Vertreibung
ist eine mit
Gewalt
oder deren Androhung
erzwungene Migration
zumeist
religioser
oder
ethnischer Minderheiten
, die genotigt werden, ihre angestammte Herkunftsregion zu verlassen. Darunter fallen erzwungene, dauerhafte
Flucht
,
Ausweisung
und erzwungene
Umsiedlung
aus einem
Staat
oder bei dessen Neu- bzw. Umbildung. Das unterscheidet sie von der
Deportation
, die Zwangsumsiedlungen innerhalb eines Herrschaftsbereichs bezeichnet. Die Abgrenzung zu anderen Formen der
Migration
ist oft schwierig.
Der Begriff der Vertreibung ist weder juristisch noch historisch klar und unmissverstandlich definiert. Er war lange Zeit ein politischer Kampfbegriff und ist immer noch ein
Terminus
der politischen Sprache.
Philipp Ther
pladiert fur folgende Definition:
Deportation
unterscheidet sich nach Ther von Vertreibung dadurch, dass eine spatere Ruckkehr nicht ausgeschlossen ist. Außerdem findet sie immer innerhalb des Herrschaftsgebietes eines Staates statt.
[2]
Der Geograph
Peter Meusburger
setzt Vertreibung mit
ethnischer Sauberung
gleich und definiert sie als ?mit Gewalt oder sonstigen Zwangsmitteln bewirkte Aussiedlung der
Bevolkerung
aus ihrer
Heimat
uber die Grenzen des vertreibenden Staates hinweg“.
[3]
Die Historiker
Stefan Troebst
und K. Erik Franzen definieren
Vertreibung
?als mit der Anwendung oder zumindest mit der Androhung von Gewalt verbundene erzwungene Bevolkerungsbewegung von Menschen (zumeist von
religiosen
oder
ethnischen Minderheiten
, →
nationale Minderheit
), die zum Verlassen ihrer Herkunftsregion gezwungen sind.“ Hierunter subsumieren sie auch Flucht, sofern sie dauerhaft erfolge und durch Gewalt oder deren Androhung erzwungen werde, und die
Ausweisung
oder
Umsiedlung
einer
Bevolkerungsgruppe
bzw. -minderheit aus einem Staat.
[4]
Knapper definiert der Migrationsforscher
Jochen Oltmer
: Vertreibung sei eine ?raumliche Mobilisierung durch Gewalt ohne Maßnahmen zur Wiederansiedlung“.
[5]
Daruber hinaus werden zahlreiche Begriffe verwendet, die bestimmte
Konnotationen
haben:
- Vertreibung
beinhaltet erzwungenes Verlassen eines Ortes oder Gebiets aufgrund von Ausweisung oder (staatlicher) Verfolgung. Da es neben massiver Verfolgung politische und gesellschaftliche
Diskriminierungen
oder rein okonomisch begrundeten Druck unterschiedlichsten Grades gegeben hat und gibt, ist es ohne Nachweis einer Ausweisung oder Gewaltandrohung oft schwer, Vertreibung gegenuber freiwilliger Auswanderung oder auch freiwilligem großraumigem Ortswechsel innerhalb eines Staates abzugrenzen. In der Forschung besteht kein Konsens, wie Flucht und Zwangsmigration voneinander trennscharf abzugrenzen waren.
[6]
- Ausweisung ist ein
Verwaltungsakt
mit dem Ziel, die Anwesenheit des Betroffenen in einem Land zu beenden und ihm Wiedereinreise und weiteren Aufenthalt zu verwehren. Ausweisungen stellen grundsatzlich Interessen eines Staates oder einer
Gemeinschaft
uber das Wohl des Ausgewiesenen.
- Abschiebung
ist der behordliche Vollzug einer in einem
rechtsstaatlichen
Verfahren festgestellten Ausreisepflicht (Ausweisung).
- Bei einer
Flucht
verlassen Menschen ihre
Heimat
nicht auf behordliche Anordnung, sondern um einer ? moglicherweise lebensbedrohenden ? Gefahr zu entgehen. Sie werden nicht unmittelbar zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen, sondern mittelbar. Falls Fluchtlingen oder Ausgewiesenen die Ruckkehr in ihre Heimat verwehrt wird, unterscheidet sich ihre Lage nicht mehr von der Lage von Vertriebenen. Haufig wird der Begriff zusammen ? in der Formulierung ?Flucht und Vertreibung“ ? verwendet.
- Ethnische Sauberung
etablierte sich mit der Weiterentwicklung des
Volkerstrafrechts
bei Juristen und Historikern (und spater auch in Medien und der Offentlichkeit) als Begriff fur Maßnahmen, die das Ziel haben, Bevolkerungsgruppen zu entfernen, die der Vorstellung der Behorden oder einer machtigen Bevolkerungsgruppe von der sprachlichen oder kulturellen Zusammensetzung ihres
Gemeinwesens
widersprechen. Von den Methoden ist der
Genozid
mit Abstand die verbrecherischste, die Vertreibung aber auch hochgradig
inhuman
.
- Staatlich erzwungene
Umsiedlung
hat in
Imperien
auch haufig dem Zweck gedient, verschiedene Bevolkerungsgruppen zu mischen, um dadurch
separatistischen
Aktivitaten vorzubeugen.
- Neben vorrangig staatspolitisch motivierten Vertreibungen gab und gibt es auch immer wieder vorrangig wirtschaftlich motivierte im Rahmen großraumiger Anderungen der Flachennutzung. Beispiele sind große
Staudammprojekte
, in jungerer Zeit etwa in der
Volksrepublik China
und in der
Turkei
,
Tagebaue
(etwa Ostdeutschland oder die
Ville
) sowie die Anlage von Großfarmen in Gebieten mit bisher traditionellen Wirtschaftsformen, etwa in
Indonesien
. Langst nicht immer sind die Behorden willens und in der Lage, Einwohnern, die diesen Projekten weichen mussen, angemessene Entschadigungen und attraktive neue Siedlungsgebiete zur Verfugung zu stellen.
