Die
Geschichte Russlands
bietet einen Uberblick uber die Vorgeschichte, Entstehung und Entwicklung des
russischen Staates
.
[1]
Ausgehend von der fruhesten Besiedlung verschiedener Stamme des heutigen russischen Territoriums seit der
Altsteinzeit
, beschaftigt sich dieser Artikel mit der Entstehung der
Kiewer Rus
, eines
ostslawischen
Großreiches, das sich um 980 formierte, durch die
Annahme des Christentums
von
Byzanz
her (988/89) in die
christliche
Okumene
eintrat und schließlich 1240 dem
Mongolensturm
zum Opfer fiel. Die
mongolische Invasion der Rus
fuhrte zum Zusammenbruch des Reiches von Kiew, dessen Nachfolgereiche (im Westen von der Mitte des 13. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, im Osten bis in die zweite Halfte des 15. Jahrhunderts)
[2]
unter die Herrschaft der
Goldenen Horde
fielen. In der Zeit der Herrschaft der
Tataren
kam es zu einer
Entfremdung
gegenuber dem
westlichen Kulturkreis
.
Der zunehmende Zerfall der Goldenen Horde und die gleichzeitige innere und außere Konsolidierung der nordostlichen
Rus
rund um das
Großfurstentum Moskau
begunstigte die zunehmende
russische Kolonisation
, die die russische Geschichte seitdem entscheidend gepragt hat. Einer Phase der inneren Zerruttung, der sogenannten
Smuta
, am Anfang des 17. Jahrhunderts, folgten mehrere
Kriege
gegen
Polen-Litauen
sowie
Kriege
gegen das
Osmanische Reich
. Zar
Peter I.
modernisierte mit den
nach ihm benannten Reformen
das seit 1721 imperiale
Russische Reich
und fuhrte es an
Westeuropa
heran. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts festigte das Russische Reich seinen Anfang des Jahrhunderts erworbenen Großmachtstatus, baute ihn weiter aus. Die schnelle raumliche Ausdehnung zu dieser Zeit ließ jedoch fur die innere Entwicklung kaum staatliche Mittel ubrig, da das reale Sozialprodukt bald stagnierte. Nach dem Sieg uber die
Grande Armee
in
Napoleons
Russlandfeldzug 1812
festigte das Russische Reich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Vorherrschaft auf dem europaischen Festland. Aufgrund der herrschenden
Autokratie
und der zu Beginn des 17. Jahrhunderts eingefuhrten
Leibeigenschaft
konnte das
agrarisch
gepragte Reich jedoch mit den sich rasant entwickelnden Industriestaaten immer weniger Schritt halten, bis schließlich Zar
Alexander II.
nach der Niederlage im
Krimkrieg
eine Phase der inneren
Reformen
anschob.
Die Reformen beschleunigten Russlands wirtschaftliche Entwicklung, doch das Land wurde immer wieder von inneren Unruhen destabilisiert, da die politischen Veranderungen nicht weitreichend genug waren und große Teile der Bevolkerung ausgeklammert wurden. Durch die
Februar-
und
Oktoberrevolution
im Jahre 1917 wahrend des
Ersten Weltkriegs
wurde die
Zarenherrschaft uber Russland
beendet und in der Folge die
sozialistische
Sowjetunion
gegrundet, die bis 1991 Bestand hatte. Der
?Große Vaterlandische Krieg“
begann am 22. Juni 1941 mit dem deutschen
Uberfall auf die Sowjetunion
und endete nach dem Ende der
Schlacht um Berlin
mit der
bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht
am 8./9. Mai 1945. Dieses Datum wird bis heute in Russland als
Tag des Sieges
begangen. Vor allem wegen der von Deutschen geplanten und ausgefuhrten Massenverbrechen an der Zivilbevolkerung starben im Kriegsverlauf zwischen 24 und 40 Millionen Bewohner der Sowjetunion. Nach der
Auflosung der Sowjetunion
erlebten ihre
Nachfolgestaaten
einen schwierigen
Transformationsprozess
, zunachst mit großen Einbruchen sowohl beim nationalen
BIP
als auch bei der wirtschaftlichen Situation vieler Menschen. Darauf folgte in der
Russischen Foderation
ab dem Jahr 2000 ein von der Welt
konjunktur
begunstigter Aufschwung, der 2013 beendet war.
Endlos erscheinende Weiten und die Einformigkeit riesiger Ebenen kennzeichnen den Raum. Im Suden und Sudwesten begrenzen Gebirge (
Kaukasus
und
Karpaten
) das
osteuropaische Tafelland
. Die Kusten im Norden (
Weißes Meer
) und im Suden sind schwach gegliedert. Im Suden erreicht das europaische Flachland lediglich Binnenmeere (
Schwarzes Meer
und
Kaspisches Meer
). Nach Westen und Osten ist das osteuropaische Flachland offen. Weder die westlichen Sumpfgebiete (
Pripjetsumpfe
) noch der
Ural
sind eigentliche Verkehrshindernisse.
Westsibirien
stellt eine kontinentale Fortsetzung des europaischen Russlands dar. Eine Grenze verlauft am Rand des gebirgigen Mittel- und
Ostsibiriens
. Da keine westostlichen Gebirge den osteuropaischen Tieflandsraum gliedern, reicht die Polarluft mitunter bis tief in den Suden ohne aufgehalten zu werden. Naturraumlich begrenzen die klimatischen Bedingungen die menschliche Besiedlung. Fast die Halfte der Boden ist standig gefroren oder taut nur an wenigen Tagen im Jahr auf. Durch die offenen und wenig Schutz bietenden Grenzen wurden die Menschen in diesen Gebieten haufig von außeren Einfallen gefahrdet (vgl. auch
Russische Großlandschaften
).
Auf dem riesigen Gebiet Russlands sind Menschen seit etwa 100.000 Jahren nachgewiesen. Die Besiedlung verdichtete sich ab 35.000 v. Chr. in den weitraumigen Flussgebieten und klimatisch begunstigten Zonen. Die Jager und Sammler wohnten in hutten- und zeltartigen Behausungen und Hohlen. Mit ihren Steinwaffen jagten sie vor allem das
Mammut
.
Der Ubergang zu einer bauerlichen Kultur vollzog sich in einigen Gegenden seit dem 6. Jahrtausend v. Chr. sehr fruh, verstarkt seit dem 3. Jahrtausend v. Chr., wurden Pferde gezahmt und gezuchtet. Die Menschen der
Kurgan-Kultur
, die sich von der unteren Wolga und dem
Dnepr-Becken
ausbreiteten, nutzten das Tier zum Reiten und zum Wagenziehen. Viele Nomadenstamme durchzogen die weiten Steppen Russlands nun mit ihren Pferden.
Seit dem 12. Jahrhundert v. Chr. drangen immer wieder vom Kaukasus aus kriegerische
Reiternomaden
in die Steppen Russlands vor, unter anderem von
Skythen
und
Sarmaten
, und bildeten zum Teil fruhe Großreiche. Eine genaue stammesmaßige Gliederung lasst sich fur die Zeit nicht aufschlusseln. Ein erstes Konigtum der Skythen bildete sich im 7. Jahrhundert v. Chr. im heutigen
Aserbaidschan
heraus, ein zweites im 6. Jahrhundert v. Chr. am Nordrand des Schwarzen Meeres und in der
Waldsteppe
. Im 7. Jahrhundert v. Chr. stießen die Griechen im Zuge ihrer Kolonisationsbewegung auch in das Schwarze Meer vor und grundeten an der Sudkuste der
Krim
und am
Bug
und
Dnepr
Stadte. Diese Griechenstadte waren fur die nordlichen Nachbarn von großer Bedeutung. Sie blieben nach dem Sturm der
Volkerwanderung
wichtige politische und wirtschaftliche Stutzpunkte des Byzantinischen Reiches, uber die ein reger Handelsverkehr zu den nordlichen Nachbarn abgewickelt wurde (vgl.
Chersones
).
[3]
Sprachgeschichtlich lasst sich auch noch keine Dominanz des
Slawischen
feststellen.
[4]
Nach 500 v. Chr. bildeten sich anscheinend festere Gemeinschaften heraus. Nordlicher von ihnen waren in der Waldzone
Finno-ugrische Volker
, die nach Westen stießen, und
Balten
beheimatet.
Slawen
waren ursprunglich am mittleren Dnepr, nordlich von Kiew fassbar. Die Herkunft des Namens ist bis heute nicht eindeutig geklart. Zumindest teilweise befanden sie sich in Abhangigkeit vom
Gotenreich
. Nach dessen Zerschlagung setzte eine Wanderungsbewegung auch nach Norden und Nord-Osten ein. Die slawischen Stamme, die sich unmittelbar auf dem Gebiet des heutigen Russlands niederließen, waren
Ilmenslawen
,
Kriwitschen
,
Wjatitschen
und
Sewerjanen
. Sie durchbrachen den Siedlungsgurtel der Balten und finno-ugrischen Stamme und kolonisierten die Waldgegenden um den Ilmensee. Gegenuber den
slawischen Stammen, die nach Westen vordrangen
, begann sich bis Ende des 10. Jahrhunderts eine gemeinsame
ostslawische Sprache
herauszubilden.
[5]
Ein Teil der Slawen geriet unter die Oberherrschaft des
Chazarenreiches
, das Ende des 5. Jahrhunderts zwischen unterer Wolga und Don entstanden war. Es umschloss sehr verschiedene
ethnische
Elemente (unter anderem
Magyaren
oder
Alanen
). Die Chazaren, turkischer Herkunft, bildeten nur eine Minderheit, stellten aber die Herrschaftselite.
Zwischen 552 und 745 befand sich auf einem Teil vom heutigen Territorium Russlands das Alte
Großbulgarische Reich
. Um 654 teilte sich Großbulgarien in drei Teile auf. Vom 10. bis zum 14. Jahrhundert gehorte das Land zwischen Wolga und Kama zum Reich der
Wolgabulgaren
.
Die ostslawischen Stamme des 9. Jahrhunderts befanden sich in unterschiedlichen Entwicklungsstadien. Die
Poljanen
am Dnepr um Kiew sowie die
Drewljanen
hatten sich zu festeren Verbanden unter Fursten zusammengeschlossen. Fur die anderen Stamme fehlen solche Hinweise. Die verschiedenen Stamme trugen ihre Namen nach landschaftlichen Begebenheiten und waren untereinander eng verwandt. Eine genaue Abgrenzung der Siedlungsgebiete der Stamme ist nicht moglich.
Allgemein waren die Ostslawen sesshafte Ackerbauern und Viehzuchter. Aufgrund des kuhlen Kontinentalklimas und den wenigen ertragreichen Boden (die fruchtbare Schwarzerdregion lag im sudlicheren Steppengebiet), damit einhergehenden periodischen Missernten und Hungersnoten, wurde der traditionelle Lebensraum der Russen der Wald.
Holz
war bis ins 20. Jahrhundert das wichtigste Bau- und Brennmaterial. Die
Waldgewerbe
sowie die
Waldbienenzucht
oder die
Jagd
stellten lange Zeit bedeutende Wirtschaftszweige dar.
Wachs
und
Pelze
und andere Waldprodukte bildeten fur viele Jahrhunderte die wichtigsten Exportguter Russlands.
[6]
Wald und Sumpfe behinderten den Verkehr, der deshalb in der Regel uber die Flusse ging. Das Land war aber nur inselhaft besiedelt. Nur von Orten, die an großen Verkehrswegen lagen, war daher eine herrschaftliche Erschließung moglich. Diese Orte bildeten Kiew am Dnepr,
Weliki Nowgorod
an der Einmundung des
Wolchow
aus dem
Ilmensee
und
Alt-Ladoga
an der Einmundung des Volchow in den
Ladogasee
.
[7]
Der alteste ostslawische politische Verband in der Geschichte war die Kiewer Rus. Gegrundet von
Waragern
, entstand er in der ersten Halfte des 9. Jahrhunderts. In ihm bildete sich eine gemeinsame, christlich
orthodox
gepragte Kultur mit Zentrum in Kiew heraus, auf deren Grundlage sich in den Folgezeiten die heutigen als das russische, das ukrainische und das belarussische Volk bekannten Nationen formierten. Der Verband bestand uber drei Jahrhunderte. Nach dem Tod des letzten Großfursten von Kiew zerbrach er 1132 in mehrere unabhangige Furstentumer. Damit begann eine Zeit feudaler Zersplitterung, die schon bald zum Verlust der politischen Unabhangigkeit der ?russischen“ Lander (benannt nach den
Rus)
beitragen sollte. In den 1220er Jahren kam es zu einem ersten Zusammenstoß mit den
Mongolen
, als die mongolischen Generale
Jebe
und
Subutai
auf ihrem Ruckzug in die Mongolei ein Aufgebot verschiedener Herrschaften der Rus und ihrer Verbundeten in der
Schlacht an der Kalka
vernichtend schlugen.
Wiewohl die Geschichte und Kultur der Rus in der Literatur haufig als ?altrussisch“ bezeichnet werden, lasst sich kein vorrangiger oder gar exklusiver Anspruch der heutigen Russen auf das Erbe gegenuber Ukrainern oder Weißrussen ableiten. Die Bevolkerung war mehrheitlich ostslawisch, zum Reich gehorten aber auch finnische, baltische und turksprachige Gruppen. Ein Nationalstaat war die fruhmittelalterliche Rus nicht. Die ostslawische Bevolkerung hat sich vermutlich sprachlich nach Stammen differenziert, aber noch nicht nach den drei heutigen Gruppen, greifbar als Schriftsprache ist nur das
Kirchenslawische
. Heute ist das alte Zentrum Kiew ukrainisch, die wichtige Stadt
Nowgorod
jedoch russisch und das mittlerweile zu Russland gehorende Smolensk war lange weißrussisch. Die Kiewer Rus gehort insofern zur Geschichte oder Vorgeschichte aller drei Volker, auch wenn insbesondere Ukrainer und Russen sich gegenseitig Anspruche absprechen.
[8]
Der erste mittelalterliche Staat auf dem Boden des spateren Russland war die
normannisch
-skandinavische Herrschaft uber eine slawische Bevolkerung, vor allem entlang eines Handelsweges, der Skandinavien mit dem
Byzantinischen Reich
(
Weg von den Waragern zu den Griechen
) verband. Bedingt durch die Schwache des Chasarenreiches und den damit zusammenhangenden Ruckgang des Wolga-Handels gewann dieser Weg im
Fruhmittelalter
ab der zweiten Halfte des 9. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung. Hier lagen
Weliki Nowgorod
und
Kiew
als die ersten Zentren. Das Herrschaftsgebiet der hier siedelnden ostslawischen Stamme wird als die ?Rus“ bezeichnet. Das Wort ?
Rus
“ (
russisch
Русь) leitet sich vermutlich von einem
Waragerstamm
ab, der aus
Schweden
stammte (vgl. finnisch: ?Ruotsi“ fur Schweden
[9]
). Die Warager waren skandinavische Mannerbunde mit kaufmannischen Interessen, die als Schwurgemeinschaften zusammengehalten wurden. Sie benutzten das Flusssystem Russlands als Handelsrouten. Um genugend Pelze und Sklaven zu bekommen, benotigten die Warager weite Raume. Daher dehnten sie sich zugleich nach Suden und Osten aus und das Handelssystem wurde umfassender. Um ihre Handelswege abzusichern, errichteten sie von der Ostsee uber die
Duna
und Dnepr ein Stutzpunktsystem. Hier trafen sie auf die organisatorischen Strukturen der Ostslawen,
Wolgabulgaren
und
Chasaren
. So trafen sie auch auf Kiew und fassten dort 839 Fuß. Kiew war ein bedeutender Handelsplatz mit weitraumigen Verbindungen bis nach Spanien und Bagdad. Abnahmeprodukte waren Honig, Wachs, Pelze und Sklaven. Da die Kiewer Handelsrouten immer gefahrlicher wurden, ubernahmen die kriegerischen Kaufleute der Warager diesen Platz. Sie ubernahmen Kultur, Lebensweise und Organisationsformen und entwickelten schrittweise festere Organisationsformen.
