Protestantismus

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Kirchenfahne der Evangelischen Kirche in Deutschland , ein Symbol des großten evangelischen Kirchenbundes Deutschlands.
Die Verwendung des lateinischen Kreuzes ist fur viele protestantische Gemeinden ublich.

Mit dem seit 1529 verwendeten und ursprunglich politischen Begriff Protestanten werden im engeren Sinne die Angehorigen des Protestantismus , also der christlichen Konfessionen bezeichnet, die, ausgehend von Deutschland (eigentlich vom Kurfurstentum Sachsen , ab 1517) und der Schweiz (eigentlich vom Kanton Zurich , ab 1519), vor allem in Mittel- und Nordeuropa durch die Reformation des 16. Jahrhunderts entstanden sind und sich seitdem in verschiedene Gruppen weltweit weiterentwickelt haben.

Weltweit gibt es rund 900 Millionen Protestanten, darunter 300 Millionen in den durch die Reformation direkt gepragten Kirchen ( Evangelische ) und 600 Millionen in neuprotestantischen (teilweise durch die Erweckungsbewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts) gepragten Kirchen (zumeist Evangelikale ). [1] [2] [3]

Die meisten Protestanten sind nur in einer Handvoll Konfessionsfamilien verstreut: Lutheraner , Reformierte (u. a. Calvinisten , Zwinglianer , Presbyterianer , Kongregationalisten ), Anglikaner (darunter auch Episkopalianer ), Taufer (u. a. Mennoniten , Amische , Hutterer ), Baptisten , Methodisten , Adventisten und Pfingstler . Zudem gibt es eine Mehrzahl von Kleinstgruppen wie z. B. Arminianer (darunter Remonstranten ), Quaker und andere englische Dissenters (auch die ehemaligen Puritaner und Independents ), die Bruderbewegung , die Heiligungsbewegung (darunter die Heilsarmee ), Pietisten (darunter die Haugianer ) oder die Herrnhuter Brudergemeine .

Seit 1817 (beginnend in Deutschland) schließen sich evangelische Kirchen unterschiedlicher Konfessionen in Unionen zusammen.

Es gibt mehrere uberkonfessionelle Richtungen, die die verschiedenen protestantischen Kirchen mitpragen, z. B. christlicher Fundamentalismus , Liberalismus , Neo-Orthodoxie oder Paleo-Orthodoxie .

Der Neuprotestantismus : Evangelikalismus , die Charismatische Bewegung , die Neocharismatische Bewegung , die Hauskirchenbewegung (insbesondere Chinesische Hauskirchen ), die Afrikanisch-Unabhangigen Kirchen und andere neue Stromungen (darunter auch viele uberkonfessionelle, konfessionslose und unabhangige Kirchen und Megachurches ) wachsen und stellen einen bedeutenden Teil des Gesamtprotestantismus.

Protestantisch und Evangelisch [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Ausdruck konfessioneller Vielfalt: Hinweisschilder fur zwei unterschiedliche protestantische Kirchen (eine evangelisch-lutherische und eine evangelisch-unierte ) in Wiesbaden

Die ?Protestation“ war im 16. Jahrhundert ein herkommliches Rechtsinstrument des Reichsrechts, mit der eine Minderheit von Standen und Reichsstadten ihre Anliegen auf einem Reichstag vorbringen konnte. [4] Das lateinische Verb protestari hat eine positive Grundbedeutung: ?fur etwas zum Zeugen aufgerufen werden“, ?fur etwas Zeugnis ablegen“. Heute werden die Begriffe ?protestantisch“ ( gepragt aus der Fremdwahrnehmung durch die romische Kurie ) und ? evangelisch “ (gepragt aus der Selbstwahrnehmung der Gemeindemitglieder und ihrer Landeskirchen ) in der deutschen Umgangssprache austauschbar verwendet. Jedoch bezeichnen sich die deutschen in der Tradition der Reformation stehenden Kirchen selbst als ?evangelisch“ und nicht als ?protestantisch“. Eine Ausnahme bildet die Evangelische Kirche der Pfalz (Protestantische Landeskirche) . Auch die Begriffe ?Kirche(n) der Reformation“ und ?reformatorische Kirche(n)“ werden verwendet.

Daneben existieren die Bezeichnungen ?lutherisch“ bzw. ? A.B. (Augsburgischen Bekenntnisses) “, die die Kirchen in der Tradition der Wittenberger Reformation bezeichnen, und ? reformiert “ bzw. ? H.B. (Helvetischen Bekenntnisses) “, die die Kirchen in der Tradition der Schweizer Reformatoren Ulrich Zwingli ( Zurich ), Johannes Calvin ( Genf ) und Johannes Oekolampad ( Basel ) bezeichnen. Je nach Organisationsform gibt es Zusammenschlusse, die eine Differenzierung aufgeben, wie die unierten Kirchen der Bremischen Evangelischen Kirche oder die United Church of Christ in den Vereinigten Staaten. Im Bereich der evangelischen Freikirchen finden sich Bezeichnungen wie evangelisch-freikirchlich , evangelisch-methodistisch , Freie evangelische Gemeinde , Altevangelisch Taufgesinnte oder Evangelische Freie Gemeinde .

?Evangelisch“ muss von dem im 20. Jahrhundert entstandenen Begriff ? evangelikal “ unterschieden werden, besonders bei Ubersetzungen in andere bzw. aus anderen Sprachen. Im englischsprachigen Raum sind die Begriffe ?Protestantism“ und ?Protestant“ unentbehrlich, da ?evangelical“ außer ?evangelisch“ vor allem in Nordamerika auch ?evangelikal“ bedeutet. [5] Auch gibt es keine englische Entsprechung fur das Adjektiv ?reformatorisch“. Das Adjektiv ?reformed“ bedeutet ?reformiert“ und wird zum Beispiel in Bezeichnungen fur bestimmte Kirchen verwendet, etwa Dutch Reformed Church (Niederlandisch-Reformierte Kirche). Der historische Begriff ?evangelical“ entstand im Umfeld des Puritanismus in England.

Einfuhrung [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Lucas Cranach der Altere : Portrat Martin Luthers (1529)

Allgemeiner werden auch nachreformatorisch entstandene Konfessionsrichtungen als evangelisch bezeichnet, die gleiche oder ahnliche Grundsatze wie die reformatorischen Kirchen vertreten und sich deshalb von der romisch-katholischen Kirche distanzierten. In diesem Sinne wird beispielsweise die anglikanische Kirche zum Protestantismus gezahlt. Nach der Unabhangigkeitserklarung nannten sich die amerikanischen Anglikaner Protestant Episcopal Church in the United States of America . Auch die evangelischen Freikirchen gehoren zum evangelischen Spektrum. Hierzu zahlen im deutschsprachigen Raum unter anderem die bereits in der Reformationszeit entstandenen Mennoniten sowie die Baptisten , die Methodisten , die Siebenten-Tags-Adventisten und die Pfingstler . Die bereits im 12. Jahrhundert entstandenen Waldenser schlossen sich im 16. Jahrhundert dem schweizerischen beziehungsweise franzosischen Protestantismus an. Die im englischsprachigen Raum verbreiteten Presbyterianer , Kongregationalisten und eine Anzahl anderer Kirchen gehoren zur reformierten Kirchengemeinschaft. Auch die Unitarier entstanden als reformatorische Kirche, ein Teil von ihnen hat sich jedoch ab dem spaten 19. Jahrhundert vom Christentum gelost. Die Quaker entstanden ebenfalls im Umkreis der englischen Reformation.