Flucht
ist das ungeordnete, teilweise panische Zuruckweichen vor einem Feind, Angreifer, einer Gefahr oder einer Katastrophe. Haufig werden beide Begriffe zusammen ? in der Formulierung ?Flucht und Vertreibung“ ? verwendet. In
Deutschland
und
Osterreich
verbindet man den Begriff ?Vertreibung“ im Alltagsverstandnis vor allem mit der Flucht, Ausweisung und Zwangsumsiedlung von Deutschen aus den
Ostgebieten des Deutschen Reiches
sowie aus dem
Sudetenland
, die nach dem
Zweiten Weltkrieg
im Ergebnis alliierter Ubereinkunft unter die Verwaltung der
Volksrepublik Polen
und der
Sowjetunion
gefallen waren beziehungsweise wieder Teil der
Tschechoslowakei
wurden.
In der
Sowjetischen Besatzungszone
und in der
DDR
war ?
Umsiedler
“ die offizielle Bezeichnung. Der Begriff ?Vertriebene“ wurde vermieden.
Als
Babylonisches Exil
wird die Epoche der Geschichte Israels bezeichnet, die 598 v. Chr. mit der Eroberung Jerusalems durch den babylonischen Konig
Nebukadnezar II.
begann und bis zur Eroberung
Babylons
539 v. Chr. durch den Perserkonig
Kyros II.
dauerte. Ein Großteil der Bevolkerung, vor allem die Oberschicht, wurde nach Babylon
exiliert
oder
deportiert
und dort zwangsangesiedelt.
Zu den bekanntesten Vertreibungen im
Romischen Reich
gehort die Vertreibung der
Juden
aus
Palaestina
nach der Niederschlagung des
Bar-Kochba-Aufstandes
von 132 bis 135 n. Chr.
- Vertreibung von Juden durch
Pogrome
in zahlreichen Landern sowie von anderen religiosen oder ethnischen Minderheiten,
Hugenotten
,
Katharern
, von der Kirche sogenannten
Ketzern
(
Waldenser
, Katharer u. a.), von
Muslimen
in den von
Kreuzzugen
betroffenen Gebieten etc.; oft waren diese Vertreibungen mit
Massenmorden
verbunden.
- Karl der Große
(747/748?814):
- Umsiedlung von
Friesen
ins Binnenland zu deren besserer Kontrolle
- Vertreibung der
Sachsen
aus Ostholstein um 811, als er dieses den bei der Unterwerfung der Sachsen verbundeten slawischen
Wagriern
uberließ.
- Friedrich I.
, genannt ?Barbarossa“:
- 1162 Vertreibung der Einwohner
Mailands
aus ihrer Stadt, die sie lange Jahre nicht betreten und wieder aufbauen durften.
- Vertreibung und
Volkermord
an
indigenen Volkern
wahrend der Besiedlung
Amerikas
und
Australiens
und danach, teilweise bis in die jungere Vergangenheit. Viele Indianervolker wurden dauerhaft in
Reservate
deportiert.
- Spanien
:
- Osterreich
:
- 16. Jahrhundert: Totung und Vertreibung tausender
Hutterer
(Anhanger von
Jakob Hutter
) sowie weiterer
Taufer
und
Protestanten
. 1540 wurden ungefahr 80 mannliche Hutterer, die ihrem Glauben und gemeinschaftlichen Leben abzusagen nicht bereit waren, in ihrer Siedlung bei Steinabrunn in
Niederosterreich
verhaftet, spater gefoltert und getrennt von ihren Familien lebenslang als Rudersklaven auf den kaiserlichen Galeeren verurteilt. Kaiser
Ferdinand II.
(1619?1637) erklarte, ?lieber uber eine Wuste als uber ein ketzerisches Land herrschen zu wollen.“ Nach der Niederlage der evangelischen Stande
Bohmens
in der
Schlacht am Weißen Berg
(1620) wurden Tausende zur Auswanderung aus den tschechischsprachigen
Kronlandern
gezwungen, darunter
Jan Amos Komensky
(Philosoph, Erzieher und Bischof der
Bruder-Unitat
).
- Erst Kaiser
Joseph II.
gewahrte durch das
Toleranzpatent
vom 13. Oktober 1781 den Vertretern des
Augsburger
und
Helvetischen Bekenntnisses
(Lutheranern und Reformierten) sowie den nichtunierten Griechen (
Orthodoxe
) ohne Rucksicht auf den bisherigen Rechtsstand ein ihrer Religion gemaßes Privatexercitium und gewisse burgerliche Rechte, die auf beschrankte burgerliche Gleichberechtigung mit den
Katholiken
hinausliefen und somit vor Vertreibung schutzten. Trotz des 1781 durch den
romisch-deutschen Kaiser
erlassenen Toleranzpatentes fur die Evangelischen wurden beispielsweise 1834 noch 440 Zillertaler aus
Tirol
ausgewiesen.
- Nordamerika
:
- Schottland
: Seit etwa 1780 wurden wahrend der
Highland Clearances
etwa 500.000 großenteils
Galisch
sprechende Einwohner aus dem
schottischen Hochland
vertrieben, in manchen Gegenden uber 90 % der Bevolkerung. Die vordergrundig wirtschaftlich begrundete Maßnahme (lukrative extensive Schafzucht) erfullte auch einen politischen Zweck, da die Highlander an mehreren Aufstanden gegen die englische Krone teilgenommen hatten.
- Irland
: Wahrend der
Großen Hungersnot in Irland
1845?1849 wurden Zehntausende irische Bauern vertrieben, weil sie die Pacht fur ihr Land nicht aufbringen konnten; ein beruchtigtes Beispiel ist der
Ballinglass Incident
.
- Russland
: Vertreibungen der 1860er-Jahre im Nordkaukasus,
Tscherkessen
und andere Volker (siehe auch
Volker und Sprachen in Russland
und
Muhacir
).