[10]
Durch den hauptsachlich auf Konstantinopel ausgerichteten Handel kam es trotz anfanglicher Eroberungsversuche seitens der Rus (vgl. u. a.
Belagerung von Konstantinopel (860)
) in der Folgezeit zu engen Kontakten mit Byzanz.
Auch im Norden, um
Alt-Ladoga
, siedelten sich Warager an. Verschiedene Chroniken (u. a.
Nestorchronik
) besagen, dass die Slawen die Warager dort zu sich riefen, damit diese ihre Stammesfehden beendeten.
[11]
Stammesvater dieser waragischen Herrschaft im Norden wurde
Rjurik
ab 862 in Nowgorod. Rjuriks Nachfolger
Igor
(878?893) eroberte 882 auch Kiew, wo bereits fruher Warager gesiedelt hatten. Igor machte Kiew zu seiner Residenz und unterwarf die benachbarten ostslawischen Stamme. Die in Russland ansassigen Skandinavier waren bis zum Ende des 10. Jahrhunderts vollstandig slawisiert. Bald schon wurde ?die Rus“ zur Bezeichnung der Bewohner dieses Bereiches unabhangig von ihrer Stammeszugehorigkeit.
[12]
So ubertrug sich der Name von der eingewanderten skandinavischen Fuhrungsschicht auf die Alteingesessenen. Mindestens acht politische Einheiten wirkten neben den alteingessenen slawischen Volkern wie
Poljanen
und
Drewlanen
an der Bildung und Konsolidierung der Rus mit: serbische, finnische und litauische Stamme, die Warager und Kasaren, die Wolgabulgaren, die byzantinischen Griechen
Kyrill und Method
als Missionare und Araber als Vermittler zwischen Europa und Asien im internationalen Handel. Diese Entwicklung war in der zweiten Halfte des 10. Jahrhunderts abgeschlossen. Dieses Kiewer Reich kann aufgrund der Vielzahl der
Nationalitaten
daher als erster
Großstaat
der ostslawischen Geschichte gelten und gelangte in der Folgezeit zu hoher Blute. So entstand zur ersten Jahrtausendwende aus der Verschmelzung von
Skandinaviern
und
Ostslawen
mit byzantinischer Kultur und Religion die Bevolkerung der Kiewer Rus, aus der spater
Russen
,
Ukrainer
und
Belarussen
hervorgegangen sind.
Die Kiewer Herrscher
Oleg
und
Swjatoslaw I.
fuhrten mehrere Kriege gegen das sudlich angrenzende Kasarenreich, oft mit byzantinischer Unterstutzung. In den 960er Jahren gelang es Swjatoslaw mit Hilfe der Petschenegen schließlich, die Macht des
Kasarenreichs
zu brechen. Dadurch dehnte Swjatoslaw den Einfluss der Kiewer Rus bis an den
Don
und an die Ostkuste des
Asowschen Meeres
aus.
Die
Russisch-Orthodoxe Kirche
beeinflusste alle Lebensbereiche. Unmittelbare weltliche Macht wie in Westeuropa gewann die Kirche aber nicht. Die Bischofe und Abte wurden keine Reichsfursten. Dennoch war insbesondere die hohe Geistlichkeit eng mit der Politik verbunden.
[13]
Unter
Vladimir dem Heiligen
wurde das Christentum 988/989 zur Staatsreligion erhoben und die Kiewer Bevolkerung in Massentaufen bekehrt. Bereits seine Großmutter, Furstin
Olga
(893?924) hatte sich als erste Herrscherin aus der rurikidischen Dynastie taufen lassen, konnte den christlichen Glauben im Reich aber noch nicht durchsetzen. Vladimir ordnete sich dadurch nicht dem byzantinischen Reich unter, sondern half dem Kaiser mit Truppen aus militarischer Bedrangnis und heiratete dessen Schwester, wodurch man ihm Gleichrangigkeit symbolisierte und ihn in die ?Familie der Konige“ aufnahm. In 35 Jahren, bis 1015, war das gesamte, bis dahin heidnische Land der Rus bekehrt. Dies fuhrte dazu, dass die Missionare nach dem Tod von Vladimir diesem den Beinamen
Zar
gaben. Die Annahme des byzantinischen Christentums schloss das Zarentum zugleich vom romischen Christentum aus. Denn Byzanz bzw.
Ostrom
betrieb zu dieser Zeit seine Kirchenpolitik im bewussten Gegensatz zu Rom und vermittelte den Ostslawen bei ihrer Bekehrung antiromische Tendenzen.
[14]
Die Kirche Kiews wurde als Teilkirche des
Patriarchates von Konstantinopel
zunachst von
Exarchen
verwaltet, was die politische Selbstandigkeit der Kiewer Großfursten nicht beruhrte. Die orthodoxe Kirche und ihre Werte bildeten zukunftig eine tragende gesellschaftliche Saule.
Der Adel (die
Bojaren
) war die politische Fuhrungsschicht des Reiches. Im Unterschied zu Westeuropa belohnte der Furst seine Gefolgsleute nicht mit einem Gut, uber das sie auf Lebenszeit verfugen konnten. Aus der Gefolgschaft entwickelte sich kein Lehnswesen, das Verhaltnis blieb individualisiert. Wenn auch Bojaren oft gegen Fursten vorgingen und deren Macht zu begrenzen versuchten, bildeten sie keine Gegenmacht in Form eines
Adelsstandes
aus.
[15]
In dieser Periode gab es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Russland und dem sich formierenden Europa: ?Der neugeborene russisch ? waragische Staat entwickelte sich, politisch und wirtschaftlich, als ein normales, und zwar aktives Mitglied der damals nicht sehr alten romanisch ? germanischen Volkergemeinschaft Europas“.
[16]
Er entwickelte sich politisch und wirtschaftlich innerhalb der romanisch-germanischen Volkerkonglomeration Europas. Die Großfursten von Kiew standen mindestens bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts in engem Kontakt zu ihrem Mutterland Schweden und zum skandinavischen Norden. Die freundschaftlichen Beziehungen Russlands zu westeuropaischen Staaten entwickelten sich besonders Anfang des 11. Jahrhunderts unter der Herrschaft
Jaroslaws I.
(1019?1054), dessen 40-jahrige Regierungszeit ein friedliches
Diplomatiesystem
auf Grundlage weitverzweigter Eheverbindungen mit dem Herrscherhaus hervorbrachte. Als Folge dieser Politik waren die Fursten von Kiew im 11. Jahrhundert verwandt mit den Herrscherhausern in Norwegen, Schweden, Frankreich, England, Polen, Ungarn, dem
Byzantinischen Reich
und dem
Heiligen Romischen Reich
. Unter Jaroslaw dem Weisen erreichte die Kiewer Rus eine Blutezeit und den Hohepunkt ihrer Macht. Er schaffte es, seine Herrschaft zu festigen, wichtige Verkehrswege zu erschließen und die Tributherrschaft Kiews auszudehnen. Er ließ im ganzen Reich nach byzantinischem Vorbild viele Kirchen, Kloster, Schreibschulen und Festungsanlagen errichten, reformierte die ostslawische Gesetzgebung, hielt sie erstmals schriftlich fest (
Russkaja Prawda
) und grundete in Kiew die erste ostslawische
Bibliothek
.
Von der Mitte des 11. Jahrhunderts an kam es im Kiewer Reich zu vielen Veranderungen, die schrittweise den Niedergang des Reiches einleiteten. Kiew konnte zwar seine Stellung als bedeutender Handelsplatz behalten, aber das Reich zerfiel zunehmend in kleinere Furstentumer.
Das Kiewer Reich war ahnlich wie das
Heilige Romische Reich
kein einheitlicher Staat, sondern bestand aus einer Vielzahl von autonomen Teilfurstentumern, die von den
Rurikiden
regiert wurden. Einer von ihnen erbte jeweils die
Großfurstenwurde
und zog zum Regieren nach Kiew um. Das Kiewer Reich kannte keine stabile und unbestrittene Thronfolgeordnung. Das Reich war in einzelne souverane Furstentumer aufgeteilt, denen ein Großfurst ubergeordnet war. Dabei gab es keine schriftlich fixierte Ordnung der Thronfolge als stabilisierendes Element fur den kritischen Moment des Todes des Herrschers. Vielmehr folgte man dem
Senioratsprinzip
. Dabei galt immer eine Regel: Der Herrscher musste der Dynastie der Rurikiden entstammen. Entscheidend bei dem Gedanken der Thronfolgeordnung war die Gleichheit der einzelnen Fursten. Die Fursten bezeichneten sich gegenseitig als ?Bruder“. Schließlich stuften sie die Beziehung zueinander durch den Zusatz ?alterer“ oder ?jungerer“ ab, um in erster Linie das Rangverhaltnis zu widerspiegeln. So konnte ein ?alterer Bruder“ junger sein als sein ?jungerer Bruder“ und in der Thronfolge weiter oben stehen. Bei dem Seniorat handelte es sich um das erste bestandige Thronfolgesystem. Dabei erbt nicht wie bei der
Primogenitur
der alteste Sohn den Thron, sondern der nachstfolgende Bruder, der zuvor schon ein anderes Teilfurstentum regierte. Beim Tod eines Fursten bildete sich unter den Brudern ein Nachruckverfahren aus, das bis 1169 zu einem Residenzwechsel der Bruder und Sohne fuhrte. Das heißt, der jungere Bruder des Großfursten von Kiew ubernahm dessen Thron, dann der nachstfolgende Bruder und wenn der nicht vorhanden war, der alteste Sohn. Die Großfurstenwurde war also keineswegs in einem Haus erblich, sondern wurde nach dem Gesichtspunkt des Altersvorranges in der Dynastie vergeben.
[17]
Die
Stadte
bildeten im Unterschied zu Westeuropa keine Stadtburgergemeinden, die sich gegenuber dem Land rechtlich abgrenzten. Auch die Bauern konnten sich am Stadtleben beteiligen. Zwischen Stadt und Land kristallisierte sich keine scharfe Arbeitsteilung. Bis gegen Ende des 18. Jhs. blieben die Grenzen zwischen Stadt und Land fließend, auch rechtlich gab es kaum Unterschiede.
Als im 11. Jahrhundert der Reiterstamm der
Polowzer
Kiew bedrohte und das Umland verwustete, zog die slawische Bevolkerung vom Suden des Kiewer Landes in die Waldzone im Norden oder westwarts zu den Ebenen
Galiziens
und dem Hugelland am Fuße des Karpatengebirges. Dadurch entstanden Siedlungen, die zu neuen Zentren aufstiegen: die nordlich und ostlich gelegene reiche Kaufmannsstadt
Nowgorod
, Galiziens Hauptstadt
Halytsch
im außersten Sudwesten und die Stadte
Wladimir
, Rostow und Susdal. Nowgorod selber wurde zu einer einflussreichen
Kaufmannsrepublik
mit einem
Hansekontor
.
Nur kurzfristig konnte
Wladimir Monomach
(Regierungszeit 1113?1125) die Einheit des Reiches wiederherstellen. Meist durch militarischen Druck und die Einsetzung seiner Sohne als Territorialfursten band er die Teilfurstentumer wieder starker an das Zentrum Kiew. Er setzte sich fur die rasche Beendigung der blutigen Fehden zwischen den Fursten und fur ein gemeinsames Vorgehen gegen die Polowzer ein. Diese Auffassung suchte Wladimir auf mehreren Furstentagen (1097, 1100, 1103) durchzusetzen. Nach der Zusammenkunft von Dolobsk 1103 gelang es Wladimir Monomach und den mit ihm verbundeten Fursten der Rus, den Polowzern im Gefolge mehrerer Kriegszuge (1103, 1107, 1111) empfindliche Niederlagen beizubringen und die von dem kriegerischen Nomadenvolk ausgehende Gefahr abzuwenden.
Die zunehmende politische und wirtschaftliche Selbstandigkeit der Stadte und die Zwistigkeiten zwischen den feudalen Herrschern verursachten aber eine zunehmende Entfremdung, die rasch nach seinem Tod ab 1132 zum Zerfall der Kiewer Rus durch fortwahrende Erbfolgekampfe um den Großfurstentitel fuhrte. So wurde Kiew 1169 durch Furst
Andrei Bogoljubski
von
Wladimir-Susdal
erobert. Statt sich dort niederzulassen, nahm er den bis dahin an Kiew gebundenen Großfurstentitel mit nach Norden in seine neue Residenz bei
Wladimir
. Damit setzte sich der Zerfall des Kiewer Reichs fort. Die großten Staaten, die sich nach dem Niedergang von Kiew abgesondert hatten, waren neben dem
Furstentum Kiew
, das
Furstentum Tschernigow
, das
Furstentum Perejaslawl
, das
Furstentum Smolensk
, das
Furstentum Polozk
, das
Furstentum Turow-Pinsk
, das
Furstentum Wladimir-Susdal
, das
Furstentum Rjasan
und
Galizien-Wolhynien
sowie das
Nowgoroder Land
. Laut der
Nestorchronik
gab es im 12. Jahrhundert im Kiewer Reich mehr als 100 Stadte sowie eine Gesamtbevolkerung von vier bis neun Millionen Menschen.
Die Zerstrittenheit der Fursten erleichterte die
Mongolische Invasion der Rus
. Zu einem ersten Aufeinandertreffen der Rus und der Mongolen kam es 1223, und bereits bei diesem Konflikt fuhrte die Uneinigkeit der Fursten die Rus in die Katastrophe. Die mongolischen Generale
J?ebe Noyan
und
Sube'etai
Ba'atur drangen uber Georgien und die
Kiptschakische Steppe
in das Gebiet der Rus vor. Zuvor hatten sie den Kaukasus uberquert und an dessen Nordseite eine Armee von
Kiptschaken
und
Alanen
geschlagen. Die uberlebenden Kiptschaken unter Kotan Khan flohen in das Gebiet der Rus, wo sie um militarische Hilfe gegen die Invasoren ersuchten. Die Fursten Mstislaw von Kiew (r. 1214?1223), Mstislaw II. von Tschernigow (r. 1220?1223) und Mstislaw Mstislawitsch von Halitsch (r. 1221?1227) schlossen eine Allianz mit Kotan Khan und mobilisierten ihre Truppen. J?ebe und Sube'etai waren den Kiptschaken gefolgt, und im Mai 1223 kam es in der heutigen Ukraine zu der beruhmten
Schlacht an der Kalka
. Da Mstislaw, Mstislaw II. und Mstislaw Mstislawitsch aufgrund ihrer Rivalitaten ihre Armeen getrennt voneinander fuhrten und die Truppenbewegungen nicht koordinierten, gelang es den zahlenmaßig stark unterlegenen Mongolen ohne Schwierigkeiten, die Schlacht fur sich zu entscheiden. Die Truppen der Rus wurden fast vollstandig aufgerieben, Mstislaw und Mstislaw II. fanden den Tod, nur Mstislaw Mstislawitsch und Kothan Khan gelang die Flucht. Die Mongolen setzten den Fluchtenden nicht nach. J?ebe Noyan war vermutlich im Vorfeld der Schlacht von Kiptschaken getotet worden und Sube'etai Ba'atur zog nach Osten und kehrte in die Mongolei zuruck. Der Befehl
Dschingis Khans
lautete nicht auf Eroberung, sondern lediglich auf Erkundung der Gebiete westlich des Kaspischen Meeres, und so verschwanden die Mongolen ebenso unvermittelt, wie sie aufgetaucht waren.