Die einflussreichsten Reformatoren waren Martin Luther und Philipp Melanchthon ( Evangelisch-lutherische Kirchen ), Ulrich Zwingli , Johannes Calvin und John Knox (Reformierte Kirchen) sowie Thomas Cranmer und Martin Bucer (Anglikanische Kirche). Die fuhrenden Theologen in der Fruhzeit der mitgliederstarksten Freikirchen waren Konrad Grebel , Felix Manz und Menno Simons ( Taufer /Mennoniten), Robert Browne und John Cotton (Kongregationalisten), Thomas Helwys und John Smyth (Baptisten), George Fox (Quaker) sowie John Wesley , Charles Wesley und George Whitefield (Methodisten).

Die deutschen evangelischen Landeskirchen haben sich in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) organisiert. Die evangelischen Freikirchen sind in der Vereinigung Evangelischer Freikirchen zusammengefasst. Durch Auswanderung und Mission entstanden in vielen Landern der Erde großere oder kleinere evangelische Kirchen (Weltprotestantismus). Besonders stark wachsen sie in China und Lateinamerika . Die meisten lutherischen Kirchen sind im Lutherischen Weltbund zusammengeschlossen, die reformierten Kirchen in der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen . Auch die evangelischen Freikirchen kennen entsprechende internationale Zusammenschlusse wie beispielsweise den Weltrat methodistischer Kirchen , den Baptistischen Weltbund und die Mennonitische Weltkonferenz . Die große Mehrzahl der evangelischen Kirchen sind Mitglieder des Okumenischen Rates der Kirchen . Evangelische bilden die Bevolkerungsmehrheit in Skandinavien , dem Vereinigten Konigreich , den Vereinigten Staaten , Australien , Island und Neuseeland . In Deutschland, den Niederlanden und der Schweiz leben etwa gleich viele evangelische wie katholische Christen.

Keine historische Abbildung vorhanden: Konrad Grebel (1498?1526), Taufer, Jorg Blaurock (1492?1529), Taufer, Felix Manz (1498?1527), Taufer und Thomas Helwys (1550?1616), Baptist.

Geschichte und Theologie des Begriffs [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Uberblick
der protestantischen Geschichte
Jahr Ereignis
1517 Thesenanschlag in Wittenberg
1519 Grundung der Reformierten Kirche
1521 Wormser Edikt
1525 Grundung der Taufer
Erster protestantischer Staat
1529 Speyerer Protestation
Marburger Religionsgesprach
1534 Grundung der anglikanischen Kirche
1545 Konzil von Trient
1555 Augsburger Religionsfrieden
1609 Grundung der ersten Baptistengemeinde in Amsterdam
1618 Hohepunkt der Konfessionalisierung und Beginn des Dreißigjahrigen Krieges
1648 Westfalischer Friede
1730 Beginn der ersten Großen Erweckung
1790 Beginn der zweiten Großen Erweckung
1817 Erste unierte Kirche
1906 Beginn der Pfingstbewegung
seit 1960 Zunehmende Sakularisierung
Europas und Nordamerikas;
weltweite Expansion der evangelikalen Bewegung und anderen Formen des Neuprotestantismus

Reformation bis zur Aufklarung [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Der Begriff Protestanten geht zuruck auf die Speyerer Protestation der evangelischen Stande auf dem Reichstag zu Speyer 1529 : Sie protestierten gegen die Aufhebung des Abschieds von Speyer 1526 , mit dem den Landern und Reichsstadten, die Reformationen durchgefuhrt hatten, Rechtssicherheit zugesagt worden war, und beriefen sich dabei auf die Glaubensfreiheit des Einzelnen.

Weltliche Herrscher, angefuhrt von Kaiser Karl V. , furchteten um die Reichseinheit ihres katholisch durchdrungenen Machtbereichs, wobei der papstliche Machtbereich als eigener gelten konnte. In einer Anzahl von Kriegen war der Protestantismus der mehr oder weniger schwerwiegende Gegenstand; dazu gehoren die Hugenottenkriege in Frankreich und der Dreißigjahrige Krieg , der fast ganz Europa und insbesondere Deutschland erfasste. Erst mit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 wurde die lutherische Konfession und mit dem Westfalischen Frieden von 1648 auch die reformierte Konfession anerkannt. Den Taufern und anderen Bewegungen der sogenannten radikalen Reformation blieb in Deutschland und anderen europaischen Landern bis ins 18. Jahrhundert jede Form von Anerkennung versagt.

Der außeren Konsolidierung der Konfessionen folgte eine innere Festigung der protestantischen Lehre. Das fuhrte zur lutherischen Orthodoxie . Mit Aufklarung und Pietismus wird diese starre Lehre aufgebrochen. Der Pietismus legte seinen Schwerpunkt auf das tatige Handeln des Christen und die Aufklarung kritisierte die wortliche Bibelinterpretation und die Geltung der alten Dogmen. Damit veranderte sich der Protestantismus selbst. Erst in dieser Epoche wird der Begriff Protestantismus in der deutschen Theologie zu einer Selbstbeschreibung. Uber das Englische ist er im 18. Jahrhundert vor allem durch die Neologie wieder eingefuhrt worden. Hier wurde der Begriff als Gegenbegriff zur romischen Kirche genutzt. Zugleich wurden mit diesem Begriff das Emanzipationspotential und die selbststandige Beziehung des Einzelnen zu Gott betont. [6] Der Begriff fungierte folglich als Sammelbegriff fur verschiedene Konfessionen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass der Begriff die Frage nach den Gemeinsamkeiten der Konfessionen provoziert, was zu einer Leitfrage des 19. Jahrhunderts wurde.