- Afrika
: Bereits vor der europaischen Kolonialherrschaft, die uberwiegend im 19. Jahrhundert begann, haben sich Volker in Afrika gegenseitig bekriegt, wobei es auch zu Vertreibungen kam; dies setzte sich wahrend und nach der Kolonialzeit fort, so zum Beispiel in
Ruanda
in den 1990er-Jahren.
- Balkan
: Muslimische Fluchtlingsbewegungen in und aus den Balkanprovinzen im
Osmanischen Reich
1814?1926 und in die
Republik Turkei
1923?1991.
- Deutsches Reich
:
Polenausweisungen
. Von Marz 1885 an wurden insgesamt 32.000
Polen
mit ungeklarter, russischer oder osterreichischer Staatsangehorigkeit aus Ostdeutschland ausgewiesen, obwohl sie dort zum Teil seit Generationen gelebt hatten. Die Aktion, die selbst in konservativen Kreisen als ?unklug und nutzlos grausam“ kritisiert wurde, hatte eine antisemitische Spitze: Mehr als ein Viertel der Betroffenen waren Juden.
[7]
Die Vertreibung eines großen Teils der
judischen Deutschen
durch immer weitergehende Formen der Entrechtung und Verfolgung seit der
Machtubernahme
der
Nationalsozialisten
1933 war ein erster Schritt zur ?
Endlosung der Judenfrage
“ bzw. dem
Holocaust
ab 1941; dabei wird sowohl von dem individuellen Erleben aus Sicht der Opfer (Zwang zum Gang ins
Exil
) gesprochen wie auch von einer Vertreibung ganzer Gruppen von
Intellektuellen
, Kunstlern (z. B. Filmschaffende oder ?
Verstummte Stimmen
? die Vertreibung der ?Juden‘ aus der Oper 1933 bis 1945“ (
Wanderausstellung
)), Medizinern oder Juristen und anderen durch Gesetzgebung und Maßnahmen im Geschaftsleben oder privaten Umfeld.
1939 vereinbarten
Adolf Hitler
und
Benito Mussolini
die Umsiedlung der Sudtiroler, die so genannte
Option
. Dabei wurden Sudtiroler gezwungen, zwischen der Aufgabe ihrer Heimat und der Aufgabe ihrer deutschen Sprache und Kultur zu wahlen. Wer sein
Volkstum
behalten wollte, musste
Sudtirol
verlassen. Unter dem Eindruck der intensiven
Propaganda
der beiden
Diktatoren
entschieden sich rund 86 Prozent fur das Verlassen der Heimat. Etwa 75.000 haben Sudtirol dann tatsachlich verlassen,
[10]
wenig mehr als 20.000 kehrten nach Kriegsende zuruck;
[11]
Zwischen Hitler und Mussolini wurde 1939 ebenfalls vereinbart, im Rahmen der beabsichtigten Aufteilung
Jugoslawiens
in deutsche und italienische Interessensspharen die
Gottscheer
aus ihrer seit 600 Jahren besiedelten Heimat im Suden des heutigen
Sloweniens
auszusiedeln. Unter erheblichem propagandistischen Druck entschieden sich nach der Besetzung Jugoslawiens 1941 12.000 der 13.000 Gottscheer fur die Option der Umsiedlung in das ?Ranner Dreieck“ genannte Gebiet der
Untersteiermark
sudlich der
Save
um
Bre?ice
.
Zu den Maßnahmen nationalsozialistischer Rassen-, Großraum-, Siedlungs- und Bevolkerungspolitik gehorten groß angelegte Planungen und Umsiedlungsprojekte im Vorfeld und wahrend des
Krieges gegen die Sowjetunion
. Dabei kam es zu brutalen Vertreibungen,
Deportationen
, Massakern und Verpflichtung zur Zwangsarbeit auch in anderen Gebieten, insbesondere nach dem
deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt
. In diesem Zusammenhang steht die von
Hitler
und
Stalin
1939 vereinbarte Aussiedlung von
Deutsch-Balten
aus
Estland
und
Lettland
sowie von
Bessarabiendeutschen
; die meisten von ihnen wurden in polnischen Gebieten (sudliches Westpreußen, Posener Land oder
Warthegau
, vereinzelt auch in anderen Teilen Polens) angesiedelt.
Die
Deportationen in der UdSSR
, unter anderem 1940 im
Baltikum
sowie die Auflosung der
Wolgarepublik
der deutschen Minderheit als ein ethnischer Risikotrager und die Aussiedlung ihrer Bewohner nach
Kasachstan
und in andere Teile der
Sowjetunion
nach dem deutschen Angriff 1941 geschahen gleichzeitig mit der deutschen Zwangsbesiedlung von zuvor ganz oder teilweise polnischen Gebieten, nachdem 1941 rund 650.000 Polen aus Westpolen und
Westpreußen
in das so genannte
Generalgouvernement
vertrieben worden waren. Eine weitere Vertreibungsaktion betraf 110.000 Polen im Raum der sudostpolnischen Stadt
Zamo??
, die
Aktion Zamo??
.
[12]
Zustandig fur die Vertreibung der Polen und
Juden
war auf deutscher Seite die
Umwandererzentralstelle
(?Amt fur Aussiedlung von Polen und Juden“), fur die Verwertung des zuruckgelassenen Vermogens die
Haupttreuhandstelle Ost
bzw. die ?Treuhandstelle fur das Generalgouvernement“ und fur die Neuansiedlung der
Volksdeutschen
unter dem Propagandabegriff ?
Heim ins Reich
“ die
Volksdeutsche Mittelstelle
.