[18]
Den Fursten blieb auch verborgen, dass die
Mongolen
nach Dschingis Khans Tod 1227 seinen Sohn
Ogadai
zum
Großkhan
gewahlt hatten und auf seiner 1235 in
Qara Qorom
, dem Sitz des Herrschers, abgehaltenen
Reichsversammlung
ein Angriff gegen den Westen beschlossen wurde. Zum Feldherren wurde ein Enkel Dschingis Khans,
B?t?
, bestimmt. Nach langerer Vorbereitung begann der mongolische Vormarsch. Als erste fielen ihnen die
Wolgabulgaren
zum Opfer, deren Reich um
Kasan
an der mittleren Wolga als Handelsumschlagsplatz eine bedeutende Rolle besaß. Im Winter 1237/38 drangen die Mongolen in die Furstentumer Rjasan, Wladimir und Susdal ein. Hier kamen der Großfurst Jurij II. und alle seine Sohne um. B?t? ruckte bis vor Tor?ak im Grenzgebiet Novgorods, kehrte aber um, als Tauwetter die Wege in Sumpfe verwandelte. Dadurch blieben Novgorod und die nordwestlichen Furstentumer verschont. B?t? richtete sich in
Sarai
an der unteren Wolga eine Residenz ein und unternahm von dort aus Vorstoße gegen die sudostlichen Furstentumer. 1239 fielen ?ernigov und Perejaslavl, am 6. Dezember 1240 die alte Reichshauptstadt Kiew.
[19]
In schnellem Vorstoß durchstreiften die Mongolen die sudwestlichen Furstentumer der Rus, drangen in Polen ein, nahmen
Krakau
, verwusteten
Breslau
und zogen von dort weiter nach Ungarn. Wahrend der Mongolenvorstoß fur die Lander Polen, Bohmen und Ungarn eine Episode blieb, bedeutete er fur die Furstentumer der Kiewer Rus die dauerhafte Unterwerfung unter mongolische Herrschaft. Zugleich loste der Mongolensturm und die standige Bedrohung der steppennahen ostslawischen Bauernsiedlungen eine schrittweise Siedlungsverlagerung aus, das heißt eine Ruckverlegung der bauerlichen Ansiedlungen aus den Waldsteppenzonen im Suden und eine Wanderungsbewegung in die nordliche
Taiga
.
Mit der Aufrichtung der Mongolenherrschaft tritt
Osteuropa
von 1240 bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts in eine Ubergangsphase seiner Geschichte ein, die als ?dunkles“ Zeitalter bezeichnet wird.
[20]
Die russische Nationalhistoriographie bewertet diese Zeit negativ. Die mongolische Fremdherrschaft fuhrte demnach fur zwei Jahrhunderte zu einem Abbruch der Beziehungen zum Westen und forderte die Abkapselung des orthodoxen Russlands.
[21]
Die Furstentumer lagen im Machtbereich der
Goldenen Horde
, konnten jedoch eine gewisse innere Autonomie bewahren. Derweil mussten sich die Furstentumer im Norden und Westen Angriffen von Schweden, Ordensrittern und Litauern erwehren. Unter den zersplitterten und verfeindeten Furstentumern der Rus erwies sich das kleine und unbedeutende Furstentum Moskau als das durchsetzungsstarkste, loste die Mongolenherrschaft und eroberte Schritt fur Schritt die verlorengegangenen Lander der Rus zuruck.
Osteuropa gehorte nun zum Machtbereich der
Blauen Horde
, die in der
Kyptschak-Steppe
nordlich des Kaspischen und des Schwarzen Meeres nomadisierte und deren
Khan
in
Sarai
an der unteren
Wolga
residierte. Die Blaue Horde wurde in der Folge wichtigster Teil der
Goldenen Horde
, weshalb vereinfachend oft von dieser gesprochen wird. Nominell unterstand der Khan der Goldenen Horde dem
Groß-Khan
im fernen
Karakorum
. Die Goldene Horde loste sich spater zunehmend vom Gesamtkhanat ab. Die ostslawischen Fursten hatten es daher vornehmlich mit dem jeweiligen Khan der Goldenen Horde zu tun.
Die Form der Herrschaft uber die russischen Furstentumer war locker. Ein gewisses Maß an Autonomie blieb bestehen, solange die russischen Fursten den Grundpflichten nachkamen.
[22]
Die Fursten mussten Tribut liefern und Hilfstruppen bereitstellen, andernfalls folgten verheerende Straffeldzuge, sobald die Mongolen Widerstand und Ungehorsam entdeckten. Nicht selten bedienten sich russische Fursten der mongolischen Militarhilfe bei Auseinandersetzungen mit ihren jeweiligen Nachbarn, die teils ihre Verwandten waren.
- Ein wichtiger Faktor der Herrschaft bildete der
Großfurstentitel
. Die Mongolen bestimmten aus den Fursten einen ersten, der fur die Eintreibung des Tributs verantwortlich wurde. Als Großfurst setzte der Khan stets einen Mann seines Vertrauens ein. In der Vergabe des Großfurstenamtes ? des ?Altesten im ganzen russischen Volk“ ? halten sie sich anfangs an die traditionelle
Senioratsordnung
. Dem Khan hatten die Anwarter auf die Großfurstenwurde durch personliche Reise nach Sarai zu huldigen, um die Ernennung aus seiner Hand durch eine Gnadenurkunde (Jarlyk) entgegenzunehmen. Da immer nur der Starkste unter den Fursten Großfurst wurde, war auch keine Erbfolge moglich.
- Die Herrschaftssicherung vollzog sich durch die Entsendung von so genannten
Baskaken
(deutsch ?Presser“, von der Befugnis das Amtssiegel auf Befehle zu ?pressen“
[23]
) als Beobachter an den Furstenhofen, die den Khan uber die politischen Vorgange auf dem Laufenden hielten und mangelndes Wohlverhalten unverzuglich nach Sarai meldeten. Aufruhrerische Fursten wurden dann entweder vom Khan nach Sarai befohlen oder durch eine Strafexpedition tatarischer Truppen zur Folgsamkeit gezwungen.
- Die orthodoxe Kirche stellte einen weiteren machtstabilisierenden Faktor dar, da die Khane nicht in die religiosen Angelegenheiten eingriffen. Weitergehende Kontrollmaßnahmen waren nicht notwendig, da die russischen Fursten einander misstrauten und ihre allgemeine Uneinigkeit zu Intrigen und gegenseitigen Anschwarzungen beim Khan fuhrte.
Nach dem Fall Kiews entstanden in den bisherigen Randgebieten neue bedeutende Machtzentren, die sich unabhangig voneinander entwickelten und danach strebten, die benachbarten Kleinfurstentumer wirtschaftlich, politisch und kulturell an sich zu binden. Im anschließenden Umgruppierungsprozess taten sich vier Zentren hervor:
- Im außersten Sudwesten entstand das
Furstentum Galizien-Wolhynien
, das sich von den nordlichen Hangen der
Karpaten
uber das heutige Ostgalizien und
Wolhynien
erstreckte. Dieses Konigreich bestand bis in die Mitte des 14. Jahrhunderts und zog das Furstentum
Turow-Pinsk
, das Furstentum Kiew und das Furstentum Tschernigow in seinen Herrschaftsbereich. Die Oberhoheit der Mongolen war lockerer als im ostlichen Teil der Rus, Galizien-Wolhynien konnte sich starker nach Mitteleuropa orientieren. 1253 kronte ein Gesandter des Papstes seinen Fursten zum
rex Russiae
, eine Konigskronung die allerdings Episode blieb, wie die angestrebte Kirchenunion. Galizien-Wolhynien wurde ?Bindeglied zwischen dem Kiewer Reich und der spateren politischen
Geschichte der Ukraine
“
[24]
.
- Im nordwestlichen Teil Altrusslands begann das
Furstentum Smolensk
Zentralisierungstendenzen geltend zu machen. Sein westlicher Nachbar ? das
Furstentum Polazk
? leistete ihm keinen Widerstand. Hier bildete sich allmahlich die
belarussische
Volksgruppe heraus, die im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts von Litauen inkorporiert wurde.
- Im Norden lag das dritte Zentrum, die
Freistadt Nowgorod
, mit einem ausgedehnten Landbesitz in Nordrussland vom
Ladogasee
bis zum
Weißen Meer
und an die nordlichen Auslaufer des
Urals
hin. Nowgorod stand in enger Verbindung mit den autonomen Republiken
Pskow
im Westen und
Kirow
im Osten. Den Handelsrepubliken gelang es, ihre Unabhangigkeit zu wahren. Aufgrund der engen Handelsbeziehungen Nowgorods mit dem Westen blieb die Stadt uninteressiert an den innerrussischen Verhaltnissen.
- Im Osten, durch große Urwalder vom sudlichen und westlichen Lander nder Rus getrennt, konnte das
Furstentum Wladimir-Susdal
schon vor der Tatareninvasion zu bedeutender Macht gelangen. Seine Fursten erkannten die Oberherrschaft der Tataren an und suchten sich selbst eine begunstigte Stellung als Großfursten in der Goldenen Horde zu sichern. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts zersplitterte sich das Furstentum wegen fehlender Herrschernachfolge in mehrere Teilfurstentumer: Perejaslawl, Rostow, Susdal, Jaroslawl, Moskau und Twer. Die Großfursten von Wladimir residierten aber nicht in
Wladimir
, sondern dort, wo sie jeweils ihr
Vatererbe
(vot?ina) hatten; das heißt, ihre Herrschaft beschrankte sich auf das Territorium ihres eigenen
Teilfurstentums
. Dies war zuerst
Twer
und wechselte (auch institutionell) langsam nach Moskau. Der Moskauer Herrscher erhob spater den Anspruch auf alle Gebiete des ehemaligen Großfurstentums Vladimir als sein Vatererbe.
Im Norden war die Durchdringung der mongolischen Herrschaft am geringsten, so dass sich hier das Zentrum des antimongolischen Widerstands bildete. Rasch wechselnde Machtgefuge zwischen den einzelnen Rus-Furstentumern und außere Angriffe brachten die Nord-Ost-Rus im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts an den Rand des Abgrundes.
[25]
Bedingt durch die Schwache der gesamten Rus infolge der Mongoleneinfalle wurde der Norden durch Angriffe auswartiger Machte bedroht, die ihrerseits Nutzen aus dieser Situation ziehen wollten. Dies betraf vor allem die Republik Nowgorod, die ihre Unabhangigkeit behaupten musste. Unter Fuhrung von Alexander Newski konnte Nowgorod erfolgreich Gebietsanspruche Schwedens und des
Deutschen Ordens
abwehren:
- Die politischen Ziele, welche die Schweden zu diesem Heerzug veranlassten, sind in der Geschichtsforschung umstritten. Ein Erklarungsansatz lautet, dass die Schweden die
Mundung an der Newa
erobern wollten, um damit die politische und okonomische Kontrolle uber den lukrativen
Ostseehandel
der Rus zu gewinnen. Eine andere Erklarung ist, dass hinter den Schweden der Papst stand, der auch von Norden her die
Kirchenunion
wollte und dies nach der Niederlage noch einmal mit dem Deutschen Orden versuchte. In der
Schlacht an der Newa
schlug das zahlenmaßig unterlegene Heer von Alexander Newski (seit 1236 Furst von Nowgorod) am 15. Juli 1240 das Heer der Schweden und sicherte damit die Nordgrenze. Letztlich stand diese Schlacht in einer langen Reihe von Konflikten um den Einfluss von
Karelien
und Finnland zwischen Schweden und Nowgorod.
[26]
Eine Grenzfestlegung zwischen Schweden und Nowgorod entstand erst 1323. Ein Krieg zwischen Schweden und Nowgorod in den Jahren 1321 und 1322 hatte zu Verhandlungen in
Noteborg
, an der Mundung der Neva in die Ladoga gefuhrt (vgl.
Vertrag von Noteborg
). Schweden erhielt West-Karelien und Nowgorod erhielt
Ingrien
und Ladoga-Karelien (Ost-Karelien). Dabei fielen nordostliche Teile Finnlands an die Republik Nowgorod. Der ubrige Teil blieb weiterhin eine Provinz seines westlichen Nachbarn Schweden.
- Deutsche Ordensritter eroberten
Izborsk
und
Pleskau
, von wo aus sie einzelne Streifzuge bis in die unmittelbare Nahe Nowgorods unternahmen. Die Nowgoroder mussten Alexander Newski, der die Stadt verlassen hatte, weil diese ihm keine politischen Rechte gewahrte, zuruckholen, als die Ritter angriffen. Als Furst von Nowgorod hatte er vor allem die Funktion eines Heerfuhrers; die eigentliche Macht lag in den Handen einer Versammlung einflussreicher Burger und dem Rat der Herren.
[27]
Auf dem Eis des Peipussees vernichtete er 1242 die Truppen des Deutschen Ordens (siehe
Schlacht auf dem Peipussee
). Dieser Schlacht kam große Bedeutung zu, weil damit die mittelalterliche
deutsche Ostexpansion
gestoppt wurde. 1243 schloss der Deutsche Orden mit Nowgorod Frieden. Die Deutschritter verzichten ausdrucklich auf kunftige Expansionsabsichten im Nowgoroder Gebiet. Der Vertrag bildete fur ein Jahrhundert die Grundlage der beiderseitigen Beziehungen und legte die Ostgrenze des
Baltikums
gegenuber Russland fur die Folgezeit fest.
Ein Zusammengehen mit dem Orden hatte zwar eine mogliche schlagkraftige Abwehr gegen die Tataren bedeutet und wurde von westorientierten Bojaren der Stadt auch gefordert. Letztlich konnte auch Newski nichts gegen die Mongolen ausrichten und suchte eine realistische Politik, da von einer dauerhaften mongolischen Bedrohung auszugehen war. Anstatt mit dem Orden zusammenzuarbeiten, hatte er diesen bekampft und entschied sich nun dazu, mit den Tataren zu kooperieren. Denn mit dem Orden hatte auch der Katholizismus Einzug in die Rus gehalten, und die Mongolen waren ihrerseits fur die religiose Toleranz bekannt.
[28]
Als Großfurst von Wladimir-Susdal (seit 1252) unterstellte
Alexander Newski
1257 den Tataren Nowgorod. Die Stadt
Wladimir
wird 1263 neues Zentrum des russischen Reiches.
[29]
So bewahrte er die Nordost-Rus vor schweren Einfallen der Reiternomaden und verschaffte dem Großfursten zugleich den notigen Ruckhalt gegenuber Groß-Nowgorod und dem
Furstentum Twer
, welche Zentren antimongolischer Stromungen waren. Die Autonomie geriet nach seinem Tod wieder in Gefahr, da seine Nachfolger die starke Stellung Newskis nicht halten konnten und ein Machtvakuum schufen. Das Großfurstentum Wladimir-Susdal musste daher zunehmend auf mongolische Truppen gegen die russischen Fursten (besonders Nowgorod) setzen.