Protestantismusbegriff im 19. Jahrhundert [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Schlussworte der badischen Unionsurkunde, 26. Juli 1821

Im deutschsprachigen Raum wurden durch die Koalitionskriege (1792 bis 1815), den Reichsdeputationshauptschluss (1803), den Rheinbund (1806 bis 1813) und den Wiener Kongress (1814/15) die konfessionell streng getrennten Territorien stark durcheinandergebracht, sodass nach dieser Zeit des Umbruchs viele konfessionell gemischte Territorien entstanden sind. Die Tatsache, dass sich in vielen Landern sowohl lutherische als auch reformierte Gebiete vereinigten, fuhrte zu sehr unterschiedlichen Formen der Kirchenunion der evangelischen Kirchen. Dass die Unterschiede zwischen den beiden protestantischen Konfessionen damit nivelliert wurden, passte sowohl den Aufklarungs- als auch den pietistischen Erweckungstheologen.

Die bekannteste und umstrittenste Kirchenunion ist die Preußische Kirchenunion von 1817. Am 27. September 1817 anlasslich des Reformationsjubilaums verkundete der preußische Konig Friedrich Wilhelm III. (reg. 1797?1840) die Kirchenunion von Lutheranern und Calvinisten. Mit dieser Verkundigung ging die Frage nach einer grundlegenden Kirchenreform einher. Es wurde im Rahmen einer Generalsynode uber die Organisation der Kirche in einer Konsistorialverfassung oder einer Synodalverfassung gestritten. Im Zuge der Restauration kam es allerdings zu einer Aussetzung dieser Synode (1823) und der ?Verdrangung liberaler Krafte aus dem preußischen Kirchenwesen“. [7] Der synodale Weg wurde vom preußischen Konigshaus als zu nahe dem Parlamentarismus gesehen und daher verworfen. Zeitgleich entsponn sich auch ein Streit um das Recht des Landesherrn, kirchliche Angelegenheiten zu regeln. Der preußische Konig versuchte der preußischen Union eine einheitliche Agende zu verordnen und damit die Konfessionen liturgisch zu vereinheitlichen. Dies entfachte den sogenannten Agendenstreit . Am Schluss musste der Konig die Agende wegen des großen offentliches Drucks zurucknehmen. Erst 1850 kam es zu einer teilweisen Selbstverwaltung der Kirchen und 1873 zu einer wirklichen Kirchenverfassung in Preußen. [8]

In diesen kirchenpolitischen Entwicklungen war Schleiermacher stark mit einbezogen. Er votierte fur die Synodalverfassung und bezog zur Rolle der Bekenntnisschriften Position, wobei er die Bekenntnisschriften nicht als wortlich verbindlich begreift, sondern als ihrem gemeinsamen Sinne nach verpflichtend. Dieses Themengebiet nahm er dann auch zum Anlass uber den Begriff des Protestantismus nachzudenken und Gemeinsamkeiten zwischen den Konfessionen zu definieren. Insgesamt war Schleiermacher ein Freund der Kirchenunion. Seine Glaubenslehre gilt bis heute vielen als Unions-Dogmatik. [9]

Gegen die Kirchenunion und im Folgenden auch gegen den Begriff des Protestantismus gerichtet, entstand ein (zumeist lutherischer) Konfessionalismus im 19. Jahrhundert. [10] Zumeist handelte es sich um diejenigen, die die Institution Kirche besonders schatzten und daher Sorge um Abspaltungen von der eigenen in der Kirche beglaubigten Lehre hatten. Diese ?Kirchenfrommen“ waren besonders bemuht, die Lehre der lutherischen Orthodoxie zu bewahren und diese in Form von Normierung von Kirchenbau und neuen Gemeindegesangbuchern zu bewahren. [11]

Der Konfessionalismus ist besonders durch zwei Personen wirkmachtig geworden: dem bayrischen Juristen Friedrich Julius Stahl (1802?1861) und dem bayrischen Theologen Wilhelm Lohe (1808?1872).

Friedrich Julius Stahl lieferte ausgehend von einem konservativen Staatsbegriff die juristische Vorstellung des Konservativismus . Er denkt den christlichen Obrigkeitsstaat, der von Gott uber alle Menschen gesetzt ist. Dieser Staat ist fur die Einhaltung von Grenzen und Regeln zustandig und ermoglicht nur in diesen die Freiheit des Einzelnen (d. h. die Freiheit geht nicht vom Naturrecht des Einzelnen aus, sondern existiert als gewahrte Freiheit durch den Staat). Die Menschen mussen sich also unter die gegebene Herrschaft unterordnen und ggf. unter einem ungerechten Herrscher leiden. Das bedeutet auf die Kirche umgemunzt, dass sie uber den Menschen steht und in ihrer gegebenen Form im besten Sinne Gottes ist. Da beide Gewalten (weltlich und geistlich) von Gott direkt legitimiert sind, darf der Landesherr mit dem geistlichen Stand gemeinsam die Kirche lenken. Und deren oberstes Ziel ist der Erhalt der reinen Lehre, denn ? Glaubensgemeinschaft gebe es nur auf dem Boden reiner bekenntnismaßiger Lehre “. [12] Damit hangt auf juristischer Seite auf einmal eine wirkliche funktionierende Kirche von der Einheitlichkeit der Lehre ab. [13]

Wilhelm Lohe buchstabiert diese Forderung nach einem einheitlichen Bekenntnis nun theologisch aus. Ihm geht es um die vollstandige Wahrheit, die nur in einem spezifischen Bekenntnis zu finden sei. Dieses Bekenntnis ist fur ihn das lutherische, wobei er sich anders als Stahl eine ganzlich vom Pfarramt selbst verwaltete Kirche wunscht; mit dem landesherrlichen Kirchenregiment allerdings leben kann. In Folge dieser Theologie kommt es dann zur Identifikation der unsichtbaren Kirche mit der sichtbaren Bekenntniskirche und zu einer absolut gesetzten Hochschatzung der kirchlichen Amtspersonen. [14] Daraus wird geschlussfolgert: ?Zwischen schlechthin ungebrochener Bekenntnistreue und Abfall vom Christentum gibt es keinen mittleren Weg.“ [15]

Protestantismusbegriff im 20. und 21. Jahrhundert [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Ein kritischer Los Angeles Times Artikel uber die Azusa-Street-Erweckung
1910 World Missionary Conference in Edinburgh

Um 1900 stellt sich die Frage nach dem Protestantismus auf eine neue Art. Georg Jellinek , Max Weber und Ernst Troeltsch , die sich alle drei in Heidelberg kennen gelernt hatten, fragten sich, welchen Einfluss der Protestantismus auf die Entstehung der Moderne gehabt hatte. Gepragt war diese Fragestellung vom Verlust der religiosen Selbstverstandlichkeit um 1900. Die Religion sah sich nun in Konkurrenz mit anderen Welterklarungen (Marxismus, Darwinismus, Materialismus), die den Anspruch erhoben, besonders modern zu sein.