Der
Generalplan Ost
, Grundlage der Maßnahmen in Polen, war das 1941 und 1942 vom
Reichssicherheitshauptamt
(RSHA) ausgearbeitete Vorhaben, nach der Vernichtung der europaischen Juden weitere von den Nationalsozialisten als ?minderwertig“ bezeichnete
Rassen
(vor allem
slawische Volker
) langsam nach Ostrussland und
Sibirien
zu vertreiben, unter der Voraussetzung eines Sieges gegen die Sowjetunion. Im
Prozess Rasse- und Siedlungshauptamt der SS
von 1948, dem achten der zwolf
Nurnberger Nachfolgeprozesse
vor einem
amerikanischen
Militargericht
, wurden diese Vertreibungen als
Kriegsverbrechen
und
Verbrechen gegen die Menschlichkeit
bewertet und geahndet. Auch die Neuansiedlungen wurden als Verstoß gegen die
Haager Landkriegsordnung
bestraft (vgl.
Vertreibung und Volkerrecht
).
Am 21. Juni 1945 begannen in einem 50 bis 200 Kilometer breiten Gebiet ostlich von Oder und Neisse wegen der massenhaften Ruckkehr der Kriegsfluchtlinge aus der
Sowjetischen Besatzungszone
(SBZ), und um fur die
Potsdamer Konferenz
der Siegermachte vollendete Tatsachen zu schaffen, die dort stationierten Truppen der
Polnischen Volksarmee
mit der gewaltsamen ?Aussiedlung“ der ?echten“ Deutschen per Fußmarsch in die SBZ.
[13]
Im August 1945 einigten sich die Teilnehmer der Potsdamer Konferenz auf die
Ausweisung
der Deutschen aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn in Form einer ?Uberfuhrung … in ordnungsgemaßer und humaner Weise“. Im offentlichen und behordlichen Sprachgebrauch war dies auch die Bezeichnung fur die Zwangsaussiedlung von Deutschen. In den
Westzonen
wurde aufgrund der Ausweitung dieser Ausweisungen auf Volksdeutsche aus Rumanien, Jugoslawien und Sowjetunion die Maßnahmen scharf kritisiert und im offentlichen Sprachgebrauch etablierten sich die Begriffe
Austreibung
und
Vertreibung
.
[14]
In der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs und nach dessen Ende wurden 12 bis 14 Millionen Deutsche aus den
Ostgebieten des Deutschen Reiches
sowie deutschsprachige Bewohner aus
Ostmittel-
,
Ost-
und
Sudosteuropa
vertrieben. Diese Vertreibungen waren eine Folge der
nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft und
Kriegsverbrechen
wahrend der
Zeit des Nationalsozialismus
. Anders als im
Potsdamer Abkommen
, das die drei Siegermachte
USA
,
Sowjetunion
und
Großbritannien
am 2. August 1945 abgeschlossen hatten, vorgesehen, verlief die Vertreibung weder geordnet noch in humaner Weise: Sie ging einher mit Plunderungen, Zwangsarbeit und Totungen, bei denen bis zu 2,5 Millionen Deutsche ums Leben kamen. Die Opferzahlen sind stark umstritten. Die Vertriebenen siedelten sich zum großten Teil in der Bundesrepublik Deutschland an, wo sie als
Heimatvertriebene
anerkannt wurden. Sie grundeten eine eigene Partei, den
Gesamtdeutschen Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten
, der bis in die 1960er-Jahre aktiv war. Die
Integration
der Vertriebenen stellte die junge Bundesrepublik vor große Herausforderungen.
Weitere Vertreibungen wahrend und nach dem Zweiten Weltkrieg
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Ungefahr gleichzeitig mit der Vertreibung von Deutschen aus Teilen Osteuropas, besonders aus den ostlichen Gebieten des Reiches, fanden in Ostmitteleuropa weitere Vertreibungen beziehungsweise ethnische Sauberungen statt, etwa zwischen Polen und der
sowjetischen Ukraine
, von in der Slowakei lebenden Ungarn und andere.
- Die Vertreibungen in
Finnland
/
Karelien
. Anfang der 1940er-Jahre wurden die finnischen Karelier gleich zweimal vertrieben. Nach der Niederlage Finnlands im sowjetisch-finnischen
Winterkrieg
wurden insgesamt 400.000 teils von der finnischen Regierung aus dem grenznahen Gebiet evakuiert, zum großeren Teil von der Roten Armee vertrieben. Nach dem
Uberfall auf die Sowjetunion
1941 kehrten etwa 70 % von ihnen zuruck. Sie wurden 1944 im Zuge der Wiedereroberung Kareliens durch die Sowjetunion erneut vertrieben. Die Vertreibung der Karelier wurde auch nicht symbolisch wiedergutgemacht; Karelien ist bis heute zwischen Russland und Finnland aufgeteilt.
[15]
- Die erzwungene Umsiedlung von Volkern in der
Sowjetunion
, die als politisch unzuverlassig angesehen wurden, durch
Josef Stalins
Regierung vor allem in der ersten Halfte der 1940er-Jahre. Hierzu gehort die Deportation der
Wolgadeutschen
, Tschetschenen, Inguschen,
Krimtataren
,
Ingermanlander Finnen
,
Mescheten
, Koreaner (
Korjo-Saram
),
Pontos-Griechen
,
Kurden
sowie vieler Esten, Letten, Litauer und Ukrainer. Alle diese Volker wurden innerhalb des sowjetischen Machtbereichs deportiert. Den Krimtataren gelang Ende der 1980er-Jahre die Rehabilitierung, ein großer Teil ist auf die Krim zuruckgekehrt. Die polnische
Volksgruppe
in Litauen, im westlichen Weißrussland und in der Westukraine (in der deutschen Literatur oft ungenau als ?
Ostpolen
“ bezeichnet) wurde teilweise nach Osten (Zentralasien) deportiert, teilweise 1945/46 nach Westen (Polen) vertrieben, teilweise konnte sie auch in ihrer Heimat verbleiben. Die Wolgadeutschen siedelten zum großten Teil von ihren zugewiesenen Wohnorten in Sibirien und Zentralasien seit den 1980er-Jahren als Aussiedler beziehungsweise
Spataussiedler
nach Deutschland aus.