Seit der Wende des 12./13. Jahrhunderts wurden die westlichen Teilfurstentumer durch das
Großfurstentum Litauen
bedroht. Plundernde litauische Streifscharen wurden haufig bei innerrussischen Furstenfehden als Hilfstruppen ins Land gerufen. Betroffen waren die Teilfurstentumer Polock,
Smolensk
,
Turov-Pinsk
und Teile
Wolhyniens
. In der ersten Halfte des 13. Jahrhunderts kam es zu Eheverbindungen zwischen den Familien ostslawischer Dunafursten und litauischen Fursten. Eine echte Bedrohung entwickelte sich zwischen 1240 und 1250, als
Mindowe
die innere Konsolidierung Litauens vollzog und eine Konzeption in die litauischen Expansionsbestrebungen kam. Der teilfurstliche Partikularismus wie auch der beginnende Mongolensturm begunstigten hierbei die expansiven Absichten der litauischen Großfursten. Litauen war seinerseits durch die Festsetzung des Deutschen Ordens in
Preußen
als auch in
Livland
und seit Beginn des 14. Jahrhunderts durch das Erstarken Polens an einer Westexpansion gehindert, so dass die litauischen Großfursten das entstandene Machtvakuum im Osten ausnutzen mussten.
[30]
Nach dem Tode Mindaugas 1263 blieb von den litauischen ostslawischen Erwerbungen nur die
Schwarze Rus
am oberen Njemen um
Grodno
und
Nowogrodek
unter dauernder litauischer Herrschaft. Als am Ende des 13. Jahrhunderts
Vytenis
die ganze litauische Macht wieder vereinigen konnte, begann die entscheidende Phase der Expansion. Vytenis selber gliederte 1307 Polock endgultig an. Sein Nachfolger
Gedimin
(1316?1341) dehnte den litauischen Machtbereich bis an den westlichen
Bug
und uber den
Prypjat
aus und gewann auch an Einfluss in Smolensk.
Algirdas
(1345?1377) nahm in Konkurrenz mit dem polnischen Konig
Kasimir III.
das
Furstentum Galizien-Wolhynien
in die Zange und konnte aus den langen Kampfen mit Polen um die Beute Wolhynien und
Ostpodolien
einbringen. Mit der Eroberung Kiews und fast des gesamten mittleren
Dnepr
-Beckens beherrschte er gut 60 Prozent des ehemaligen Kiewer Reiches.
[31]
Im Windschatten dieser Konflikte wurde
Moskau
, das zu Beginn des 13. Jahrhunderts noch eine unbedeutende Burgstadt war, aber durch einen breiten Gurtel von Waldsumpfen gut geschutzt, das vorherrschende Furstentum. Durch den Erhalt der Großfurstenwurde von Twer und der Verlagerung des Metropolitensitzes gewann Moskau den Anspruch, legitimer Nachfolger der Kiewer Rus zu sein.
Alexander Newskis jungster Sohn
Daniil Alexandrowitsch
bekam von der Goldenen Horde als Lehen das kleine Teilfurstentum Moskau. Als Daniil Alexandrowitsch am 4. Marz 1303 in Moskau starb, hinterließ er seinem Sohn
Juri I. Daniilowitsch
ein Herrschaftsgebiet mit noch bescheidenem Umfang. Es umfasste das engere Territorium der Residenzstadt Moskau, dazu die jungsten Erwerbungen
Kolomna
,
Serpuchow
und Gebiete auf dem linken
Oka
-Ufer sowie das ererbte
Pereslawl-Salesski
. Unter Juri I. Daniilowitsch erreichte der bereits seit Jahrzehnten spurbare Aufstieg des Furstentums Moskau eine neue Phase. Bereits zu Anfang der Herrschaft Juri I. Daniilowitschs begann dieser mit der Ausweitung seines Territoriums. 1303 eroberte er das Furstentum und die strategisch wichtige Festung
Moschaisk
, wodurch er den gesamten Lauf der
Moskwa
unter seine Kontrolle brachte. Ein Jahr spater bestatigte ihm der Khan der Goldenen Horde den Besitz des Furstentums Pereslawl-Salesski.
Die Großfurstenwurde begann am Anfang des 14. Jahrhunderts nach einer Zeit des Niedergangs wieder attraktiver zu werden, weil der Khan mit diesem Titel Recht und Verpflichtung zur Sammlung der zu zahlenden Tribute fur das gesamte russische Gebiet ubertrug. Dem Großfursten kamen in diesem System eine Schlusselstellung und damit eine Machtposition zu, denn damit war, wie einst in Kiew, uber ein territorial abgegrenztes Großfurstentum (zum Beispiel des Furstentums Twer) der Anspruch auf das Gesamte hergestellt: Der Inhaber dieses Titels reprasentierte dann das ganze (Furstentum) Wladimir, anstatt nur das Territorium des eigenen Teilfurstentums in der Beziehung zu den Tataren. Daran entzundeten sich Auseinandersetzungen Moskaus mit dem
Großfurstentum Twer
, das bis dahin den Titel der Großfursten von Wladimir besaß.
Beide Furstentumer waren zunachst gleich stark in den Machtkampf gestartet. Auch Twer lag zentral und verkehrsgunstig; seine Walder boten Fluchtlingen Sicherheiten und neue Existenzmoglichkeiten. Beide Residenzstadte waren als befestigte Grenzorte entstanden. 1147 wurde Moskau erstmals erwahnt, 1127 Twer. Als Furstentumer waren sie noch weit junger. Das Moskauer Furstentum trat erst ab den 1290ern als selbstandiger politischer Organismus in Erscheinung und damit etwa dreißig Jahre spater als das Furstentum Twer.
[32]
Dieses hatte bereits 1247 die Großfurstenwurde erhalten. Auch 1304 erhielt Twer nochmals die Großfurstenwurde. Mit dem Machtantritt Khan
Ozbegs
1314 erhielt Juri I. von ihm als erster Moskauer Furst die Position des Großfursten von Twer ubertragen. Die Kampfe hielten wahrend des ersten Viertels des 14. Jahrhunderts an. Twer erhielt 1324 erneut die Großfurstenwurde, doch nach einem Aufstand in Twer verheerte eine großangelegte Strafaktion der Mongolen das Furstentum Twer. Nutznießer war Moskau, dessen Furst
Iwan Kalita
1328 die Großfurstenwurde erhielt, welche seither der Moskauer Dynastie zukam und nicht mehr erfolgreich angefochten wurde.
[33]
Moskau konnte sich gegen das Furstentum Twer vor allem aufgrund der Interessengemeinschaft mit Khan Ozbeg durchsetzen, denn Iwan I. garantierte den Mongolen eine verhaltnismaßige Ruhe in der Rus, da er als ein zuverlassiger Steuereintreiber der Goldenen Horde fungierte. Das bedeutete, dass Moskau militarisch von den Mongolen geschutzt wurde, wenn sich Twer mit Litauen verbundete und einen Angriff auf Moskau begann. Es kam in der Folgezeit zu einer Inflation des Großfurstentitels: Neben dem Großfursten von Wladimir gab es auch die Großfursten von Twer,
Jaroslawl
und
Rjasan
. Diese Situation entstand, weil es bereits vor den Moskauern andere Großfursten von Wladimir gegeben hatte und deren Erben ihrem Herrschaftsgebiet den Großfurstentitel hinzugefugt hatten. In der Folge anderte deshalb der Großfurst
Iwan I.
spater seinen Titel in den eines ?Großfursten der ganzen Rus’“ (
Velikij knjaz’ vseja Rusi
).
Der ?Metropolit von Kiew und ganz Russland“,
Peter
, verlegte 1325/28 seinen Sitz von Wladimir nach Moskau, da der Furst von Twer ihn als Kandidaten ablehnte. Moskau unterstutzte ihn, und so starkte auch die Kirche unter Peter und seinem Nachfolger
Theognost
den Rucken des Moskauers. Durch seine Entscheidung hatte er maßgeblichen Anteil an der politischen Aufwertung dieses ursprunglich unbedeutenden Furstensitzes im Nordosten.
Iwan Kalita
(1325?1341) begrundete den Aufstieg Moskaus, da er viel von den in ganz Russland eingezogenen Steuern beziehungsweise Tributen fur eigene Zwecke verwendete. Wahrend seiner Herrschaft kehrten etwas ruhigere Verhaltnisse im Innern und ein wirtschaftlicher Aufschwung ein. Begunstigend wirkten sich hierfur der beginnende Machtverfall der Goldenen Horde und der Machtgewinn Moskaus aus. Zwar war Moskau zu dieser Zeit noch nicht in der Lage, die Gefahrdung durch außere Feinde oder durch innere Zwistigkeiten vollig zu bannen, doch war das Maß der inneren Ruhe wesentlich starker als noch in den hundert Jahren zuvor. Um die Mitte des 14. Jahrhunderts entwickelte sich daher ein nachhaltiger wirtschaftlicher Aufschwung in den Landern der Rus, nachdem die Pestwellen von 1352/53
[34]
und 1360?1366
[35]
uberwunden wurden. Monumentale Bautatigkeiten lebten wieder auf, zum Beispiel 1326 der Bau der ersten steinernen Kirche in Moskau (Vorgangerin der heutigen
Maria-Entschlafens-Kathedrale (Moskau)
) nach der Verlegung des Sitzes des Oberhaupts der russischen Kirche. 1329 veranlasste Iwan den Weiterbau des
Moskauer Kreml
und bald darauf die Errichtung neuer holzerner Befestigungsanlagen. Anspruchsvollere Gewerbezweige entwickelten sich und die Rodetatigkeiten wurden verstarkt ausgefuhrt. Auch ein Neubeginn einer eigenen Munzpragung fallt in diese Zeit. Die
Binnenkolonisation
erfuhr in der zweiten Halfte des 14. und am Anfang des 15. Jahrhunderts eine erhebliche Belebung. Ursprunglich war diese als Ausweichbewegung vor den Tataren angefacht worden. Dadurch konnte die Erschließung der
Taiga
erheblich beschleunigt werden. Kleine Siedlungsgruppen wanderten hierzu von den Altsiedlungen stromabwarts in Richtung des Weißen Meeres, in die bis dahin unerschlossenen Waldmassive.
[36]
Wesentlichen Anteil am Moskauer Aufstieg hatten die adeligen Dienstleute. Die Moskauer Großfursten warben gezielt Fursten ab. Der Ubertritt von Rjurikiden in Moskauer Dienste geschah nicht immer unfreiwillig, denn gerade die Zersplitterung vieler Teilfurstentumer bot den
Kleinherrschern
in immer geringem Maße ein standesgemaßes Leben und Schutz vor den
Annexionsbestrebungen
machtiger Nachbarn. Beides sicherten sie, wenn sie die Abhangigkeit von Moskau akzeptierten, die ihnen als Dienstfursten den hochsten Rang in der Moskauer Dienstadelhierarchie zusicherten. So erhielt Moskau die militarische Kraft dieser Territorien, und blutete gleichzeitig die restlichen Teilfurstentumer durch Abwanderung des Adels nach Moskau militarisch so weit aus, dass Widerstand sinnlos wurde.
[37]
Zu Moskaus Aufstieg trug auch bei, dass es den Großfursten im Gegensatz zu anderen russischen Furstentumern auf lange Sicht gelang, das
Seniorat
durch die
Primogenitur
zu ersetzen und Teilungen ihres Herrschaftsgebietes zu verhindern. Anfangs blieb es strittig, wer beim Tod des Großfursten innerhalb der Moskauer Linie der Nachfolger werden sollte. Als das Moskauer Großfurstentum im 14. Jahrhundert seine ersten Entwicklungsphasen durchlief, gab es, ebenso wie im alten Kiewer Reich, keine stabile und unbestrittene Thronfolgeordnung. Doch zunachst konnten die Erben Iwan Kalitas,
Simeon
(1341?1353) und
Iwan II.
(1353?1359), die Nachfolge unbeschadet ubernehmen, da die Bruder Iwan Kalitas Simeon als den Altesten anerkannten. Beim Tod Iwans II. gab es nur anfangs Probleme, aber einer seiner zwei Sohne starb bald nach dem Tod Iwans II. Zu ihrer Zeit gab es 1353 und 1364
Pestepidemien
, die große Teile der Furstenfamilie hinwegrafften. Dadurch wurde das Furstentum zunachst vor Teilungen bewahrt.
[38]
Die Moskauer Herrscher versuchten, als die politischen Bedingungen dafur gegeben waren, die Thronfolge (in ihrem Sinne) zu beeinflussen. Den Unsicherheitsfaktor, dass ein Großfurstenthron beim Thronwechsel zum Streitobjekt zweier oder mehrerer Rivalen wurde, wollten sie ausschalten.
Dmitri Donskoi
(1359?1389) betrachtete als erster Moskauer Großfurst nicht nur das (Teil-)Furstentum Moskau, sondern auch das Großfurstentum als ?Vatererbe“. Damit war die Voraussetzung fur den Beginn einer großfurstlichen Thronfolgepolitik gegeben; das vom Tatarenkhan verliehene Territorium konnte weitervererbt werden. So entwickelte Dimitri aus der Improvisation heraus eine Stufenordnung:
- Zunachst legte er die vertragliche allgemeine Anerkennung des Thronfolgeanspruchs der Sohne durch andere russische Fursten fest,
- darauf folgte die Anerkennung des Anspruchs eines bestimmten Sohnes und
- schließlich die testamentarische Vererbung.
Sein Versuch, auch schon den Nachfolger seines Nachfolgers zu bestimmen, misslang und lieferte den Grund fur eine blutigen Fehde. Wenn der alteste Sohn eines Fursten den Weg der
Primogenitur
von sich aus einschlug und in einem solchen Fall der nach dem
Seniorat
erbberechtigte jungere Bruder des Verstorbenen nicht nachgab, so entwickelte sich eine Auseinandersetzung zwischen Onkel und Neffe, wie beispielsweise in der blutigen
Moskauer Fehde
von 1425 bis 1453 zwischen zwei Zweigen der Moskauer Dynastie, worunter hauptsachlich das einfache Volk zu leiden hatte. Nach wiederholtem lokalem Aufflackern der
Pest
und den Hungersnoten 1417?1427 verschlimmerten die folgenden Kriegsjahrzehnte die allgemeine Not zu einer anhaltenden Wustungsperiode, die ganze Landstriche fast vollig entvolkerte. Es war
Vasili II.
(1425?1462), der die Stufenfolge um ein wesentliches neues Element erweiterte: die Ernennung des Thronfolgers zum Großfursten und Mitherrscher noch zu Lebzeiten. Dadurch setzte sich die Vorstellung durch, dass der Erbe des Großfursten der einzig rechtmaßige Nachfolger der großfurstlichen Herrschaft und fur andere Anwarter jeder Kampf von vornherein aussichtslos war.
[39]
Die Beilegung des innerdynastischen Konflikts unter Vasili II. leitete nach dem Niedergang bis 1453 eine uber hundertjahrige Bluteperiode ein. Von innen wie außen kaum bedroht, konnte das Moskauer Reich einen Großteil seiner Krafte nach innen konzentrieren. Der Siedlungsausbau erreichte eine Hochphase; Stadtewesen, Gewerbe und Handel bluhten wieder auf.
Mit den fur Moskau gunstigen Bedingungen bemuhten sich die Großfursten von Moskau um die Errichtung von
Russki Mir
(?Russische Welt“), ein vielschichtiger Begriff, der erstmals im 11. Jahrhundert von Großfurst
Isjaslaw I.
verwendet worden war und womit unter den herrschenden Umstanden in erster Linie die Wiederherstellung der Kiewer Rus gemeint war. Dieser Prozess des
Sammelns russischer Erde
[40]
verlief aber keineswegs geradlinig oder zwanghaft.