Georg Jellinek stellte in dem Buch ?Die Erklarung der Menschen und Burgerrechte“ von 1895 die These auf, dass die amerikanischen Menschenrechte maßgeblich initiiert sind von dem Bedurfnis der calvinistischen Siedler nach Religionsfreiheit und nach einer Trennung von Staat und Kirche. Der Calvinismus stand theologisch fur eine starkere Selbstbeschrankung des Staates in religiosen Belangen und daher dafur, das religiose Bekenntnis von der Staatsburgerschaft zu trennen. Aus dieser Vorstellung ging eine Forderung nach Religionsfreiheit hervor (insbesondere bei dem Prediger Roger Williams), die ein wesentlicher Grund fur die Kodifizierung der Menschen- und Burgerrechte in den USA war. [16] Ernst Troeltsch hat diese These dann modifiziert, indem er darauf beharrte, dass dies keineswegs fur den gesamten Calvinismus gelte, der in Nordamerika auch Staatskirchen errichtet hat, sondern nur fur die protestantischen Sekten (die hauptsachlich calvinistischen Ursprungs waren). Troeltsch verweist insbesondere auf die Quaker. [17]

Max Weber hat in einer Reihe von Artikeln um 1905 herum die Frage nach den wirtschaftlichen Folgen des Protestantismus gestellt. Max Weber ging davon aus, dass es einer geistigen Grundlage fur erfolgreiches und kapitalistisches Wirtschaften bedarf. Die ethischen Ansichten einer Zeit sind fur ihn unter anderem von religiosen Uberzeugungen gepragt. Da England, die Niederlande und die USA die wirtschaftlich erfolgreichsten Lander des 18. und 19. Jahrhunderts waren, lag die These nahe, dass der Calvinismus eine solche wirtschaftsforderliche geistige Grundlage hervorbringen konnte. Diese fand Weber im asketischen Protestantismus , der aus der calvinistischen Lehre hervorgegangen ist. Er schatzte den Beruf des Einzelnen und etablierte die erfolgreiche Arbeit als einen Erweis fur die Pradestination Gottes zum Heil. Daraus folgte eine Konzentration der ganzen Lebensfuhrung auf die Arbeit und erfolgreiches wirtschaftliches Handeln. Dieser Geist hat dem Kapitalismus zum Durchbruch verholfen und hat sich im Laufe der Zeit selbst sakularisiert, indem die Arbeit nicht mehr einen religiosen Zweck hatte, sondern zum profanen Selbstzweck wurde. [18]

Ernst Troeltsch stellte in seinem Werk ?Die Bedeutung des Protestantismus fur die Entstehung der modernen Welt“ von 1906 dar, dass zwischen Protestantismus und Moderne kein Widerspruch besteht, sondern beides einander beeinflusst hat. Viele Prinzipien der Moderne gehen zumindest zum Teil auf Prinzipien des Protestantismus zuruck, so ist zum Beispiel der weltliche Individualismus der Moderne aus dem religiosen Individualismus des Protestantismus entstanden. Diese Prinzipien sieht Troeltsch bereits im Christentum angelegt, doch erst durch den Protestantismus zum Prinzip erhoben. Wahrend jedoch die zwei großen Konfessionen, das Luthertum und der Calvinismus, zu Beginn noch sehr mittelalterlich gepragt waren, hat aber im 18. Jahrhundert eine Entwicklung stattgefunden. Aus dem antimodernen Altprotestantismus ist unter Aufnahme von Ideen der christlichen Sekten, der christlichen Mystik, der Aufklarung und des Humanismus der Neuprotestantismus entstanden. Dieser ist eine mit der Moderne kompatible Form des Protestantismus. [19]

Seit den 1920er-Jahren ist der Hauptstreit in der deutschen protestantischen Theologie die Unterscheidung zwischen dialektischer und liberaler Theologie . Wahrend erstere die Offenbarung ins Zentrum stellt gegen die bestehende Kultur (vor allem in Abgrenzung gegen den Nationalsozialismus), sieht letztere den Protestantismus in der jeweiligen Kultur beheimatet. Der Hauptvertreter der dialektischen Theologie ist Karl Barth. Ein zeitgenossischer Vertreter der liberalen Theologie ist Jorg Lauster. Paul Tillich hingegen grenzt sich von der dialektischen Theologie ab und denkt den liberalen Protestantismusbegriff im Kontext seiner existentialistischen Theologie weiter.

Karl Barth erwidert gegen Ernst Troeltsch, dass Protestantismus und Moderne genauso wenig kompatibel miteinander seien wie Protestantismus und Mittelalter. Erst als der Altprotestantismus sich von den eigentlichen Prinzipien abgewandt hat und zum Neuprotestantismus gewandelt hat, verriet er seinen Wesenskern. Er hat dabei unreflektiert die Ideen der Moderne aufgenommen. [20] Das protestantische Denken hat seinen Ausgangspunkt nach Barth nicht im Menschlichen, sondern im Gottlichen. Es will die Erde im Licht des Himmels und nicht den Himmel von der Erde verstehen. [21] Als der alte Protestantismus aber die Ideen der Moderne aufnahm und zum Neuprotestantismus wurde, verriet er seinen Wesenskern. Die protestantische Theologie seit dem 18. Jahrhundert hat das erste Gebot (?Du sollst keine Gotter neben mir haben“) als theologisches Axiom verletzt, indem sie der Offenbarung weitere Axiome beigeordnet hat, die teilweise großere Relevanz als das erste erhielten und die Deutung der Offenbarung bestimmten. Barth halt dies fur problematisch, da die neuen Axiome anders als die Offenbarung willkurlich gewahlt sind und so seiner Meinung nach nicht zu Gott fuhren. [22]

Paul Tillich war ein Theologe des 20. Jahrhunderts, der zunachst in Deutschland und dann in den USA wirkte. Der Protestantismus ist fur Tillich Kritik und Gestaltung. Er erkennt das protestantische Denken als den einzigen Weg, um dem besonderen Wesen des Christentums gerecht werden. Denn die christliche Kirche habe zwar den klaren Bezug zu Gott, laufe aber immer wieder Gefahr, das Heil ausschließlich in sich selbst zu verkorpern. Deshalb sei eine prophetische Kritik notig. Prophetische Kritik geht fur Tillich vom transzendenten Erleben und damit vom Jenseits aus (dies nennt Tillich auch ?das, was uns unbedingt angeht“) und uberwindet den selbstbezogenen menschlichen Horizont. Die Aufgabe des Protestantismus ist, diese Kritik zur Sprache zu bringen. Er warnt jedoch auch davor, den Protestantismus auf diese Kritik zu reduzieren. Protestantismus muss auch Gestaltung sein, indem er die Religion zu einer Kirche zur Sammlung der Glaubigen gestaltet. [23] Um sein gestaltendes Prinzip nicht zu vernachlassigen, muss der Protestantismus mit dem katholischen Sakramentalverstandnis in einem fruchtbaren Dialog bleiben. [24]