- Griechische
Truppen vertrieben 1944 einen Großteil der
Camen
(
Albaner
) kollektiv nach Albanien, wobei es nach albanischen Darstellungen zu vielen Opfern unter der Bevolkerung kam.
- Die Umsiedlung bzw. Vertreibung von etwa 1,2 Millionen Polen von 1944 bis 1946 aus den der Sowjetunion angeschlossenen polnischen Ostprovinzen von 1919/20 bis 1939 nach Polen und in die nach dem Krieg
de facto
Polen angeschlossenen deutschen Ostgebiete.
- Umsiedlung von ca. 150.000
Ukrainern
aus Sudostpolen in die vormals
deutschen Gebiete im Nordwesten Polens
, in der ?Aktion Weichsel“.
- Nach der
Kapitulation Japans
am 2. September 1945 wurden 6,5 Millionen
Japaner
aus den
wahrend des Weltkriegs eroberten Gebieten
sowie aus der ehemaligen
Prafektur Karafuto
auf
Sachalin
zwangsweise repatriiert.
[16]
- Julisch Venetien
(
Istrien
, Fiume/
Rijeka
und
Dalmatien
): Zwischen 1943 und 1954 wurden Zehntausende ethnische
Italiener
aus Julisch Venetien vertrieben und enteignet. Uber die Zahl der Betroffenen existieren verschiedene Angaben von ca. 200.000 bis 350.000.
[17]
Zwischen 5.000 und 21.000 fielen den
Foibe-Massakern
zum Opfer.
[18]
Seit 2005 wird in Italien jahrlich am 10. Februar ein Gedenktag abgehalten, um der Opfer der Foibe-Massaker sowie der Esuli (Vertriebenen) zu gedenken. Gemaß dem
Vertrag von Rom (1983)
verpflichtete sich das ehemalige Jugoslawien dazu, 110 Millionen US-Dollar an Entschadigungszahlungen fur die italienischen Fluchtlinge und ihre zuruckgebliebenen Besitztumer zu leisten. Davon wurden bis 1991 etwa 17 Millionen ausbezahlt. Die Nachfolgestaaten Slowenien und Kroatien einigten sich, die Restschuld in Hohe von 93 Mio. untereinander zu verteilen in einem Verhaltnis von 60 zu 40. Slowenien hat also zirka 56 Mio. Verbindlichkeiten, Kroatien 37 Mio. ubernommen. Slowenien hat seinen Anteil bereits 2002 auf ein Konto der Dresdner Bank in Luxemburg eingezahlt. Die italienische Regierung hat sich aber geweigert, diese Zahlung als rechtmaßig anzuerkennen. Kroatien hat seinerseits angeboten, die eigene Schuld zu begleichen.
- Slowakei
: Im Suden der Slowakei lebten bis 1945 rund 720.000 ethnische Ungarn (
Magyaren
). Sie wurden 1945 wie die Sudeten- und
Karpatendeutschen
durch die
Bene?-Dekrete
enteignet. Etwa 30.000 Ungarn haben unmittelbar nach dem Krieg die
Tschechoslowakei
verlassen. Im Rahmen des Bevolkerungsaustausches sind 73.000 Slowaken aus Ungarn in die Tschechoslowakei und etwa 70.000 bis 90.000 Ungarn aus slowakischen Gebieten teilweise in Dorfer gezogen, wo fruher
Donauschwaben
gelebt hatten. Die Umsiedlung der Slowaken ist auf freiwilliger Basis gelaufen, die Ungarn wurden großtenteils unfreiwillig umgesiedelt. Die Ungarn in der Slowakei haben von 1945 bis Anfang der 1950er-Jahre in einem rechtlosen Rahmen gelebt, einige Tausend bis Zehntausend sind unfreiwillig in Gebiete umgesiedelt worden, die im Sudetenland von Deutschen verlassen werden mussten. Heute leben um die 500.000 Ungarn in der Slowakei. Die Bene?-Dekrete sind in den ungarisch-slowakischen Beziehungen nach wie vor umstritten.
- Indien
: Bei Erreichen der Unabhangigkeit von
Großbritannien
1947/48 und der Etablierung von
Pakistan
und der Indischen Union wurden Millionen
Sikhs
,
Hindus
und
Muslime
aus den mehrheitlich von Angehorigen der anderen Religionsgemeinschaft besiedelten Gebieten vertrieben. Dieser brutale ?Bevolkerungsaustausch“ betraf zwischen 14 und 15 Millionen Menschen. Etwas uber sieben Millionen Muslime wurden von Indien nach Pakistan vertrieben, eine etwa gleich große Zahl Sikhs und Hindus aus Pakistan nach Indien.
- Im
Palastinakrieg
(1948/49) fluchteten 472.000 bis 650.000
Palastinenser
[19]
aus ihren Wohnorten oder wurden vertrieben. Es ist unklar, in welchem Anteil Fluchtlinge und Vertriebene stehen. Mehr als 850.000 Juden wurden gleichzeitig in den arabischen Staaten aus ihrer Heimat vertrieben. Die meisten von ihnen wanderten nach
Israel
aus (etwa 500.000), manche auch nach Frankreich oder in die USA. Die Mehrheit der Palastinenser ging nach Jordanien, weitere nach Libanon, Syrien und den damals agyptisch besetzten Gazastreifen. Ein weiterer wichtiger Zufluchtsort in der arabischen Welt war
Kuwait
. Eine erneute
Vertreibung der Palastinenser
fand unmittelbar nach dem
Zweiten Golfkrieg
statt, als Kuwait binnen zwei Wochen etwa 450.000 Palastinenser vertrieb.
[20]
- Im Juni 1952 und im Oktober 1961 wurden
Zwangsaussiedlungen an der innerdeutschen Grenze
durchgefuhrt.
- Chagos-Archipel
: Zwangsumsiedlung der gesamten einheimischen Bevolkerung, der
Chagossianer
, im Jahr 1971. Grund war die Verpachtung der Hauptinsel
Diego Garcia
durch Großbritannien an die
U.S. Air Force
.