[41]
In Kriegen gegen alle anderen Teilfurstentumer entzogen ihnen die Moskauer Großfursten schrittweise ihre Machtgrundlagen. Auch die machtigsten Teilstaaten wurden (teilweise durch Kauf) eingegliedert und unterlagen dem umfassenden Verbot außenpolitischer Beziehungen. Jeder Versuch der Teilfursten, eigene Politik zu betreiben, galt als Verrat an Moskau.
So konnte der ernsthafteste Konkurrent Moskaus,
Twer
, ausgeschaltet werden. Im Gegensatz zu Moskau hatte Twer 1319, 1333 und 1399 dynastische Teilungen erleben mussen und wurde daruber hinaus durch die Kampfe zweier konkurrierender dynastischer Linien zwischen 1346 und 1360 in seiner Entwicklung geschwacht. Einige Jahre spater (1368?1375) konnte Moskau gegen Twer wiederum die Oberhand behalten. Ausloser war eine innenpolitische Krise Moskaus. Nach einigem Hin und Her fiel die Entscheidung, als der Moskauer Großfurst
Dmitri Donskoi
(1359?1389) einer Machtubernahme des Großfursten
Michail von Twer
zuvorkam. Dieser hatte von Abgesandten
Mamais
am 14. Juli den Großfurstenjarlyk uberbracht bekommen. Dmitri fiel mit einem großen Truppenaufgebot in das Großfurstentum Twer ein. Am 5. August begann die Belagerung Twers. Als die erwartete litauische Hilfe ausblieb, unterzeichnete Michail von Twer nach einmonatiger Belagerung den von Dmitri geforderten Unterwerfungsvertrag. Er behielt zwar seine Eigenstandigkeit, musste aber Dmitri Donskoi als Ubergeordneten anerkennen und außenpolitische Beschrankungen hinnehmen. Dieser Ausgang demonstrierte die gewachsene Autoritat Moskaus. Dmitri Donskoi befand sich auf dem Weg zum Großfursten der gesamten Rus. Damit war Twer geschwacht, und Nowgorod versank in innere Zwistigkeiten, sodass Dmitri mehrere Furstentumer uber die Wolga hinweg weit nach Nordwesten bis
Beloozero
und
Galitsch
eingliedern konnte. 1392 konnte er das 1341 gegrundete Großfurstentum
Susdal-Nischni-Nowgorod
unter seine Kontrolle bringen, welches sich zwischenzeitlich zu einem Konkurrenten Moskaus entwickelt hatte, aber letztlich ebenso unterlag. Nischni-Nowgorod wurde Moskaus Außenposten gegen das Kasaner Khanat.
Noch bestand die Oberherrschaft der Tataren uber Moskau und bedrohte den Aufstieg Moskaus durch Unterstutzung der anderen russischen Fursten. Also musste sich Moskau von der Oberherrschaft distanzieren und bildete fortan das russische Zentrum des antimongolischen Widerstands. Dmitri fuhlte sich stark genug, nach dem Sieg uber Twer 1375 auch eine Auseinandersetzung mit dem Emir zu wagen. Denn schon nach der Ermordung von Khan
Dschani Beg
(1357) hatte die Goldene Horde eine Schwacheperiode mit haufigen Thronwechseln durchzustehen. Zwischen 1357 und 1380 losten sich allein 25 Khane ab. Der Ausfall einer allgemein anerkannten Zentralmacht gab ehrgeizigen Emiren in den Randprovinzen die Chance zu eigenmachtigem Handeln. Als Anlass diente das Bundnis des Emirs
Mamai
mit Litauen und die Unterstutzung Twers und Rjasans gegen Moskau. Dmitri errang einen Sieg uber die Tataren in der
Schlacht von Kulikowo
, unweit des Dons, weil Dmitri zuschlug, bevor die Litauer eintrafen. Dieser Sieg beendete jedoch nicht die Tatarenherrschaft, da Khan
Toktamisch
1382 Moskau erobern konnte. Ein weiterer großer tatarischer Einfall vollzog sich im Winter 1408/09. Die Landbevolkerung litt schwer unter den Einfallen, eine Eroberung Moskaus wie noch 1382 gelang aber nicht mehr. Letztlich konnte sich die Goldene Horde von dem Schlag nicht mehr erholen. Auch die Fursten von Twer und Rjazan waren durch ihre Zusammenarbeit mit Litauen und der Horde diskreditiert, und Moskau konnte innerhalb der Rus erheblich an Reputation hinzugewinnen. Der Niedergang der Goldenen Horde setzte sich in den Folgejahrzehnten unvermindert fort.
Edigu
verlor seine beherrschende Stellung in den Wirren von 1410 bis 1412. Er starb 1419 von der Hand eines der Sohne Toktamischs, zu einem Zeitpunkt, als das territoriale Auseinanderbrechen des Herrschaftsbereiches der Goldenen Horde nicht mehr aufzuhalten war. Als sich Anfang des 15. Jahrhunderts aus dem Staatsgebiet der Goldenen Horde das
Khanat Kasan
, das
Krimkhanat
und das
Khanat Astrachan
ausgliederten, waren die Tataren endgultig zu schwach, um den weiteren Aufstieg Moskaus zu verhindern. Gefahrlich blieben ihre Einfalle aber noch gut anderthalb Jahrhunderte. Nach dem Tod Dmitris folgte ihm
Vasili I.
(1389?1425), der ein gesichertes Erbe antrat. Er starkte es nach außen durch die Ehe mit Sofja, der Tochter des litauischen Großfursten, und floßte damit dem Khan
Timurlenk
so viel Respekt ein, dass Moskau von 1395 bis 1412 keinen Tribut zahlen musste.
Moskau hatte sich im Kampf gegen die Tatarenherrschaft profiliert, wahrend die Goldene Horde im Auflosungsprozess war. Dadurch gewann Moskau Freiraum fur den Kampf im Innern der Rus. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts waren die Kleinstaaten von der politischen Landkarte der nordostlichen Rus verschwunden. Es waren nur vier Staatengebilde ubrig geblieben: Moskau, Nowgorod, Twer und Rjasan. Die Teilfurstentumer, insbesondere die Konkurrenten Moskaus wie Twer und Nowgorod, waren auf Aufrechterhaltung ihrer Eigenstaatlichkeit bedacht. Im erbitterten Kampf wurden die noch verbliebenen russischen Furstentumer unter Moskaus vereinigt. An der oberen Wolga existierten bei Regierungsantritt
Iwans III.
(1462 bis 1505) noch unbedeutende Reste der
Furstentumer Jaroslawl
und
Rostow
. Beide standen schon seit der Zeit Dmitri Donskois im Vasallenverhaltnis zum Moskauer Großfursten. Iwan III. gliederte 1471 Jaroslawl und 1474 Rostow dem Moskauer Reich ein. 1478 wurde dann Twer und die fruhere Regionalmacht und Stadtrepublik Nowgorod gewaltsam
annektiert
:
[42]
- Großfurst Iwan III. eroffnete am 9. Oktober 1476 den Endkampf um die Eingliederung
Nowgorods
, als er mit einem großen Heer von Moskau aufbrach. Am 27. November schloss sich ein Belagerungsring um die Stadt, deren Fuhrung durch zahlreiche Gesandtschaften in das Lager des Großfursten vergeblich versucht hatte, das Unheil abzuwenden. Nach langwierigen Verhandlungen, in denen der Großfurst seine harten Forderungen prazisierte (u. a. Landabtretungen, Tributzahlungen, Auflosung der bisherigen politischen Institutionen der Stadt etc.), wurden die Bedingungen des Unterwerfungsvertrages niedergeschrieben und der Erzbischof sowie die Stadtteilevertreter zur Unterschriftsleistung befohlen. Am 15. Januar entsendete der Großfurst seine Beauftragten in die Stadt, um alle Bewohner auf die Einhaltung der Abmachung zu verpflichten. Am 22. Januar trafen die großfurstlichen Statthalter in Nowgorod ein, am 29. Januar nahm der Großfurst personlich mit großem Gefolge von seinem ?Vatererbe“ Besitz. Der Anschluss Nowgorods stellte den Hohepunkt der Vereinigungspolitik Iwans III. dar, war aber noch immer nicht abgeschlossen.
- 1484 erhielt Iwan III. Nachricht, dass der Furst von Twer Michail Borissowitsch einen Vertrag mit den Großfursten von Litauen,
Kasimir IV. Jagiełło
geschlossen hatte. Der Großfurst erklarte Twer den Krieg. Seine Truppen belagerten die Stadt. Nach der Flucht des Fursten Michail Borissowitsch in der Nacht zum 12. September unterzeichnete eine Delegation der Stadtbewohner die Ubergabebedingungen. Iwan III. gelang es damit, eines der letzten freien Furstentumer zu annektieren. Er setzt seinen Sohn und Thronfolger Iwan zum Fursten ein und griff, wie schon 1478 in Nowgorod, zum Mittel der Zwangsumsiedlung, um jeglichen Widerstandswillen der Bevolkerung zu brechen.
[43]
In der Folgezeit gewinnt Iwan III. bestimmenden Einfluss auf Rjasan und Pskow.
Moskau grenzte nun im Westen an das Großfurstentum Litauen. Ein Kampf um die weißrussischen Furstentumer war von nun an auf der außenpolitischen Tagesordnung und musste sorgfaltig geplant werden. Dazu musste zunachst die tatarische Oberhoheit gelost werden. 1476 wurden die Tributzahlungen an die Mongolen beendet. Als 1480 zwei Bruder Iwans III. dessen Machtposition bedrohten, sah Kahn Achmat eine Moglichkeit, Moskau zu schwachen, woraufhin er mit einem Heer in Richtung Moskau vorruckte. Iwan III. zog mit seinen Truppen aus Moskau an die Ugra, um eine drohende Vereinigung zwischen dem Tatarenkhan
Achmat
und dem polnischen Konig Kasimir IV. zu verhindern. Dies fuhrte 1480 zum
Stehen an der Ugra
. Der kampflose Abzug der Truppen der Goldenen Horde nach mehreren Monaten des Gegenuberstehens beider Heere wird als das endgultige Ende der mongolischen Vorherrschaft angesehen. Mit der Befreiung von der Oberherrschaft der Tataren bekraftigte Iwan III. die Fuhrungsrolle des Moskauer Reiches in Russland fur den anstehenden Kampf gegen Litauen.
[44]
Mit dem Erstarken Moskaus begann ein lang anhaltender Konflikt mit Litauen um die Vorherrschaft. Beide Lander beanspruchten fur sich die Herrschaft uber die Rus. Die Litauer vertraten den lateinischen, die Moskauer den orthodoxen Glauben. Da die Litauer als Fremde angesehen wurden, konnte sich Moskau in den Kriegen aufgrund einer starkeren inneren Kohasion der Gebiete durchsetzen und Litauen stetig nach Westen drangen.
Litauens Versuche, im Zuge seiner Expansion im 14. Jahrhundert die Nachfolge der Kiewer Rus anzutreten, waren bereits an der fehlenden Akzeptanz der Bevolkerung der Lander der Rus gescheitert. Versuchen, Kiew als dem alten geistlichen und kulturellen Zentrum der Rus durch Einrichtung einer gegen Moskau gerichteten
Metropolie
zu neuer Geltung zu verhelfen, blieb dauernder Erfolg versagt.
Eine entscheidende Wendung, die sich gunstig fur Moskau auswirkte, vollzog sich 1385, als der litauische Großfurst
Jogaila
die polnische Konigin
Jadwiga
heiratete und zum romisch-katholischen Glauben ubertrat. Durch die Bildung der
Polnisch-Litauischen Union
wurde Moskaus Nachbar zwar noch starker, aber Litauen wurde zunehmend in polnische Angelegenheiten verwickelt und richtete seinen Blick zunehmend nach Westen. Auch fehlte den litauischen Großfursten nun die Legitimation als orthodoxe Herrscher.
Zu Beginn des 15. Jahrhunderts hatten sich die Beziehungen zwischen Moskau und Litauen wieder verschlechtert, nachdem diese in der
Schlacht an der Worskla
gegen die Tataren eine schwere Niederlage erlitten.
Vytautas
Niederlage an der Worskla beendete die litauischen Expansionsbestrebungen nach
Sudruthenien
. Sein Staat verlor zudem den Zugang zum Schwarzen Meer. Die Litauer konzentrierten sich nun auf den Kampf um nordlichere
Furstentumer wie Smolensk
. Dies fuhrte zu einem
Krieg mit Moskau von 1406 bis 1408
. Dieser endete mit dem
Frieden an der Ugra
, der fur einige Stabilitat sorgte.
[45]
Mit dem 1492 ausgebrochenen Moskauisch-Litauischen Krieg begann eine langere Folge militarischer Konflikte zwischen dem Moskauer Staat und seinem westlichen Nachbarn
Polen-Litauen
. Der benachteiligte orthodoxe Adel der ostlichen Gebiete Litauens versprach sich mehr Vorteile und Macht bei einem Ubertritt zum Großfurstentum Moskau. So schlossen sich zwischen 1487 und 1493 mindestens vier Furstenhauser aus den Ostprovinzen des Großfurstentums dem Moskauer Staat an. Ende der 1490er Jahre verließen dann die Fursten Semjon Belski, Semjon und Iwan Moschaijski und Wassili Schemjatitsch den litauischen Verbund. Immer wieder kam es zu Grenzkonflikten zwischen beiden Reichen. Zu Beginn des
Zweiten Litauisch-Russischen Krieges
(1500?1503) erlitt das litauische Heer in der
Schlacht an der Wedrosch
nordostlich von Smolensk eine schwere Niederlage. Es gelang der litauischen Heerfuhrung in der Folgezeit nicht, eine Koordinierung der Kampfhandlungen mit den Verbundeten (Livlandischer Orden, Khan Achmat der Großen Horde) zu erreichen. Am Ende des Krieges musste Litauen 1503 die Gebiete
Tschernihiw
,
Nowgorod-Sewerski
,
Gomel
,
Brjansk
,
Putiwl
,
Starodub
und
Mzensk
an Moskau abtreten. So hatte Iwan III. zum Ende seiner Herrschaft alle Voraussetzungen geschaffen, um sich als Großfurst von ganz Russland zu bezeichnen, da er das Gebiet der ganzen Rus, bis auf die von Litauen eroberten Gebiete zum neuen russischen Staat vereinigte.
Auch der Nachfolger Iwans III., sein Sohn
Wassili III.
(1505?1533), bemuhte sich um die Expansion Russlands nach Westen. Wenig spater, 1514, kam es erneut zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den Streitkraften Moskaus und Litauens, so etwas zum
Russisch-Litauischen Krieg 1512?1522
. In dieser Zeit wurde unter der Fuhrung Moskaus eine
antijagelionische
Allianz gegrundet mit dem Ziel, das Großfurstentum Litauen aufzuteilen und die weißrussischen Provinzen dem Großfurstentum Moskau zuzuschlagen. 1514 kam es zur russischen Einnahme von
Smolensk
. Der Sieg, den die Truppen unter dem Oberkommando Konstantin Ostroschkis in der
Schlacht bei Orscha
am 8. September uber das Moskauer Heer errangen, hielt die Expansion Moskaus nach Westen jedoch vorerst auf.