Jorg Lauster prasentierte 2017 anlasslich des Reformationsjubilaums seine Vorstellung von Protestantismus als Ausdrucksform des ?Ewigen Protests“. [25] Dieser sei ein dem Christentum innewohnendes Prinzip, das in der Reformation besonders gut sichtbar wurde. Es richtet sich gegen ?alles, was das Herz des Religiosen kleiner und enger macht.“ [26] Diese Gefahr besteht, wenn Kirche ihre religiosen Ausdrucksformen absolut setzt und vergisst, dass sich das Heilige und die christliche Botschaft niemals in seiner Vollstandigkeit von menschlicher Sprache und Vorstellung abbilden lasst. Daher wirkt der ?Ewige Protest“ stets gegen eine Uberhohung der eigenen Institution und deren Traditionen und Lehrmeinungen. Vielmehr drangt er die Menschen zu einem Austausch untereinander und die Kirche zu einem steten Wandel. Die Reformation hat dieses Prinzip lediglich wieder zum Vorschein gebracht. Die protestantischen Kirchen gehen fehl, wenn sie denken, einen Idealzustand erreicht zu haben.

Glaubenslehre und Charakteristiken [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum , Offnungsschrift der Reformation
Schematische Darstellung zu Luthers Rechtfertigungslehre , modifiziert nach P. Blickle (1992) [27]

Pragend sind die Konzentration auf die Bibel , die Anerkennung Jesu Christi als alleiniger Autoritat fur die Kirche und den einzelnen Glaubenden sowie die Lehre, dass der Mensch ?allein aus Gnade“ ? und nicht aufgrund seines Handelns ? errettet wird. Rechtfertigung erfahrt der Mensch ?allein durch den Glauben“. Entsprechend wird der Ablass (Nachlass zeitlicher Sundenstrafen gegen Geld, Bußubungen oder andere gute Werke) abgelehnt.

Die evangelische Lehre wird oft in den ?vier Soli“ ? solus Christus (allein Christus), sola scriptura (allein durch die Schrift), sola gratia (allein durch Gnade) und sola fide (allein durch den Glauben) zusammengefasst.

Einige aus der katholischen Kirche bekannte Sakramente (z. B. Firmung , Ehe , Priesterweihe und Krankensalbung ) werden von den evangelischen Kirchen nicht anerkannt, da sie als nicht von Christus eingesetzt betrachtet werden. Martin Luther sprach vom allgemeinen ? Priestertum aller Glaubigen “. Als eindeutig von Christus eingesetzte Sakramente gelten die Taufe und das Abendmahl . Luther halt an der Beichte fest, sie gilt in der Regel jedoch offiziell nicht mehr als Sakrament, lediglich einige lutherische Kirchen erkennen der Beichte einen sakramentalen Charakter zu. In den evangelisch-reformierten Kirchen und in vielen evangelischen Freikirchen besitzen die Sakramente lediglich Symbolcharakter. Auch wenn Luther zunachst noch ein lateinisches Messbuch entwickelte, wurden spatestens seit seiner Veroffentlichung einer Messe in deutscher Sprache (Deutsche Messe B) Gottesdienste und Messen in allen reformatorischen Kirchen in der jeweiligen Landessprache abgehalten, wahrend die katholische Kirche bis heute offiziell an der lateinischen Sprache festhalt, in der Praxis jedoch seit dem Zweiten Vatikanum auch zur Volkssprache ubergegangen ist. Jedoch hat mit einer jungeren Entscheidung von Papst Benedikt XVI. , die tridentinische Messe wieder voll zuganglich zu machen, die lateinische Sprache im katholischen Gottesdienst erneut an Bedeutung zugenommen.

Die Reformation war zwar im Kern eine religiose Bewegung, aber sie hatte starkste Auswirkungen auf alle Lebensbereiche. Die Reformatoren und der (fruhe) Protestantismus entwickelten ein umfassendes Modell fur Staat und Gesellschaft, dessen weitere Entfaltung sich vor allem in der von Calvins Denken gepragten angloamerikanischen Welt vollzog. [28] Die Grundzuge dieses Modells wurden nach und nach in vielen Teilen der Welt auch von Nichtprotestanten ubernommen.

In den Kirchen der Reformation sind die Geistlichen nicht zur Ehelosigkeit verpflichtet. Das evangelische Pfarrhaus hatte einen enormen Einfluss auf das Entstehen einer geistigen Elite. Zum Beispiel verzeichnete um 1955 die Allgemeine Deutsche Biographie von den etwa 1600 großen Deutschen 861 Pfarrerssohne. [29] Ahnliches gilt fur die anderen protestantisch gepragten Lander. Vor allem seit Mitte des 20. Jahrhunderts wurden in vielen protestantischen Kirchen Frauen zum Pfarramt zugelassen, auch in Fuhrungspositionen, z. B. die fruhere lutherische Bischofin und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland , Margot Kaßmann , und seit Sommer 2014 leitet Antje Jackelen als Erzbischofin die lutherische Kirche Schwedens . Das war ein wesentlicher Beitrag zur rechtlichen und faktischen Gleichstellung von Frauen und Mannern.

Insbesondere in Schottland sowie in England und seinen Kolonien in Nordamerika schufen Protestanten demokratische Strukturen im weltlichen Bereich ( John Milton , Oliver Cromwell , John Locke , William Bradford , John Winthrop , Roger Williams , Thomas Hooker , William Penn , George Washington , Thomas Jefferson , John Adams u. a.). [30] Vor allem die amerikanische Demokratie wurde fur viele Staaten, darunter Deutschland, [31] zum Vorbild bei der Schaffung ihrer eigenen demokratischen Gesellschafts- und Staatsform. Die prinzipielle Trennung von Geistlichem und Weltlichem war bereits durch Luthers Zwei-Reiche-Lehre vollzogen worden. Indem Luther allen Getauften das allgemeine Priestertum zusprach, wertete er die Laien in der Kirche außerordentlich stark auf; dies fuhrte er unter anderem in seiner Schrift Dass eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu beurteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen von 1523 aus. Dieses demokratische Element wurde im reformierten Bereich durch die Schaffung von Presbyterien ( Kirchengemeinderat ) und Synoden , deren Mitglieder von den Gemeindegliedern gewahlt wurden und in denen Geistliche und Laien gleichberechtigt in der Leitung der Kirche zusammenwirkten, wesentlich verstarkt (kirchliche Selbstregierung). [32]