- Zypern
: Nach der turkischen Intervention in Nordzypern ab dem 20. Juli 1974 wurden mehrere Tausend griechische Zyprioten in den Sudteil der Insel vertrieben.
- SFR Jugoslawien
: Die als
ethnische Sauberungen
bekannt gewordenen Vertreibungen im Laufe der
Jugoslawienkriege
von 1991 bis 1995. Bereits wahrend des Ersten Weltkrieges hatte es Vertreibungen im Gebiet des spateren Jugoslawien gegeben.
- Weitere Vertreibungen geschahen in
Afrika
. Allein infolge des seit 2003 andauernden
Darfur-Konfliktes
sind uber 2,5 Millionen Menschen vertrieben worden.
- Vertreibung der
Armenier
aus
Bergkarabach
, nach dem militarischen Sieg der aserbaidschanischen Diktatur uber das
De-facto-Regime
Republik Arzach
am 20. September 2023. (
siehe auch
:
Bergkarabachkonflikt
;
Vertreibung der Bergkarabach-Armenier
)
Vertreibungen sind
volkerrechtswidrig
. Sie wurden bereits im
Naturrecht
des 18. Jahrhunderts geachtet.
[21]
Sie verstoßen unter anderem gegen die
Haager Landkriegsordnung
von 1907, gegen das Verbot von Kollektivausweisungen, gegen das
Selbstbestimmungsrecht der Volker
und gegen das Eigentumsrecht. Vertreibungen sind oft mit Enteignungen verbunden. Doch selbst eine Vertreibung ohne Enteignung wurde das Eigentumsrecht der Vertriebenen verletzen, weil dieses Recht das Recht der Nutzung einschließt. Ein Vertriebener kann aber seine Immobilien nicht mehr nutzen.
Soweit Vertreibungen eine hinreichend klar definierte Gruppe betreffen und mit der Absicht durchgefuhrt werden, diese Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstoren, erfullen sie außerdem den Tatbestand des
Volkermordes
im Sinne der
UN
-Konvention von 1948.
Das Statut des
Internationalen Strafgerichtshofes
definiert Vertreibung als
Verbrechen gegen die Menschlichkeit
.
[22]
In einem Gutachten, das 1991 im Auftrag der Bayerischen Staatsregierung erstellt wurde, beurteilte der UN-Volkerrechtsberater
Felix Ermacora
die Vertreibung der Sudetendeutschen als Volkermord.
[23]
[24]
Die Mehrheit der Volkerrechtler teilt Ermacors Ansichten nicht. So schreibt etwa
Christian Tomuschat
, es konne ?trotz der Schwere der Taten von einer gezielten Gesamtaktion des Volkermordes nicht die Rede sein.“
[25]
Die Begriffe ?Genozid“ und ?Volkermord“ wurden von Vertriebenenfunktionaren ?als moralische Waffen (statt als juristisch-politische Werkzeuge)“ verwendet, um ?die qualitativen Unterschiede zwischen alliierter/tschechoslowakischer und nationalsozialistischer deutscher Politik einzuebnen“.
[26]
Auch das Untersuchungsergebnis der von der EU beauftragten Gutachter
Jochen Frowein
, Ulf Bernitz und
Christopher Lord Kingsland
, veroffentlicht am 2. Oktober 2002, unterstutzt Ermacoras Wertung nicht.
[27]
Norman M. Naimark
vertritt die Auffassung, dass die Vertreibung der Deutschen aus Polen und der Tschechoslowakei alle Elemente einer
ethnischen Sauberung
aufwiesen, aber keinen Volkermord darstellten.
[28]
Vertreibungsverluste gliedern sich in drei Kategorien:
- Verluste an Leib und Leben (vgl.
Gesamterhebung
),
- materielle Verluste und wirtschaftliche Schaden,
- ideelle und kulturelle Verluste.
Diese drei Verlustkategorien betreffen regelmaßig drei Gruppen:
- die vertriebene Bevolkerung,
- die aufnehmende Bevolkerung und
- die neu angesiedelte Bevolkerung (von deren politischer Vertretung regelmaßig die Vertreibung ausging).
Die Verluste der vertriebenen Bevolkerung liegen auf der Hand. Aber auch die aufnehmende Bevolkerung hat zumindest kurzfristig oft unter Vertreibungen zu leiden. So wurde die Hungersnot der Nachkriegszeit in Deutschland (
Hungerwinter 1946/47
) durch die erzwungene Aufnahme von Millionen Vertriebenen auch fur die einheimische Bevolkerung massiv verscharft.
Auch fur die neue Bevolkerung stellt die Vertreibung oft keinen echten Gewinn dar, da diese haufig selbst eher unfreiwillig in dieses Gebiet gekommen sind, entweder durch wirtschaftlichen Zwang oder durch Vertreibung aus anderen Gebieten. Außerdem besteht in der Neubevolkerung oft die Furcht, dass sich die vertriebene Bevolkerung das Land wieder holt, so dass wenig Neigung zu langfristiger Standortsicherung besteht.
Nach einer nicht reprasentativen
Studie
, die auf der Auswertung von 600 Berichten und Interviews der Vertriebenen- und Fluchtlingsgeneration des Zweiten Weltkrieges beruht, wurden folgende Storungen festgestellt: ?Sie leiden zum Beispiel unter Angsten, Nervositat, Schlafstorungen, Schreckhaftigkeit, Alptraumen, werden von immer wiederkehrenden Bildern schrecklicher Erlebnisse gequalt.“
[29]
Die politische Debatte uber den Vertreibungsbegriff seit 1950
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Im deutschen Sprachraum bezeichnet der Begriff in einem verengten Verstandnis meist Ausweisung und Flucht deutschsprachiger Bevolkerung aus Grenzraumen mit nichteinheitlicher Bevolkerungsgeschichte oder isolierten mehrheitlich deutschen Sprachgebieten in den ehemals deutschen Ostgebieten, Polen, dem heutigen Tschechien und anderen Staaten Osteuropas nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Der Begriff
Vertreibung
beziehungsweise
Vertriebene
setzte sich erst Ende der 1940er-Jahre durch und wurde nur in der Bundesrepublik zur offiziellen, auch gesetzlich fixierten Bezeichnung dieses Vorgangs (
Heimatvertriebene
) beziehungsweise der von ihm Betroffenen. Bis dahin wurden zwangsumgesiedelte Deutsche begrifflich nicht von der Gesamtheit der
Fluchtlinge
(siehe
Displaced Persons
) unterschieden, zuweilen auch ? wie im spaten nationalsozialistischen Sprachgebrauch ? als ?Evakuierte“ bezeichnet.