[46]
Unter Wassili III. erfolgte der Anschluss der letzten russischen Furstentumer, 1510 der
Republik Pskow
und 1521 des sudlichen
Furstentums Rjasan
. Gleichzeitig begannen vom Suden her jedoch Uberfalle der
Krimtataren
, die an der zunehmenden Unterlegenheit Litauens nicht interessiert waren. Nach dem Tode des Krimkhans
Menli I. Giray
1515 zerbrach das zeitweilig enge Bundnis Moskaus mit den Krimtataren endgultig. Das Verhaltnis war in den vorausgegangenen Jahren durch zahlreiche Grenzubergriffe und wiederholte Annaherungen an Litauen erheblich belastet. Unter dem am 13. April inthronisierten neuen Khan
Mehmed I. Giray
gewann die moskaufeindliche Richtung die Oberhand, gleichzeitig verlor Moskau im
Khanat Kasan
seinen bisherigen beherrschenden Einfluss. In dieser Zeit nahmen auch die
Moskau-Kasan-Kriege
zwischenzeitlich eine fur Moskau unvorteilhafte Wendung. Vergeblich versuchte Wassili III. uber direkte Kontakte zum osmanischen
Sultan
die drohende Gefahrdung der Sud- und Sudost-/Ost-Grenzen seines Herrschaftsbereiches abzuwenden. In der Folgezeit drangen die Krimtataren wiederholt bis nach Moskau vor und zerstorten dieses.
Die Moskauer Großfursten konnten durch den außerlichen Machtzuwachs und die Ausschaltung der innerrussischen Konkurrenten auch einen inneren Machtgewinn erreichen, der zu einer extrem machtvollen Herrscherposition fuhrte, der
Selbstherrschaft
. Kirche und Adel wurden in ihrem Einfluss begrenzt. Die Herrschernachfolge erfolgte nun durch die Primogenitur, und nach außen wurde durch die Freiwerdung und Verwendung des Zarentitels ihre Unabhangigkeit gesichert. Der Aufbau einer Burokratie sicherte ihnen die Durchfuhrung einer geordneten Herrschaft.
Durch die Entstehung des russischen Reiches um dessen Zentrum Moskau und die Abschuttelung des Tatarenjochs wuchs am Ende des 15. Jahrhunderts die Bedeutung der Großfursten Moskaus und ließ das russische Reich etappenweise in die europaische Staatenwelt eintreten. Die wachsenden Kontakte mit dem westlichen Ausland spiegelten sich auch in vermehrten Auslandsreisen von Russen wider, um ihre Fachkenntnisse zu erweitern. Außerdem wurden zunehmend westliche Fachleute ins Land geholt. Als okonomische Spezialisten, Diplomaten, Baumeister oder Waffentechniker nahmen sie Dienst und ubten einen wichtigen Einfluss aus. Zwischen den Oberschichten Westeuropas und denen des Moskauer Reiches fand wieder ein kultureller Austausch statt.
[48]
Moralisch und rechtlich blieb dieses neue russische Reich aber außerhalb der damals offiziell anerkannten Volker- und Staatengemeinschaft. Das lag zum einen an dem sich selbstandig entwickelnden Staat Russland, also ohne Vorbilder wie Rom oder Byzanz mit ihrem Herrschafts-, Rechts- und Feudalsystem, zum anderen an der fehlenden historischen Anerkennung Russlands als Staat unter Gleichen. So war eine neue Titulatur notig, um die Anerkennung ihres Großfurstentitels auch international sicherzustellen. Das
Großfurstentum Litauen
, deren Großfursten selbst im Titel den Passus ?vieler russischer Lander Herrscher“ trugen, hatte dem Moskauer Großfursten bis zum aufgedrangten Waffenstillstand von 1494 die Anerkennung als ?Herrscher der ganzen Rus“ (Titelerganzung des Moskauer Großfursten) verweigert, schließlich befand sich ein großer Teil der Rus unter litauischer Hoheit. Als Moglichkeit bot sich der Zarentitel an. Der Zarentitel war, durch die
Eroberung von Konstantinopel
und die Losschuttlung der tatarischen Fremdherrschaft uber Russland, frei geworden. Iwan III. heiratete danach die
Nichte
des
letzten Kaisers
von
Byzanz
, sah sich dadurch als rechtmaßiger Nachfolger der Kaiser des untergegangenen Byzantinischen Reichs und begann dann gelegentlich den Zarentitel fur sich inoffiziell im Verkehr mit aus russischer Sicht schwacheren Machten zu gebrauchen.
Grundlegende Anderungen in der orthodoxen Kirche konnte Iwan III. aufnehmen und in seine Politik der Festigung und Erweiterung der eigenen Machtstellung einbauen:
- Der Fall Konstantinopels und das
Florentiner Konzil
brachten der russischen Kirche die
Autokephalie
. Das heißt, dass der Metropolit nach seiner Wahl nicht mehr der Bestatigung durch den okumenischen Patriarchen bedurfte, sondern dass dafur die Zustimmung des Moskauer Großfursten genugte. Damit wurde der Metropolit noch mehr als bisher an den Moskauer Großfursten gebunden, denn diese Anderung beraubte die Moskauer Kirche ihres letzten Ruckhalts außerhalb des großfurstlichen Machtbereichs.
[49]
Dadurch wurde der ursprungliche orthodoxe Gedanke der gleichrangigen Herrschaft von Kirche und weltlicher Macht in der Folgezeit weit ubertroffen. Damit half die Kirche selbst der Selbstherrschaft der Großfursten in den Sattel.
- Aus kirchenpolitischen Grunden entstand eine theokratische Staatstheorie, die Moskau als neue (orthodoxe) Heilsstadt erklarte. Nach 1453 wanderte eine große Zahl orthodoxer Kirchenmitglieder nach Russland ein. Es war damals die einzige christlich-orthodoxe Großmacht, die nicht durch islamische Eroberer besetzt war. Da das ?Erste Rom“ aus orthodoxer Sicht vom rechten Glauben abgekommen und das ?Zweite Rom“ ? Byzanz ? diese Funktion nicht mehr wahrnehmen konnte, erklarten orthodoxe Kirchenvertreter Moskau zum ?
Dritten Rom
“. An die Nachfolger Iwans III. richtete der Begrunder der Theorie von Moskau als ?Drittem Rom“, der Monch
Filofej
, die Worte:
?Denn wisse, du Christus Liebender und Gott Liebender: Alle christlichen Reiche sind vergangen und sind zusammen ubergegangen in das Eine Reich unseres Herrschers, gemaß den prophetischen Buchern: das ist das Russische Reich. […] Denn Zwei Rome sind gefallen, aber das dritte steht und ein viertes wird es nicht geben“
Gestutzt durch diese theokratische Staatsvorstellung Filofejs sowie die durch eine Abstammungslegende mittlerweile ausgesponnene Lehre vom dritten Rom konnte sich die Selbstherrschaft in der Folgezeit voll entfalten.
[51]
Das Moskauer Reich war innerhalb kurzer Zeit rasch gewachsen. Durch den Ubergang zu einer begrenzt expansiven Politik zahlte das Reich um 1500 bereits zwei Millionen Quadratkilometer mit einer Bevolkerung von sechs bis acht Millionen Einwohnern.
[52]
Dies machte eine Regierungsreform notwendig, die dem vergroßerten Rahmen Rechnung trug, da die Herrschaft durch personliche Beauftragung nicht mehr gelenkt werden konnte. Durch die Erweiterung der Kompetenzen des großfurstlichen Schatzamtes (
Kazna
), der obersten Verwaltung der großfurstlichen Hofbesitzungen (
Dworez
) sowie durch eine Spezialisierung der dort tatigen Sekretare auf bestimmte laufende Geschafte im
Moskauer Kreml
etablierten sich Vorformen einer festen zentralen Verwaltungsspitze. Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts hatte sich dieser burokratische Apparat dann so weit differenziert, dass selbstandige Geschaftsbereiche in Gestalt der
Prikas
gebildet werden konnte. Diese betrafen:
- die Militaradministration,
- die Versorgung der Dienstleute,
- die laufenden diplomatischen Geschafte.
Dieses aus pragmatischen Erwagungen ohne ein durchschaubares Konzept entstandene Gliederungsprinzip der obersten Verwaltungsbehorden fuhrte in der Folge zu haufigen Kompetenz-Uberschneidungen und letztlich zu burokratischer Erstarrung. Um die Grundlage fur eine einheitliche Rechtsprechung zu schaffen, wurde das geltende Gewohnheitsrecht 1497 in einem Gesetzbuch, dem
Sudebnik
, kodifiziert.
Als
Wassili III.
1533 uberraschend starb, war Iwan IV. gerade drei Jahre alt. Seine Zukunft und die der Selbstherrschaft waren keineswegs gesichert. Bereits Iwan III. hatte in seinem Testament bestimmt, dass nicht die Bruder Wassilis, sondern dessen Kinder die weiteren Erben sein sollten. Zum ersten Mal wurde damit offiziell die Abkehr vom Seniorat zugunsten der
Primogenitur
erklart. Unumstritten war das aber immer noch nicht. Wassili hatte bis zu Iwans Kronung eine Regentschaft eingesetzt. Die Interessen der Regentschaftsmitglieder prallten in harten und blutigen Kampfen aufeinander. Innenpolitisch sorgte
Helena Glinskaja
, die Mutter Iwans, fur eine Wahrungsreform, forderte den Stadtebau und verbot den Klostern, weiteren Grundbesitz zu erwerben. Nach ihrem Tod 1538 wurden diese Ansatze jedoch nicht fortgefuhrt. Stattdessen brachen erneute Machtkampfe zwischen rivalisierenden Bojarencliquen aus. Der Adel verspielte dabei seine Chance, ein Herrschaftssystem aufzubauen, das ihm die Beteiligung an der Macht gesichert hatte.
[53]
Nach dem Ende der Mongolenherrschaft 1480 war aus den einstmals verfeindeten russischen Furstentumern ein autokratisch regierter und zentral von einem neuen Dienstadel verwalteter Einheitsstaat mit Großmachtsanspruch entstanden. 1547 wurde als erster russischer Herrscher
Iwan IV. zum Zaren gekront
. Zum einen verdeutlichten die russischen Herrscher durch den Zarentitel, dass sie sich nun vollkommen von der tatarischen Oberherrschaft befreit hatten, und zum anderen zeigten sie, dass sie auch im Vergleich zum Westen etwas Neues, Eigenes geschaffen hatten und nicht dazu bereit waren, sich dem bestehenden europaischen Hierarchiesystem anzupassen. In der folgenden Periode griff das Zarentum Russland weit uber die bisherige begrenzte Expansion zur Wiedererlangung der Gebiete der Rus hinaus und expandierte bis 1700 an den Pazifik im Osten. Die territoriale Ausdehnung vollzog sich nicht als geradliniger expansionistischer Prozess, sondern auch als Reaktion auf Versuche der Nachbarn, sich auf Kosten Russlands zu bereichern.
[54]
Im Westen erlitt das Zarentum im Kampf um die Ostseeherrschaft Ruckschlage und konnte erst ab der zweiten Halfte des 17. Jahrhunderts Territorialgewinne erreichen. Im Inneren erstarrte das gewachsene Reich, so dass gegen 1700 große Reformanstrengungen notig waren, um den Ruckstand gegenuber dem westlichen Teil des europaischen Kontinents aufzuholen.
Mit
Iwan IV.
, der spater den Beinamen ?der Schreckliche“ (grosny korrekt ubersetzt ware ?der Drauende“) erhielt, folgte ein Herrscher, der gegenuber den Bojaren aufgrund der blutigen Auseinandersetzungen in seiner Kindheit ein starkes Misstrauen besaß. Daher sah er den
Dienstadel
und die Verwaltung als wichtige Stutzen seiner Herrschaft gegen die
Bojaren
. Iwan IV. verstand sich als uneingeschrankter Selbstherrscher und wollte mit Unterstutzung der Kirche den blutigen Machtkampf der Bojaren beenden. Fur seinen angestrebten außenpolitischen Expansionskurs brauchte er eine stabile Herrschaft.
[55]
Dazu umgab er sich mit einem Beraterkreis und fuhrte die Reformansatze seiner beiden Vorganger den Erfordernissen eines Großreiches entsprechend fort. So drangten die innenpolitischen Reformen den Einfluss des Hochadels zuruck bei gleichzeitiger Forderung des Dienstadels.
- 1550 wurde ein neuer Sudebnik in Kraft gesetzt, der detaillierte Regelungen enthielt, um die Missbrauchsgefahr zu verringern.
- Bei der Verwaltungsreform wurde ein zentrales Besoldungssystem der Bediensteten eingerichtet und ersetzte das bisherige Selbstversorgungssystem, das zu vielen Auswuchsen gefuhrt hatte.
- Die unabhangige Macht der bojarischen Statthalter, der
Namestniki
, wurde gebrochen.
- Den Stadtern und den
freien Bauern
raumte Iwan IV. Wahlrechte im Bereich der ortlichen Selbstverwaltung ein.
- Eine Heeresreform verpflichtete nun auch den Erbadel zum Dienst.
- Die Lander des Erbadels wurden daraufhin uberpruft, ob unrechtmaßige Besitzvermehrungen vorgekommen worden waren. In solchen Fallen wurden diese Landereien eingezogen und an den Dienstadel verteilt, der dadurch insgesamt wirtschaftlich besser gestellt und somit noch enger an Iwan IV. gebunden wurde.
[56]
Iwan IV. erkrankte 1553 schwer. Seine Nachfolgeregelung zugunsten seines noch unmundigen Sohnes wurde von den Bojaren nicht ohne weiteres akzeptiert. Dies starkte sein Misstrauen und er witterte Verrat in den Reihen des hohen Adels. Der Tod ihm nahestehender Personen, die eine ausgleichende Wirkung auf den Zaren hatten, wie seiner Frau
Anastassija Romanowna Sacharjina
1560 und des Metropoliten
Makarij
, bewirkten ein Ubriges. Es zeigten sich die Schattenseiten einer uneingeschrankten Selbstherrschaft, die zunehmend Terrorzuge annahm. 1560 verbannte der Zar einige seiner engsten Berater. Als ein Mitglied der
Bojarenduma
,
Andrei Michailowitsch Kurbski
, 1564 zu den Litauern uberlief, leitete Iwan IV. Gegenmaßnahmen ein, die zur eigentlichen Terrorherrschaft fuhrten und sich offen gegen die Aristokratie richteten. Ende 1564 zog sich Iwan IV. in eine Vorstadt zuruck und trennte sich territorial und verwaltungsmaßig von seiner Herrschaft. Der Zar wollte Panik und Verwirrung stiften, um das Volk gegen die Bojaren aufzubringen.
[57]
Zu diesem Zweck sonderte er seit 1565 immer großere Gebiete des Landes als
Opritschnina
(das Abgesonderte) mit eigener Duma, eigener Verwaltung und eigenem Heer und zugleich einem besonderen Personenverband ab. Viele der Bojaren wurden umgebracht, zu Monchen geschoren oder ausgesiedelt. Auf ihren Gutern siedelte er eine neue Schicht ihm ergebener Dienstleute, der
Opritschniki
, an, die als Werkzeuge seiner Terrorherrschaft dienten. Schon bald wurden sie selbst als Verrater betrachtet. Sie denunzierten sich gegenseitig und wurden schließlich ebenfalls großtenteils ermordet. Die Absonderung eines Teils seines Territoriums hob Iwan IV. nun wieder auf und gab das Land an seine rechtmaßigen Besitzer zuruck. Infolge der Opritschnina wurde der Dienstadel nun zur machtigsten Schicht des Reichs. Das alte Bojarentum war zerschlagen.
Der Aufstieg des Dienstadels vergroßerte den Druck auf die Dienstbauern. Bauern, die sich nicht restlos der
Gutswirtschaft
unterwerfen wollten, flohen nun in großen Zahlen aus
Zentralrussland
nach Suden und suchten Schutz bei den
Kosaken
in dem herrschaftsfreien Raum zwischen Russen, Polen, Turken und Krimtataren (→
Wildes Feld
). Weil die Zahl der Arbeitskrafte in den Kerngebieten des Reiches schnell schrumpfte und damit die Existenz des hier angesiedelten Dienstadels auf dem Spiel stand, wurden die Bauern auf die
Scholle
gebunden und ihr
Abzugsrecht
ausgesetzt.