Das Bildungswesen nahm in den von der Reformation erfassten Gebieten einen starken Aufschwung, da jedes Gemeindeglied in die Lage versetzt werden sollte, die Bibel selbst zu lesen. Philipp Melanchthon erhielt fur sein Engagement auf diesem Gebiet den Ehrennamen Praeceptor Germaniae (Lehrer Deutschlands). Schulpflicht sowohl fur Jungen als auch fur Madchen sorgte fur einen hohen Grad der Alphabetisierung. Das reformatorische Gottes- und Menschenbild hat zur Folge, dass der in Christus erwahlte und erloste Mensch in Bewegung gesetzt wird. Er darf und soll alle ihm vom Schopfer verliehenen Krafte, einschließlich Verstand und Vernunft, frei entfalten ? im geselligen Umgang, in der Wirtschaft, in den Wissenschaften und in der Kunst. Er darf und soll Gottes gute Schopfung erforschen und im Sinne von Gen 2,15  LUT nachhaltig nutzen. [33] Dies schuf ein gunstiges kulturelles Klima fur das Erbluhen der Geisteswissenschaften , der Naturwissenschaften und der Technik . [34] Der von dem amerikanischen Soziologen Robert King Merton 1938 entwickelten Merton-These zufolge wurde die naturwissenschaftlich-technologische Revolution des 17. und 18. Jahrhunderts im Wesentlichen von Protestanten, vor allem englischen Puritanern und deutschen Pietisten , getragen. [35] [36] Die Naturrechtsjuristen Hugo Grotius und Samuel Pufendorf sowie die Philosophen der englischen und deutschen Aufklarung John Locke , John Toland , Matthew Tindal , Gottfried Wilhelm Leibniz , Christian Wolff , Christian Thomasius , Immanuel Kant sowie der Genfer Jean-Jacques Rousseau entstammten dem Protestantismus und waren von diesem gepragt. Sie griffen Entscheidungen auf, die in der Reformation und in Teilen des fruhen Protestantismus getroffen worden waren, und entwickelten sie weiter, z. B. Religionsfreiheit, Gleichheit der Menschen und Demokratie. Beispielsweise leitete Locke, der tief im protestantischen Denken verwurzelt war, die Gleichheit der Menschen, einschließlich der Gleichheit von Mann und Frau, nicht aus philosophischen Pramissen, sondern aus 1. Mose 1,27?28 LUT ( Imago Dei ) ab. [37] Der Gleichheitsgrundsatz ist unerlassliche Grundlage der rechtsstaatlichen Demokratie. Der bedeutendste Philosoph des Deutschen Idealismus Georg Wilhelm Friedrich Hegel studierte am Evangelischen Stift in Tubingen. Die Ideen der Aufklarung wurden in erster Linie vom protestantischen Burgertum umgesetzt. Die katholische Kirche lehnte die Aufklarung ab. [38]

Die Reformatoren befurworteten einen Lebensstil, der Fleiß, (Selbst-)Disziplin, Pflichtbewusstsein, Ehrlichkeit, Genugsamkeit, Sparsamkeit und ? vor allem bei Calvin ? Verzicht auf Luxus einschloss. Max Weber schloss in seiner Protestantischen Ethik , dass dadurch Geld fur Investitionen frei wurde, was das Wirtschaftsleben in den protestantisch gepragten Gebieten nachhaltig beflugelte. [39] Webers populare Thesen halten ? zumindest im deutschen Sprachraum ? einer empirischen Uberprufung jedoch nicht stand. [40] Dagegen fand der US-amerikanische Soziologe Gerhard Lenski in einer 1958 durchgefuhrten empirischen Untersuchung im Großraum Detroit (US-Bundesstaat Michigan) wesentliche Teile von Webers Thesen bestatigt, insbesondere im Hinblick auf die unterschiedlichen Einstellungen gegenuber dem Wirtschaftsleben und den Naturwissenschaften bei Katholiken einerseits und (weißen) Protestanten sowie Juden andererseits. [41] Der Soziologe Eduard Heimann schloss, dass Wirtschaft einerseits und Naturwissenschaften und Technik andererseits sich gegenseitig verstarkten, da in der Wirtschaft die jeweils neuesten und effektivsten Erkenntnisse, Methoden und Maschinen zum Einsatz kamen, um die Produktivitat zu steigern. Dies habe zu einem standig steigenden Lebensstandard gefuhrt, auch fur die unteren sozialen Schichten. Diese Entwicklung halte nach wie vor an. [42]

Die prinzipielle Trennung von Geistlichem und Weltlichem durch Luther sollte in protestantischen Gebieten und Landern ein kirchliches Inquisitionsverfahren unmoglich machen. Den Glauben, so Luther, kann man nicht erzwingen. Er ist ein Werk des Heiligen Geistes. Allerdings sah Luther in der Ablehnung des Eides, des Kriegsdienstes und teilweise des Eigentums durch die Taufer eine politische Gefahr fur das Gemeinwesen. Deshalb kam es nicht nur in katholischen, sondern auch in lutherischen und reformierten Gebieten zur Verfolgung von Taufern. Diese forderten unermudlich religiose Toleranz und traten durch ihr geduldiges Leiden dafur ein. Sie und die ebenfalls verfolgte Minderheitskirche der reformierten Hugenotten praktizierten schon seit ihren Anfangen im 16. Jahrhundert die vollige Trennung von Kirche und Staat. [43] Anfang des 17. Jahrhunderts gingen aus dem englischen Puritanismus unter Einfluss des niederlandischen Mennonitismus die baptistischen Kirchen hervor. Baptisten wie John Smyth , Thomas Helwys und Roger Williams traten in Streitschriften vehement fur Religionsfreiheit ein. Sie hatten starken Einfluss auf John Milton und Locke. In ?Milton verkorpern sich alle Toleranzmotive der Zeit in großartiger Einheit. Gewissensfreiheit war ihm christliches und protestantisches Urprinzip und Grundlage aller burgerlichen Freiheiten. Darum forderte er uber Cromwell hinaus vollige Trennung von Staat und Kirche.“ [44] Zudem sprach er sich fur das Recht auf Ehescheidung und die Pressefreiheit aus. Letztere wurde 1694 in England eingefuhrt, eine Frucht der Glorreichen Revolution . [45] In einigen englischen Kolonien in Nordamerika wurde die Religionsfreiheit mit demokratischer Selbstverwaltung verknupft (Roger Williams in Rhode Island (1636); Thomas Hooker in Connecticut (1639); William Penn in Pennsylvania (1682)). Die amerikanische Unabhangigkeitserklarung und die Verfassung der Vereinigten Staaten fuhrten diese Tradition fort. [4] Die Abschaffung der Folter ( Christian Thomasius , Friedrich der Große ) und der Sklaverei ( William Wilberforce , Abraham Lincoln , Harriet Beecher Stowe u. a.) ging hauptsachlich auf die Initiative von Protestanten zuruck. [46]

In Bayern hatten sich fur einige Zeit lutherische und reformierte Christen im Sinne ?einer Religionspartei“ einander angenahert. Erst nach dem Wiener Kongress wurden ab 1815 im Zuge der Restauration die Konfessionen wieder deutlicher unterschieden. Die ab 1824 als Protestantische Kirche bezeichnete lutherische Gemeinde wurde dann Grundlage des konfessionellen Status der bayerischen Landeskirche. [47]

