf dem Treueverhaltnis zu ihm beruhte, habe ?eine sozialdarwinistisch konkurrierende Kompetenzpolykratie“ geschaffen, die sowohl Hitlers Vorstellung vom standigen Durchsetzungskampf entsprochen habe als auch seine Position als letzte Entscheidungsinstanz mit ausschlaggebendem Zugriff, wo immer er ihn fur notig hielt, gestarkt habe.
[64]
Sozialwissenschaftler wie
Ralf Dahrendorf
,
David Schoenbaum
und
Rainer Zitelmann
deuteten seit den 1960er Jahren den NS-Staat zumindest in seiner Wirkung als
modernisierend
: Wie der italienische Faschismus habe es sich um eine
Entwicklungsdiktatur
gehandelt. Der NS-Staat habe langjahrige Traditionsfaktoren der deutschen Geschichte wie
Adel
und
Kirche
ausgeschaltet, sei technikaffin gewesen, habe die deutsche Klassengesellschaft uberwunden und die
soziale Mobilitat
fur alle Schichten erhoht. Insofern konne man davon sprechen, dass im NS-Staat eine soziale
Revolution
stattgefunden habe.
[65]
Angesichts der antimodernen Zielsetzung des NS-Staates spricht
Hans-Ulrich Thamer
von der ?Doppelrevolution des Nationalsozialismus“: eine ?Revolution der Zwecke“ sei klar gegen die burgerlich-industrielle Welt gerichtet gewesen, habe aber verwirklicht werden sollen durch eine ?Revolution der Mittel“, die ?einen burgerlichen und industriellen Charakter hatte und die aufgehaltene Modernisierung der deutschen Gesellschaft wider Willen fortsetzte“.
[66]
Diese Deutung stieß auf entschiedenen Widerspruch. Wolfgang Wippermann und
Michael Burleigh
charakterisieren den NS-Staat in ihrem 1991 erschienenen gemeinsamen Werk als ?Rasse-Staat“: Alle seine Maßnahmen inklusive der scheinbar modernen oder revolutionaren wie etwa die Verbesserung des
Mutterschutzes
hatten nur dem Ziel gedient, eine ?barbarische
Utopie
“ zu verwirklichen: Die Ausrottung der Juden und die Erschaffung einer hierarchisch geordneten Gesellschaft, an deren Spitze erbgesunde
Arier
stehen sollten, sei, auch wenn es nie erreicht wurde, das
programmatische
Ziel des NS-Staats gewesen. Insofern habe Hitler als derjenige, der dieses Ziel verbindlich formulierte, durchaus keine untergeordnete oder schwache Rolle gespielt. Weil der NS-Staat anstrebte, eine Rassen- statt einer Klassengesellschaft zu werden, seien Deutungen als Faschismus, Totalitarismus oder Modernisierungsdiktatur ohne nennenswerten Erkenntniswert.
[67]
Auch
Wolfgang Benz
glaubt, dass ?der Antisemitismus, der die Rassenkonstrukte des 19. Jahrhunderts ubernahm“, fur den Nationalsozialismus konstitutive Bedeutung hatte.
[68]
Hans-Ulrich Wehler beschreibt den NS-Staat als ?Fuhrer
absolutismus
“, in der der
Charismatische Herrscher
Hitler das unbestrittene Recht zur letztinstanzlichen Entscheidung in allen Streitfragen innegehabt habe. Diese ?Monokratie“ stehe keineswegs im Widerspruch zu der oben beschriebenen Polykratie der untergeordneten Instanzen, sondern diese sei nachgerade ihre Gelingensbedingung: Im Sinne seines
Sozialdarwinismus
habe Hitler seine
Satrapen
solange streiten lassen, bis sich der Starkste durchgesetzt habe. Dieses Ergebnis habe er nur noch sanktionieren mussen, ohne sich selbst in die Streitereien einmischen und Widerspruch auf sich ziehen zu mussen. Dadurch habe er seinen Nimbus als ?außeralltaglicher Sendbote“ behalten konnen, der ihm die
Zustimmung der großen Mehrheit der Deutschen
gesichert habe.
[69]
Auf den großen Konsens in der Bevolkerung, der das Regime trug, hebt auch
Gotz Aly
in seinem Werk
Hitlers Volksstaat
ab. Fur ihn war der NS-Staat eine ?Gefalligkeitsdiktatur“, die sich das Wohlwollen der Gesellschaft durch Uberwindung der
Massenarbeitslosigkeit
, vor allem aber durch Umverteilung
arisierter
judischer Vermogen und nach 1939 durch rucksichtslose Ausbeutung der im Weltkrieg besetzten Gebiete sicherte.
[70]
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