[58]
Der Machtzerfall der Goldenen Horde in Zentralrussland hatte die Position des Moskauer Großfurstentums gestarkt, aber die Tatarengefahr war noch nicht vollig gebannt. Noch besaßen die Tataren das machtige
Khanat Kasan
an der mittleren Wolga und das
Khanat Astrachan
an der unteren Wolga sowie das
Krimkhanat
. Die russische Diplomatie suchte geschickt durch eine Politik des
Divide et impera
die Khanate gegeneinander auszuspielen. Zugleich sank die militarische Macht der Tataren, da sie von den militarischen Entwicklungen, wie beispielsweise dem europaischen Festungsbauwesen und der Artillerie, unzureichenden Gebrauch machten. Unter solchen Umstanden konnte Iwan IV. dank des in jahrzehntelanger Wirtschaftsblute entstandenen wirtschaftlichen Potenzials eine neue imperiale Machtpolitik umsetzen.
[58]
Die Wahl hierfur fiel auf das Tatarenkhanat Kasan, mit dem sich das Moskauer Reich seit dem 15. Jahrhundert
eine Reihe militarischer Auseinandersetzungen
lieferte. Schon Großfurst Iwan III. hatte Kasan als sein Protektorat behandelt. Zweimal war Zar Iwan IV. vergeblich gegen Kasan gezogen, die klimatischen und logistischen Probleme erwiesen sich als unuberwindlich. Erst der dritte Feldzug gelang mit der erfolgreichen Einnahme der Tatarenhauptstadt Kasan 1552. Damit leitete Zar Iwan IV. eine neue Phase der russischen Außenpolitik ein, die uber das traditionelle
[40]
Sammeln des Landes der Rus
hinausgriff. Die Expansionspolitik zielte auf die Gewinnung des gesamten
Wolgabeckens
. Als 1556
Astrachan
, das Zentrum der
Nogaischen Horde
fiel, hatte das russische Zarentum den großten Teil des fruchtbaren Schwarzerdegurtels gewonnen und durch die Beseitigung der Flankenbedrohung vom Osten her in weiten Teilen der bauerlichen Besiedlung geoffnet. Zudem wurde der Wolgahandelsweg auf seiner ganzen Lange gesichert. Damit wurde der Weg zur Kolonisierung
Sibiriens
offen.
[59]
Der krimtatarische Herrscher
Menli I. Giray
reagierte angesichts der russischen Erfolge und unterstellte sich dem osmanischen Sultan Mehmed II. Er erhielt fur seine Abhangigkeit die Dienste osmanischer Hilfstruppen und Artillerie, wodurch er in die Offensive gehen konnte. Krimtatarische und osmanische Armeen forderten das
Wolga
-Gebiet fur den Islam zuruck und drangen gegen Moskau vor. 1571 gelang es einer kleinen Armee des Chans
Devlet I. Giray
, die russischen Befestigungen unentdeckt zu umgehen und vor Moskau aufzutauchen. Die Vorstadte wurden in Brand gesteckt, woraufhin die ganze Stadt bis auf den
Kreml
niederbrannte. Zehntausende Menschen kamen um, weil die Stadt ohne Verteidigung geblieben war. Ein Jahr spater kam der Chan mit einem wesentlich großeren Heer zuruck, in der Hoffnung, das angeschlagene Russland endgultig niederzuwerfen. Er musste jedoch eine schwere Niederlage in der
Schlacht bei Molodi
hinnehmen, die die Bedrohung durch das Krimkhanat in den folgenden Jahrhunderten beschrankte. Trotzdem hielten die Raubzuge und Verschleppungen von Menschen im sudlichen Grenzland noch lange an. Dies war einer der Faktoren, die die Entwicklung des
Kosakentums
als wehrhafter Bauern weiter forderte. Dennoch konnte das Khanat der Krim der wachsenden Macht Russlands immer weniger standhalten. Katharina II. tat im 18. Jahrhundert den letzten Schritt, indem sie das Khanat zunachst besetzte und dann eingliederte.
[60]
Das turktatarische
Khanat Sibir
naherte sich wahrend des Russisch-Krimtatarischen Krieges politisch dem
Krimkhanat
an und griff russische Siedlungen im
Ural
an, die zum Besitz der einflussreichen Kaufmannsfamilie
Stroganow
gehorten. Daraufhin erhielt diese vom Zaren das Recht, eigene Truppen zum Schutz ihrer Landereien aufzustellen und gegen die sibirischen Tataren vorzugehen. Zu diesem Zweck heuerten die Stroganows die im Steppenland zwischen
Wolga
und
Don
lebenden
Kosaken
an. Unter ihrem Anfuhrer
Jermak Timofejewitsch
unternahmen die Kosaken im Jahr 1582 mit knapp tausend Mann, jedoch mit Musketen und Kanonen ausgestattet, einen
Feldzug gegen das Khanat Sibir
. Die Unzufriedenheit kleinerer
ugrischer
Volker mit
Kutschum Khan
geschickt ausnutzend, konnten sie unaufhaltsam vorrucken und seine Hauptstadt
Qaschliq
im Sturm erobern. Dass nicht der Zar, sondern der Kosakenfuhrer Jermak das Machtvakuum jenseits des Urals nutzte und das schwache Westsibirische Tatarenkhantat angriff, liegt in der militarischen Agonie begrundet, die das russische Zarentum zu dieser Zeit durchlebte. Erst als der Staat gegen Ende des 16. Jahrhunderts neue Kraft schopfte, konnte er unter Zar
Boris Godunow
durch Entsendung von Truppen und Anlegung von Stutzpunkten den Bruckenkopf ausbauen (Grundung von
Tjumen
1586,
Tobolsk
1587) und 1598 durch die endgultige Eroberung des Khanats ganz Westsibirien sichern. Der russische Drang nach Osten begrundete sich aus dem Bedurfnis des Staates, sich feste naturliche Grenzen im Osten zu verschaffen. Da auch in den folgenden Jahrhunderten das Machtvakuum an der Ostgrenze des Russischen Reiches erhalten blieb, stieß die russische Expansionsbewegung hier auf den geringsten Widerstand.
Die russische Ostsiedlung verlief im Wesentlichen unbemerkt von der europaischen Offentlichkeit. Seit dem Erwerb des Khanats Sibir 1581 und mit der Grundung von
Tomsk
1604 standen die großen Weiten Sibiriens der russischen Besiedlung offen. Trager der Besiedlung waren
Kosaken
, eine Bevolkerung, die sich aus Bauern, die der Leibeigenschaft entflohen waren, und Tataren gebildet hatte und hier kolonisatorische und militarische Aufgaben als Wehrbauern ubernahm. 1648 wurde der ostliche Landzipfel Sibiriens erreicht (vgl.
Russische Eroberung Sibiriens
).
Unmittelbar nach der Eroberung von Astrachan wendete Zar Iwan IV. seine außenpolitische Aufmerksamkeit der livlandischen Frage zu. In Uberschatzung der wirtschaftlichen Leistungsfahigkeit des russischen Zarentums riskierte Zar Iwan IV. einen Konflikt mit
Polen-Litauen
und
Schweden
, der ihn in einen zermurbenden Krieg um die Beherrschung der Ostseekustenregion hineinzog (
siehe:
Livlandischer Krieg
1558?1583). Konflikte um die Ostseeherrschaft hatte es bereits fruher zwischen Nowgorod, dem Deutschen Orden und Schweden gegeben. So erbte Moskau mit der Inkorporierung Nowgorods 1476 auch die Konflikte mit Schweden und dem Deutschen Orden. 1492 legte Iwan III. Russlands ersten Ostseehafen (
Iwanograd
) gegenuber der
Ordensfestung Narwa
an. Die Festung war auch gegen Schweden gerichtet, von dem Iwan III. Teile
Kareliens
forderte. Die Schweden schleiften jedoch nach russischen Angriffen 1496 Iwanograd, bevor im nachsten Jahr ein Waffenstillstand abgeschlossen wurde. Auch der Deutsche Orden wollte Russlands Auftauchen an der Ostsee nicht hinnehmen. Es kam von 1501 bis 1503 zu einem Krieg.
Ziel war es, fur das von den Meeren und dem Handel weitgehend isolierte Russland einen Zugang zur
Ostsee
zu gewinnen. Den Anlass gab die wachsende innerlivlandische Uneinigkeit zwischen Kirchenfursten,
Livlandischem Orden
, Stadten und
Ritterschaft
, die leichte Beute versprach. Die anfanglichen Gebietsgewinne im Baltikum gingen jedoch bald wieder verloren, da
Estland
sich schwedischer und Livland litauischer Oberhoheit unterstellte. So musste Zar Iwan IV. sich gegen zwei neue Gegner stellen. Nach den Friedensschlussen
mit Polen-Litauen 1582
und
Schweden 1583
gingen alle Eroberungen verloren, ferner hatte Polen-Litauen seine Ostgrenze leicht nach Osten verschieben konnen und Schweden sicherte sich fur ein Jahrhundert
Ingermanland
im Nordwesten, wodurch Russland von der Ostsee isoliert wurde. Der einzige Hafen, uber den Russland jetzt noch Handel mit dem Westen treiben konnte, wurde das 1584 gegrundete
Archangelsk
. Englische Kaufleute, die einen eigenen Handelsweg zum
Kaiserreich China
und nach
Indien
erkundeten, hatten 1553 durch eine Expedition uber das Weiße Meer Kontakt mit Russland geknupft. Daraufhin wurden Handelskontakte mit Russland vereinbart und die
Muscovy Company
gegrundet. Sie erhielt 1554 das eintragliche Privileg des ausschließlichen Handels mit Russland. So fuhren in den nachsten Jahrhunderten regelmaßig Schiffe der Muscovy Company nach Archangelsk. Jeweils im Fruhjahr fuhren die Handelsflottillen der Englander in der
Dwina-Mundung
ein. Im Herbst stachen sie, nun mit Waren beladen, erneut in See. Die Englander brachten Tuch, Zucker, Gewurze, Edelsteine, Waffen, Munition und Waren aus dem Mittelmeerraum nach Russland; und sie kauften Felle, Leder, Wachs, Hanf, Teer, Getreide, Kerzen und Holz.
1584 starb Iwan IV. vollig ausgezehrt. Er hinterließ im Inneren ein zerruttetes, im Außeren ein ungefestigtes Land und einen geistig zuruckgebliebenen Sohn
Fjodor I.
auf dem Thron, fur den jedoch der Bojare
Boris Godunow
die Regierungsgeschafte ubernahm. Nach dem Tod Fjodors 1598 erlosch die jahrhundertealte
Rurikiden
-Dynastie, da Iwan der Schreckliche zuvor seinen Sohn
Iwan
in einem Wutanfall getotet hatte, wahrend sein Sohn
Zarewitsch Dmitri
spater unter mysteriosen Umstanden erstochen wurde. Die folgenden dreißig Jahre waren anfangs noch durch verhaltnismaßig stabile Zustande gekennzeichnet, doch zeigte sich bald, wie wenig gefestigt die Selbstherrschaft der Zaren war. Boris Godunow ließ sich nun zum Zaren kronen. Er war ein begabter Herrscher, agierte aber sowohl gegen den Hochadel (der ihn als nicht rechtmaßig ansah), als auch gegen die Bauern (Festigung der
Leibeigenschaft
), sodass seine Position, zumal nach den schweren Hungersnoten von 1601 bis 1603, immer schwacher wurde. Als er 1605 starb, sturzte das Land in eine Zeit schwerer politischer Unruhen (
Zeit der Wirren
). Schweden und Polen versuchten, die Wirren in Russland zu nutzen und zu intervenieren. Ein Abenteurer, der sich als
Zarewitsch Dmitri
ausgab (
Pseudodimitri I.
), konnte mit polnischer Unterstutzung kurz den Zarenthron besteigen, er scheiterte aber an denselben Gegensatzen wie sein Vorganger, zumal seine Reformversuche als polnisch inspiriert wahrgenommen wurden. Er wurde in einem Aufstand umgebracht, woraufhin die Situation in Russland allerdings nur noch instabiler wurde. Es gab nun einen Zaren der Bojarenpartei
Wassili Schuiski
, der von den Schweden und einen zweiten
falschen Dimitri
, der von Polen und Kosaken unterstutzt wurde. Als die Polen im
Polnisch-Russischen Krieg von 1609 bis 1618
im Jahr 1610 Moskau einnahmen, um nunmehr ihren Konig
Sigismund Wasa
zum Zaren zu machen, hielt ihre Herrschaft nur ein Jahr. Ein Volksaufstand, der von
Kusma Minin
und
Dmitri Poscharski
angefuhrt wurde, fuhrte zum Entsatz Moskaus und zur Aufgabe der polnischen Herrschaft.
Trotz des Sieges in Moskau standen noch immer die Schweden im Nordwesten Russlands. Der Schwedenkonig verlangte wiederum die Zarenkrone fur den Prinzen
Karl Filip
als Austausch fur Novgorod. Allerdings stand eine auslandische Thronfolge nicht mehr zur Debatte. Russland suchte einen
nationalen, orthodoxen
Zaren. So beschlossen die neu formierten russischen Landstande 1613 in Moskau, den 16-jahrigen
Michael Romanow
, ein Kandidat des Dienstadels, zum russischen Zaren zu wahlen. Der junge Mann schien als hinreichend schwacher Zar, von dem man keine tyrannische
Autokratie
befurchten musste.
[61]
Die durchfuhrende Wahlversammlung, die sich als ganzes Land konstituierte, wurde durch fast alle sozialen Schichten und Gruppen mit Ausnahme der Unfreien und der herrschaftlichen Bauern vertreten.
[62]
Zwar hatten gerade diese Gruppen
[63]
in den zweieinhalb Jahren des Interregnums von 1610 bis 1613 den Widerstand gegen die auslandische Intervention getragen und eine Verwaltung muhsam aufrechterhalten, aber Bedingungen wurden dem designierten Zaren Michail vor der Wahl nicht gestellt. Damit endete die Interregnumsphase im Russischen Zarenreich und die verbliebenen polnischen Truppen zogen sich an die polnische Grenze zuruck. Mit diesem Ereignis ging die
Smuta
, die Zeit der Wirren, zu Ende. Der neue Zar begrundete die Dynastie der
Romanows
, die bis zur
Oktoberrevolution
in Russland herrschte.
Nach weiteren funf Kriegsjahren wurde 1618 der
Vertrag von Deulino
unterzeichnet, in dem Polen-Litauen das Gebiet um Smolensk und
Sewerien
zugesprochen bekam, die das
Großfurstentum Litauen
im Vertrag von 1522 an Russland verloren hatte, außerdem wurde ein 14½-jahriger Waffenstillstand beschlossen. Das Zarentum Russland erlangte durch diesen Vertrag die Waffenruhe, die es dringend benotigte, um sich im Innern regenerieren zu konnen.
Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts benotigte das Russische Zarentum um die Depression von 1560 bis 1620 zu uberwinden. Die machtpolitische Zuruckhaltung, die das erschopfte Land sich Polen-Litauen gegenuber auferlegte,
[64]
wurde nur
1632 bis 1634
unterbrochen als man infolge eines polnischen Interregnums nach dem Tod des polnischen Konigs Sigismund III. Wasa im Bund mit dem Schweden
Gustav Adolf
die 1618 verlorenen Gebiete erfolglos zuruckerobern wollte.