Diakonie Deutschland , Logo
Symbol der Internationalen Komitee vom Roten Kreuz , gegrundet 1863 auf Anregung des calvinistischen Henry Dunant

Protestanten fuhlten sich von Anfang an verantwortlich fur Kranke und sozial Benachteiligte. Es entstanden weltweit Krankenhauser, Heime und andere Hilfseinrichtungen fur behinderte, alte und arme Menschen, in Deutschland beispielsweise Diakonisches Werk und Brot fur die Welt . Pioniere waren vor allem Johann Hinrich Wichern und Friedrich von Bodelschwingh sen. Als Reaktion auf die Verelendung großer Teile der Stadt- und Landbevolkerung grundeten in Großbritannien um 1845 Anglikaner und Mitglieder von Freikirchen Genossenschaften als Selbsthilfeorganisationen. In Deutschland schufen der uberzeugte Reformierte Friedrich Wilhelm Raiffeisen und der Preuße Hermann Schulze-Delitzsch ab 1862 ein rasch wachsendes Netz von Genossenschaften. [48] Unter dem Druck der ?sozialen Frage“ des 19. Jahrhunderts beschloss Preußen wahrend der Kanzlerschaft Otto von Bismarcks von 1881 bis 1889 Sozialversicherungsgesetze . [49] Das humanitare Volkerrecht erfuhr durch den reformierten Pietisten Henry Dunant eine große Bereicherung. Er war die treibende Kraft hinter der Entstehung der Genfer Konvention , und auf sein Engagement geht das Rote Kreuz zuruck. [50]

Die reformatorischen Kirchen und ihre Theologen haben eine große theologische Bandbreite, die von strikt konservativen Positionen (z. B. Lutheran Church ? Missouri Synod ) bis zu sehr liberalen Anschauungen reicht. Im 20. Jahrhundert wurde der liberale Pol besonders von Friedrich Gogarten , Rudolf Bultmann , Gerhard Ebeling , Ernst Fuchs , Ernst Kasemann und Gunther Bornkamm eingenommen; Eduard Thurneysen , Dietrich Bonhoeffer , Helmut Thielicke , Karl Barth und dessen Schuler ( Otto Weber u. a.) waren gemaßigt konservativ; der konservative Flugel war von evangelikal-pietistischen Theologen besetzt. Die amerikanischen Kirchen hatten neben Tillich in Richard Niebuhr und Reinhold Niebuhr herausragende Gelehrte. Andere Theologen engagierten sich in der okumenischen Bewegung, zum Beispiel Nathan Soderblom , Willem Adolf Visser ’t Hooft . Im angehenden 21. Jahrhundert hat sich an dieser theologischen Lage nichts Wesentliches verandert.

Der Protestantismus wirkte befruchtend auf die Kunst. Im deutschen Sprachraum konnten jahrhundertelang mehr Menschen die Texte der Kirchenlieder Martin Luthers und Paul Gerhardts auswendig als Gedichte von Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller , die ihrerseits ebenfalls einen protestantischen Hintergrund hatten. Komponisten wie Heinrich Schutz , Johann Hermann Schein , Samuel Scheidt , Georg Philipp Telemann , Georg Friedrich Handel , Johann Sebastian Bach , Johannes Brahms und Felix Mendelssohn Bartholdy schufen Hohepunkte der weltlichen und geistlichen Musik. Die Maler Albrecht Durer , Lucas Cranach d. A. und Lucas Cranach d. J. schlossen sich der Reformation an. Rembrandt , Frans Hals , Vincent van Gogh u. a. entstammten dem niederlandischen Protestantismus. Protestantisches Denken und Glauben inspirierte bis in die Gegenwart große Schriftsteller wie William Shakespeare , John Milton , John Bunyan , Friedrich Gottlieb Klopstock , Johann Gottfried Herder , Nathaniel Hawthorne , Jeremias Gotthelf , Conrad Ferdinand Meyer , Samuel Taylor Coleridge , William Wordsworth , Hans-Christian Andersen , Jane Austen , Emily Bronte , Charles Dickens , Wilhelm Raabe , Theodor Fontane , Selma Lagerlof , Agatha Christie , William Faulkner , Thomas Mann , Friedrich Durrenmatt , John Updike , Sibylle Lewitscharoff u. v. a. m. [51]

Verbreitung [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Europa [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Weltweit [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Siehe auch [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Verwandte Bewegungen

Sonstiges

Literatur [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Weblinks [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Wikibooks: Protestantismus  ? Lern- und Lehrmaterialien