Verwendung und genaue Bedeutung des Begriffs
Vertreibung
sind in Deutschland etwa seit den spaten 1980er Jahren strittig, da die Abgrenzbarkeit zwischen (gewaltsamer) Vertreibung und (gewaltloser)
Emigration
zunehmend in Frage gestellt wurde. Von einigen Politikern und Publizisten wurde die These aufgestellt, der Begriff der Vertreibung bezeichne lediglich eine Form von Zwangsmigration und komme in der internationalen Forschung uberwiegend als deutsches
Lehnwort
(im
Englischen
expulsion
bzw.
expellees
) vor, wahrend außerhalb Deutschlands sonst eher von Deportierten oder Fluchtlingen (
refugees
) gesprochen wird. Hinzu komme die Konfrontation des
Kalten Krieges
, denn in jenen Nationen, die Flucht und Vertreibung der Deutschen ab 1944/1945 veranlasst hatten, wahle man eher verharmlosende Begriffe, etwa das tschechische Wort
Odsun
(dt. ?Abschiebung durch Abtransport“) und den Begriff
Transfer
(?Uberfuhrung“). Auch innerhalb Deutschlands sei der Begriff der Vertreibung und der Vertriebenen nicht immer selbstverstandlich gewesen. Tatsachlich herrschte anfangs der Flucht- und Fluchtlingsbegriff vor, zudem wurde in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR offiziell gezielt von ?
Umsiedlern
“ bzw. ?ehemaligen Umsiedlern“ und ?Neuburgern“ gesprochen. 1950 waren dies dort etwa 4,3 Millionen Menschen.
Eine eigenstandige Benennung dieser Gruppe als ?Vertriebene“ sei, so der Einwand, weniger durch evidente Tatsachen gerechtfertigt gewesen, sondern sie sei eher der Logik juristischer und politischer Zweckmaßigkeit geschuldet: Zum einen besaßen sie ? aufgrund ihrer deutschen Staatsangehorigkeit (bei den Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und aus dem Sudetenland) beziehungsweise als Volksdeutsche ? einen anderen Rechtsstatus als nichtdeutsche Deportierte und Fluchtlinge. Zum anderen bot die Wahl dieses Begriffes mehrere politisch und sozial erwunschte Moglichkeiten: Er schuf eine Distanz zwischen deutschen Deportierten und den von den Deutschen Deportierten ? Juden, Polen, Tschechen, Russen usw. Damit ermoglichte er in der Bundesrepublik einen Opferdiskurs, der eine tief greifende Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus erschwerte.
Einige fuhrende Vertreter der deutschen Vertriebenen, namentlich der Vorsitzende der Landsmannschaft Schlesien,
Herbert Hupka
, und der Prasident des
Bundes der Vertriebenen
,
Wenzel Jaksch
(Hupka bis nach 1970, Jaksch bis zu seinem Tode), waren
Sozialdemokraten
. Die
SPD
vertrat die Interessen der deutschen Vertriebenen bis etwa 1964 gleichermaßen wie die
CDU
und
CSU
. Insbesondere vertrat die SPD jahrelang die Uberzeugung, nicht nur die Vertreibung selbst sei ein Verbrechen gewesen, sondern die etwaige Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als neuer deutsch-polnischer Grenze ware als ein politisches Unrecht zu bewerten. In diesem Zusammenhang steht auch der spater oft zitierte Aufruf
Willy Brandts
,
Herbert Wehners
und
Erich Ollenhauers
zum Deutschlandtreffen der Schlesier im Jahre 1963: ?Verzicht ist Verrat, wer wollte das bestreiten. 100 Jahre SPD heißt vor allem 100 Jahre Kampf fur das
Selbstbestimmungsrecht der Volker
. Das
Recht auf Heimat
kann man nicht fur ein Linsengericht verhokern. Niemals darf hinter dem Rucken der aus ihrer Heimat vertriebenen oder gefluchteten Landsleute Schindluder getrieben werden!“ Diese Politik der SPD anderte sich allerdings ab etwa 1965, als die neue
Ostpolitik
entwickelt wurde. In seiner Regierungserklarung von 1969 gab Willy Brandt offen die Bereitschaft zur Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnische Grenze zu erkennen.
In den 1950er Jahren ließ sich durch die begriffliche Unterscheidung zwischen ?normalen“ Deportierten und deutschen Vertriebenen die Forderung nach Revision der
Oder-Neiße-Linie
leichter aufrechterhalten. Die Forderung nach dieser Revision diente nicht zuletzt der Integration der Vertriebenen in die
westdeutsche
Nachkriegspolitik. Es sollte verhindert werden, dass die Vertriebenen sich in noch starkerem Ausmaß Parteien zuwandten, in denen sich damals ehemalige Nationalsozialisten sammelten wie in der
SRP
, der
DP
, und dem Gesamtdeutschen Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten.
Das
Bundesverfassungsgericht
hat hingegen eine andere Rechtsauffassung vertreten: Danach wurden die Gebiete ostlich von Oder und Lausitzer Neiße weder durch die Beschlusse der Potsdamer Konferenz vom Juli/August 1945, noch durch den
Warschauer Vertrag
von 1970
volkerrechtswirksam
von
Deutschland als Ganzem
getrennt. Von diesem
staats-
und volkerrechtlichen Standpunkt aus ging es in den 1950er und 1960er Jahren nicht um deutsche Gebietsforderungen an Polen, sondern um umstrittene polnische Gebietsforderungen aus der Vergangenheit an Deutschland.