Einzelnachweise [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

  1. Global Christianity : A Report on the Size and Distribution of the World’s Christian Population. (pdf; 12 MB) In: Pew Forum on Religion & Public Life . Dezember 2011, S. 27 , archiviert vom Original am 4. September 2018 ; abgerufen am 8. Mai 2019 (englisch).
  2. Christianity 2015: Religious Diversity and Personal Contact. In: gordonconwell.edu. Januar 2015, archiviert vom Original am 25. Mai 2017 ; abgerufen am 29. Mai 2015 .
  3. Hans J. Hillerbrand: Encyclopedia of Protestantism: 4-volume Set . Routledge, 2004, ISBN 978-1-135-96028-5 ( google.com ).
  4. a b Ernst Wolf:  Protestantismus . In: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 3. Auflage. Band 5, Mohr-Siebeck, Tubingen 1961, Sp. 648.
  5. evangelical . Merriam-Webster , abgerufen am 21. Januar 2018 (englisch).
  6. Hermann Fischer: Protestantismus I . In: TRE . Band   27 . Berlin/ New York 1997, S.   543 .
  7. Kurt Nowak: Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklarung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts . Munchen 1995, S.   79 .
  8. Kurt Nowak: Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklarung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts . Munchen 1995, S.   77–80 .
  9. Jan Rohls: Protestantische Theologie der Neuzeit I. Die Voraussetzungen und das 19. Jahrhundert . Tubingen 1997, S.   386–387 .
  10. Jan Rohls: Protestantische Theologie der Neuzeit I. Die Voraussetzungen und das 19. Jahrhundert . Tubingen 1997, S.   387–389 .
  11. Kurt Nowak: Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklarung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts . Munchen 1995, S.   99–100 .
  12. Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie . Band   V . Gutersloh 1954, S.   184 .
  13. Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie . Band   V . Gutersloh 1954, S.   178–185 .
  14. Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie . Band   V . Gutersloh 1954, S.   185–196 .
  15. Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie . Band   V . Gutersloh 1954, S.   193 .
  16. Georg Jellinek: Die Erklarung der Menschen- und Burgerrechte . 4. Auflage. Leipzig/Munchen 1927, S.   42–50 .
  17. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen . Tubingen 1912, S.   912–914 .
  18. Jan Rohls: Protestantische Theologie der Neuzeit II. Das 20. Jahrhundert . Tubingen 1997, S.   124–125 .
  19. Bereits in der Dissertation: Ernst Troeltsch: Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Melanchthon ; 1891; KGA 1, 204?206; als grundlegende These in: Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche der Neuzeit ; 1906, 2. erweiterte Aufl. 1909; KGA 7; de Gruyter, Berlin 2004. Entsprechende Erlauterungen von Volker Drehsen und Christian Albrecht in der Einfuhrung zu diesem Band.
  20. Karl Barth: Die Theologie der reformierten Bekenntnisschriften (1923) . In: Ernst Busch (Hrsg.): Karl Barth Gesamtausgabe . Band   II.30 . Zurich 1998, S.   321–326 .
  21. Karl Barth: Das erste Gebot als theologisches Axiom (1933) . In: Karl Barth Gesamtausgabe . Band   III.6 . Zurich 2013, S.   234 .
  22. Karl Barth: Das erste Gebot als theologisches Axiom (1933) . In: Karl Barth Gesamtausgabe . Band   III.6 . Zurich 2013, S.   240 .
  23. Paul Tillich: Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip . In: GW . Band   VII . Stuttgart 1962, S.   29–53 .
  24. Paul Tillich: Die bleibende Bedeutung der katholischen Kirche fur den Protestantismus . In: GW . Band   VII . Stuttgart 1962, S.   124–132 .
  25. Jorg Lauster: Der ewige Protest. Reformation als Prinzip . Munchen 2017.
  26. Jorg Lauster: Der ewige Protest. Reformation als Prinzip . Munchen 2017, S.   61 .
  27. Peter Blickle : Die Reformation im Reich. 2. Auflage. UTB 1181, Eugen Ulmer, Stuttgart 1992, ISBN 3-8001-2626-5 , S. 44.
  28. Karl Heussi : Kompendium der Kirchengeschichte. 11. Auflage. Mohr Siebeck , Tubingen 1956, S. 386, 439.
  29. Karl Heussi: Kompendium der Kirchengeschichte. 11. Auflage. Mohr Siebeck, Tubingen 1956, S. 319.
  30. Allen Weinstein, David Rubel: The Story of America: Freedom and Crisis from Settlement to Superpower. Agincourt Press, 2002, S. 52 ff.
    Robert Middlekauff: The Glorious Cause: The American Revolution 1763?1789. 2. Auflage. Oxford University Press, 2002, S. 30 ff.
  31. Karl Kupisch:  Frankfurter Parlament . In: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 3. Auflage. Band 2, Mohr-Siebeck, Tubingen 1958, Sp. 1024?1028.
  32. Karl Heussi: Kompendium. 1956, S. 325.
  33. Otto Weber:  Calvin . In: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 3. Auflage. Band 1, Mohr-Siebeck, Tubingen 1957, Sp. 1596.
  34. Georg Sußmann:  Naturwissenschaft und Christentum . In: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 3. Auflage. Band 4, Mohr-Siebeck, Tubingen 1960, Sp. 1377?1382.
    C. Graf von Klinckowstroem:  Technik. Geschichtlich . In: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 3. Auflage. Band 4, Mohr-Siebeck, Tubingen 1960, Sp. 664?667.
  35. I. Bernard Cohen (Hrsg.): Puritanism and the Rise of Modern Science: the Merton Thesis . Rutgers University Press, 1990, ISBN 0-8135-1530-0 .
  36. Piotr Sztomka: Robert Merton. In: George Ritzer (Hrsg.): Blackwell Companion to Major Contermporary Social Theorists . Blackwell Publishing, 2003, ISBN 1-4051-0595-X .
  37. Jeremy Waldron: God, Locke, and Equality: Christian Foundations in Locke’s Political Thought. Cambridge University Press, 2002, S. 15ff.
  38. Nach 1814 wurden unter anderem die Schriften von Descartes , Spinoza , Locke , Bayle , Voltaire , Rousseau , Friedrich II. , Lessing , Immanuel Kant , Leopold von Ranke und Hippolyte Taine auf den Index Librorum Prohibitorum (Verzeichnis der verbotenen Bucher) gesetzt. Karl Heussi: Kompendium , 1956, S. 444.
  39. Max Weber : Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus.
  40. D. Cantoni: The Economic Effects of the Protestant Reformation: Testing the Weber Hypothesis in the German Lands . Forthcoming, Journal of the European Economic Association (pdf).
  41. Gerhard Lenski: The Religious Factor: A Sociological Study of Religion’s Impact on Politics, Economics, and Family Life. Garden City, N.Y., uberarbeitete Auflage 1963, S. 356?359.
  42. Eduard Heimann:  Kapitalismus . In: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 3. Auflage. Band 3, Mohr-Siebeck, Tubingen 1959, Sp. 1136?1141.
  43. Heinrich Bornkamm Toleranz. In der Geschichte des Christentums . In: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 3. Auflage. Band 6, Mohr-Siebeck, Tubingen 1962, Sp. 937?938.
  44. Heinrich Bornkamm:  Toleranz. In der Geschichte des Christentums . In: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 3. Auflage. Band 6, Mohr-Siebeck, Tubingen 1962, Sp. 942.
  45. Karl Heussi: Kompendium. 1956, S. 397.
  46. Karl Heussi: Kompendium der Kirchengeschichte. 1956, 11. Auflage, S. 403, 424?425.
  47. Martin Elze: Die Evangelisch-Lutherische Kirche. In: Ulrich Wagner (Hrsg.): Geschichte der Stadt Wurzburg. 4 Bande, Band I-III/2, Theiss, Stuttgart 2001?2007; III/1?2: Vom Ubergang an Bayern bis zum 21. Jahrhundert. 2007, ISBN 978-3-8062-1478-9 , S. 482?494 und 1305 f., hier: S. 486 f.
  48. J. M. Back:  Genossenschaften im Wirtschaftsleben . In: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 3. Auflage. Band 3, Mohr-Siebeck, Tubingen 1959, Sp. 1387?1388.
    Wilhelm Dietrich: Genossenschaften, Landwirtschaftliche. In: Evangelisches Soziallexikon, 3. Auflage. Kreuz-Verlag, Stuttgart, Sp. 411?412.
  49. S. Wendt:  Wohlfahrtsstaat . In: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 3. Auflage. Band 6, Mohr-Siebeck, Tubingen 1962, Sp. 1796?1798.
  50. R. Pfister:  Schweiz. Seit der Reformation . In: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 3. Auflage. Band 5, Mohr-Siebeck, Tubingen 1961, Sp. 1614?1615.
  51. Karl Heussi: Kompendium. Berlin 1956, S. 319.