In der DDR dagegen wurden die Zwangsumgesiedelten als
Umsiedler
bezeichnet, ein gruppenspezifischer Sonderstatus im Sozialrecht wurde namentlich bei der Verteilung enteigneter Flachen bei der Bodenreform von 1946 und im ?Gesetz zur weiteren Verbesserung der Lage der ehemaligen Umsiedler in der Deutschen Demokratischen Republik“ vom 8. September 1950 fixiert, blieb jedoch im Unterschied zum langfristig angelegten Vertriebenenrecht der Bundesrepublik nur bis in die fruhen 1950er-Jahren relevant. Außerdem anerkannte die DDR bereits 1950 im
Gorlitzer Abkommen
die Oder-Neiße-Linie als ?Friedensgrenze“ zwischen der DDR und Polen. Samtliche im Bundestag vertretenen Parteien mit Ausnahme der
KPD
legten gegen diesen Akt Rechtsverwahrung ein und bezeichneten ihn als ?null und nichtig“.
Die zeitgeschichtliche Forschung differenziert zwischen aufeinander folgenden Ereignissen der Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung. Heute stellen einige Historiker das damit bezeichnete Phanomen unter den Oberbegriff
Zwangsmigration
. Dieser Sprachgebrauch lehnt sich an die Formulierung des damaligen Bundesprasidenten
Richard von Weizsacker
an, der in seiner
Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985
die Vertreibung der Deutschen als ?erzwungene Wanderschaft“ bezeichnet hatte.
Ein volliges Fallenlassen des Vertreibungsbegriffs ist aber ? angesichts seiner Verankerung im offentlichen (nicht nur deutschen) Bewusstsein ? auch aus Sicht der politischen Linken ? praktisch nicht moglich. Wunschenswerter erscheint die Einordnung des Vertreibungsbegriffs in den Gesamtzusammenhang von Zwangsumsiedlungen im 20. Jahrhundert, so wie er in jungster Zeit verstarkt vorgenommen wird. Lange Debatten um Begriffe haben die Wirkung, politisch heikle Fragen wie die nach der Zahl der Morde und Vergewaltigungen bei diesem Geschehen an den Rand der Diskussion zu drangen.
Daruber hinaus erscheint der politischen Linken der Versuch fruchtbar, Vertreibung und jede Form von Zwangsmigration im Rahmen des allgemeinen Migrationsgeschehens zu betrachten. Denn angeblich konne eine klare Trennung zwischen Zwangsumsiedlung, Flucht und ?freiwilliger“
Migration
haufig nicht vorgenommen werden.
Zum anderen zeigen neuere Untersuchungen zur Integration der Vertriebenen angeblich, dass der Umgang mit und das Verhalten von Vertriebenen mehr Parallelen als Unterschiede zu anderen Migrantengruppen aufweist. Konkrete Unterschiede, wie etwa die von den deutschen Vertriebenen bis zum heutigen Tage erhobenen Forderungen nach Aufklarung des Schicksals von mehreren Hunderttausend spurlos Vermissten, Ruckkehrrecht, Heimatrecht, Eigentumsruckgabe und Anerkennung ihres Schicksals als eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit im Sinne der Statuten des Internationalen Gerichtshofs von Nurnberg, durfen nach dieser Sichtweise nicht uber die großen Parallelen zwischen deutschen ?Zwangsmigranten“ und auslandischen Zuwanderern in Deutschland hinwegtauschen. Dennoch ? so diese Sichtweise ? werde man das Spezifikum der Zwangsmigration auch weiterhin zu berucksichtigen haben.
Die Vertreibungen der 1990er-Jahre in
Bosnien
,
Kroatien
und im
Kosovo
haben diese deutsche Diskussion wieder in den Hintergrund rucken lassen. Die Uberzeugung, dass Vertreibung und Migration zwei grundlegend unterschiedliche Dinge sind, gewann wieder die Oberhand. Verbunden damit war die Ruckkehr zum eingangs definierten Vertreibungsbegriff. So erklarte Bundeskanzler
Gerhard Schroder
in seinem Grußwort an den
Tag der Heimat
in Stuttgart vom 5. September 1999: ?Jeder Akt der Vertreibung, so unterschiedlich die historischen Hintergrunde auch sein mogen, ist ein
Verbrechen gegen die Menschlichkeit
.“
Peter Glotz
zitierte 2001
Roman Herzog
:
?Kein Unrecht, und mag es noch so groß gewesen sein, rechtfertigt anderes Unrecht. Verbrechen sind auch dann Verbrechen, wenn ihm andere Verbrechen vorausgegangen sind.
[30]
“
Sehr kontroverse Sichtweisen gibt es in der polnischen Politik. Erst seit der politischen Wende 1988/89 konnte das Thema Vertreibung der Deutschen in der polnischen Offentlichkeit offen diskutiert und von Historikern ohne politische Einflussnahme erforscht werden.
[31]
Seither wurde die Vertreibung in zahlreichen Publikationen und Veroffentlichungen historisch aufgearbeitet und in einer gesellschaftspolitischen Debatte bis heute kontrovers diskutiert.
[32]
Wahrend der polnische Außenminister
Władysław Bartoszewski
am 28. April 1995 im
Deutschen Bundestag
die Vertreibung der Deutschen offentlich als ein Unrecht
[33]
bezeichnete, sprach 2008 der Oppositionsfuhrer
Jarosław Kaczy?ski
davon, dass ?Deutschland zu hundert Prozent Schuld am eigenen Vertriebenenschicksal trage“.
[34]
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Info:
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Anleitung
und entferne dann diesen Hinweis.
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Vorlage:Webachiv/IABot/www.icc-cpi.int
(PDF; 373 kB)
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