Das wahrend der Zeit der
Smuta
entwickelte Standische Bewusstsein ging 1622 nach dem Abflauen der Notstandssituation zugunsten der Anknupfung an der alten Autokratie unter. Unterstutzt wurde dieser Prozess durch die Kirche, fur die die zaristische Macht traditionell eine notwendige Erganzung der eigenen geistlichen Autoritat war. Der kleine und mittlere Dienstadel benotigte den Zaren wiederum als Schutz vor der machtigen Hocharistokratie. Das russische Volk, das stark im Bewusstsein der Autokratie verwurzelt war, konzentrierte sich nach der chaotischen Zeit der Smuta auf Sicherheit und Wohlstand und hieß einen starken Helden, in der Person des Zaren, willkommen.
Der zweite Zar aus dem Hause Romanow,
Alexei I.
, schuf mit der Einrichtung des ?
Prikas
fur geheime Staatsangelegenheiten“ ein wichtiges Kontrollorgan, das ihn in die Lage versetzte, die Regierungsgewalt weitgehend selbststandig auszuuben. Seine Regierung ist durch verstarkte Unterdruckung der Bauern und Erhohung der Steuerlasten gekennzeichnet, was ab 1648 zu Stadtaufstanden fuhrte (Moskau, Tomsk, Pskow und Nowgorod). Dadurch sah sich Alexei gezwungen, die Landesversammlung (
Semski Sobor
) einzuberufen und 1649 ein neues Reichsgesetzbuch, das
Sobornoje Uloschenije
, zu erlassen, das die
Leibeigenschaft
zementierte.
Zar Alexei konnte durch geschicktes Taktieren den 1648 begonnenen
Chmelnyzkyj-Aufstand
fur sich ausnutzen und ubernahm 1654 mit dem
Vertrag von Perejaslaw
die Schutzherrschaft uber das ukrainische
Hetmanat
. Im daraufhin beginnenden
Russisch-Polnischen Krieg 1654?1667
konnten
russische Truppen
1654
Smolensk
erobern. Nach weiteren russischen Erfolgen im folgenden Jahr griff Schweden in den Krieg ein und Russland konnte das gesamte
Großfurstentum Litauen
an sich bringen. Ende 1655 schloss Russland mit Polen einen Waffenstillstand und wandte sich gegen Schweden (→
Russisch-Schwedischer Krieg 1656?1658
). Nachdem der neue Hetman Iwan Wyhowski sich 1658 mit dem
Vertrag von Hadjatsch
auf die Seite Polen-Litauens gestellt hatte, einigte sich Russland mit Schweden auf den
Waffenstillstand von Valiesar
(1658). Der nunmehr wiederaufgenommene Krieg gegen Polen verlief wechselhaft (Litauen ging wieder verloren), letztlich konnte sich Russland aber 1667 im
Friede von Andrussowo
Smolensk, Kiew und die Ostukraine sichern. In ostlicher Richtung erweiterte Zar Alexei sein Reich mit der Eroberung
Ostsibiriens
bis an die Grenze
Chinas
.
1658 uberwarf sich Alexei mit dem Patriarchen
Nikon
uber die von diesem eingeleiteten kirchlichen Reformen, der Sitz des Patriarchen blieb danach fur acht Jahre unbesetzt. Der Konflikt fuhrte 1666 zur Spaltung der
russisch-orthodoxen Kirche
. Die sogenannten
Altglaubigen
weigerten sich, den neuen Ritus anzunehmen und wurden daraufhin vom Staat verfolgt, so dass es zu einer erheblichen Auswanderungswelle ins
Baltikum
, ins
Donau
-Delta und uber den
Ural
kam. Wahrenddessen hatte sich 1662 die Moskauer Bevolkerung erneut zum Aufstand erhoben. Der Kampf der unterdruckten Bauern entlud sich schließlich im
Rasinschen Aufstand
unter
Stepan Rasin
von 1670/71, der allerdings rasch niedergeworfen wurde. 1676 konnte zusammen mit den Ukrainern eine massive
turkische Aggression
abgewehrt werden. Das internationale Ansehen in seiner Regierungszeit war betrachtlich gestiegen.
Als Alexei starb, wurde sein 16-jahriger Sohn
Fjodor III.
sein Nachfolger. Fjodor III. war sowohl religios wie auch dem Westen sehr zugeneigt. In seiner Regierungszeit wurden daher viele Reformen begonnen, jedoch konnten die meisten davon aufgrund seiner kurzen Regentschaft nicht zu Ende gebracht werden. Die wichtigste Reform war die Abschaffung der Rangplatzordnung beim
Militar
(
Mestnitschestwo
). Weitere Reformen starkten die Zentralisierung des Staatsapparats und drangten den Einfluss des Patriarchen zuruck, den dieser auf die Staatsgeschafte ausubte. Zugleich hatten die Reformen eine Verschlechterung der sozialen Lage der unteren Volksschichten zur Folge, die zum
Moskauer Aufstand von 1682
fuhrte.
Ein behindernder Umstand der Reformen war, dass sich Russland fast die ganze Zeit uber mit dem
Osmanischen Reich
im Krieg
befand, der erst 1681 mit dem fur Russland vorteilhaften
Frieden von Bachtschissarai
beendet wurde. Fjodor III. litt an
Skorbut
und starb bereits 1682, ohne einen Sohn als Nachfolger zu hinterlassen. Die Regentschaft ubernahm Fjodors Schwester
Sophia Alexejewna
. Die
Feldzuge gegen das Krimkhanat
, die die Regentin und Golizyn in den Jahren 1687 und 1689 unternahmen, blieben jedoch erfolglos und fuhrten schließlich zu ihrem Sturz Anfang August 1689.
Die Kriegsniederlagen fuhrten dazu, dass das Ansehen von Peter I. zunahm; sein politisches Engagement wuchs und die Beliebtheit in der russischen Bevolkerung nahm stetig zu. Mit der heranstehenden Volljahrigkeit Peters wurde fur Sofia die Gefahr der Absetzung immer deutlicher und sie plante mit ihren Verbundeten einen Anschlag auf Peter. Dessen Agenten hatten dieses Attentat fruhzeitig erkannt und Peter konnte sich durch Flucht entziehen. Den Sieg um die Auseinandersetzungen um den Thron errang schließlich die Partei Peters I., die Sofia ins
Nowodewitschi-Kloster
bei Moskau verbannte.
Zar
Peter I.
, der seit 1689 die Regierungsgeschafte fuhrte, gab dem russischen Staat eine neue Pragung. Er verhalf dem in Teilen noch mittelalterlich gepragten Russland zur dauerhaften Integration in die westeuropaische Staatenwelt. Russland lag technologisch zu dem Zeitpunkt hinter den meisten Staaten Westeuropas zuruck. Dazu beigetragen hatte die Abschirmungspolitik des Staatsapparates und der Kirche, die nur da Lucken bot, wo man den Westen benotigte.
[65]
Auch griff der Moskauer Staat im Falle kriegerischer Gefahr noch auf
Adelsaufgebote
zuruck und war zudem wegen seiner schwachen Finanzkraft nicht in der Lage, den Schutz des riesigen, nur unzureichend erschlossenen Territoriums uberall erfolgreich zu ubernehmen.
[66]
Der junge Herrscher hatte sich durch Aufenthalte in der Moskauer Auslander-Vorstadt, der
Nemezkaja sloboda
, und seine Aufenthalte wahrend seiner ersten großen Auslandsreise, der sogenannten
Großen Gesandtschaft
in den Niederlanden und England vom Marz 1697 bis August 1698 ein genaues Bild von Westeuropa, seinem Wissen und seiner Technik gemacht. Der neue Zar begann nun den Umbau des alten Russlands und seiner Institutionen nach modernem Vorbild. Ubergeordneter Zweck war es, das Steueraufkommen zu vermehren, um das Heer zu vergroßern. Da es anfangs kein geplantes Vorgehen gab, kam es zu haufigen Abbruchen bereits begonnener innerer Reformen oder zu kompletten Verwerfungen von Neuansatzen. Die seit 1696 fast ununterbrochenen Kriege
gegen das Osmanische Reich
und
Schweden
sollten den Verlauf, die Ausrichtung und die Durchfuhrung der Reformpakete zusatzlich beeinflussen.
Die Reformen begannen und vollzogen sich ohne eine Gesamtkonzeption auf allen Feldern, wobei nicht nur finanzielle oder militarische, sondern auch kulturelle und Bildungsaspekte eine bedeutende Rolle spielten. Die petrinischen Reformen brachen mit den altrussischen Traditionen und trugen zur Modernisierung des Russischen Reiches bei, welches letztlich zur Großmachtstellung Russlands im 18. Jahrhundert fuhrte. Nachfolgend findet sich eine Ubersicht uber die in Angriff genommenen Reformen:
- Verwaltung und Staatsaufbau: Reformen setzten eine fahige Burokratie voraus. Die vorhandenen Administrationsorgane waren dafur ungenugend. Uberhastete Anfangsreformen in diesem Bereich wurden nach der
Schlacht von Poltawa
sorgfaltiger ausgearbeitet. Vielfach entwarfen auslandische Fachkrafte und Gelehrte die Reglements. Die Gouvernementsreformen von 1708 und 1719 teilten das Reich in acht, dann elf
Gouvernements
ein. 1711 wurde in einem
Ukas
der
Senat
als hochste Zentralbehorde gegrundet. Diese hatte anfangs die Funktion einer Stellvertretung des Zaren inne. Zudem sollte der aus neun Mannern bestehende Senat das Justizwesen leiten und die Innenpolitik uberschauen. Auch wirkte der Senat bei der Gesetzgebung mit. Die zweite Phase der Umgestaltung der Zentralbehorden leitete der Ukas vom 15. Dezember 1717 ein, bei der die ersten Kollegien
[67]
eingerichtet wurden, die die Vorlaufer der spateren Ministerien waren.
- Hauptstadt: Um mit den Moskauer Traditionen zu brechen, bedurfte es eines bedeutenden Signals. Dieses Signal bot sich an, nachdem russische Truppen am 1. Mai 1703 bis zur Newa-Mundung vorgestoßen waren. Der Zar ließ nun nach eigenem Plan ab dem 16. Mai die
Peter-und-Paul-Festung
errichten mit dem Ziel, ein dauerhaftes ?Fenster zum Westen“ zu etablieren und damit die Offnung fur die Modernisierung deutlich zu machen. Im November traf das erste hollandische Handelsschiff ein, zugleich entstand die erste russische Waren- und Wechselborse. In den folgenden Jahren wurde der Ausbau
Sankt Petersburgs
vorangetrieben. Dafur beorderte Peter I. fur die Sommermonate 24.000 Arbeitskrafte in die Sumpfe des Mundungsdeltas der
Newa
. Seit 1708 stieg die Zahl auf bis zu 40.000.
[69]
Es kam zu Unruhen, vor allem in Sudrussland. 1712 wurde die Regierung von Moskau nach St. Petersburg verlegt. Um die neue zentrale Rolle der Stadt als
Fenster nach Westen
zu fordern, erzwang Zar Peter I. seit 1720 die Umleitung fast des gesamten russischen Außenhandels vom bis dato bedeutendsten russischen Außenhandelshafen
Archangelsk
nach St. Petersburg.
- Kirche: Nach dem Tod des Patriarchen
Adrian I.
1700 war der Posten des kirchlichen Oberhauptes der orthodoxen russischen Kirche vakant geblieben. In der Kirchenreform von 1721 wurde die Kirche in Russland endgultig dem Staat untergeordnet.
[70]
- Wirtschaft: Peters Streben nach erhohter Kriegsmacht setzte eine wirtschaftliche Unabhangigkeit voraus. Das Heer und die neu entstandene
russische Marine
mussten mit Waffen, Ausrustungen und einheitlichen Uniformen versorgt werden. Der Zar gestattete daher den Angehorigen aller Stande, Adeligen, Kaufleute, Handwerkern und Bauern, Fabriken aller Art zu grunden. Seit 1709 nahmen russische Eisenwerke im
Ural
, in
Tula
und anderswo ihre Produktion auf. Beim Aufbau der neuen Industrien ergab sich aber sehr bald ein spurbarer Mangel an Arbeitskraften, worauf der Zar die Kategorie der sogenannten
Possessionsbauern
schuf, die sowohl den Boden zu bewirtschaften als auch in den Manufakturen zu arbeiten hatten.
- Finanzen: Um die Besteuerung zu rationalisieren, wurde 1718 die
Kopfsteuer
eingefuhrt, wonach allen mannlichen Landbewohnern gleichmaßig die gesamte Steuerlast eines Dorfes aufgeburdet werden sollte. Eigentlich als Erleichterung fur die Bauern gedacht, hatte sich durch die standigen Finanzforderungen des Zaren die Lage der Bauern erheblich verschlechtert.
[71]
- Gesellschaft: In allen Bevolkerungsschichten gab es Widerstand gegen die Reformpolitik, der sich in Volksaufstanden außerte, die wiederum niedergeschlagen wurden. Dass die druckende Steuerlast, die
Schollenbindung
und Leibeigenschaft der Bauern Hauptursachen fur die nur langsamen Fortschritte im Russischen Reich waren, wurde von Zar Peter I. nicht gesehen.
[72]
Zu den Oppositionskraften der von oben diktierten Reformpolitik zahlte neben der Kirche, die sich durch den Bruch mit den Traditionen provoziert sah, auch der Adel, der sich bei der Amterbesetzung ubergangen fuhlte. 1722 wurde im Zuge der
Adelsreform
eine
Rangtabelle
eingefuhrt. Sie ermoglichte den unmittelbaren Vergleich ziviler und militarischer Dienstgrade, brach die Vormachtstellung des alten Erbadels, der
Bojaren
, und schuf einen von der Krone abhangigen Dienstadel. Nur ein Drittel des Adels durfte sich dem Zivildienst widmen; das Militarische genoss Vorrang.
[73]
- Bildung: Bei der Verwirklichung seiner Reformabsichten ? die ihn insbesondere bei seinen kurzeren Auslandsaufenthalten im Heiligen Romischen Reich 1711 und 1712/3 gepragt hatten ? bediente sich der Zar vor allem der deutschen Fruhaufklarung, die in Russland im 18. Jahrhundert zur vorherrschenden Denkrichtung werden sollte.
[74]
Insbesondere die ersten bedeutenden russischen Wissenschaftler
Wassili Nikititsch Tatischtschew
,
Michail Wassiljewitsch Lomonossow
und
Wassili Kirillowitsch Trediakowski
waren von deutschen Gelehrten wie
Leibniz
und
Wolff
beeinflusst. Der Zar erließ zahlreiche Erlasse, durch die Schulen verschiedenster Typen gegrundet wurden. Dennoch blieb das weltliche Schulwesen im Argen, weil es an Geld und Lehrern fehlte. Ein weiteres Projekt war die Etablierung einer
Russischen Akademie der Wissenschaften
, die im Dezember 1725 gegrundet wurde. In enger Verbindung mit der Akademiegrundung stand die von ihm befohlene Erkundung seines Reiches. Die von Peter I. inspirierten Forschungsexpeditionen bis in den
Fernen Osten
, wie die
Expeditionen Berings
, vermittelten der russischen Wissenschaft wichtige Impulse und forderten die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung des Reiches.
[75]
- Kultur: Peters Ansicht, dass zu sehr an althergebrachten Traditionen festgehalten werde, wurde durch Eindrucke bestarkt, die er auf seiner Reise ins westliche Europa gewonnen hatte. Unter anderem waren wallende Vollbarte in den von ihm besuchten Landern eher selten zu sehen, und auch die Kleidung der bereisten Lander erschien ihm funktioneller als die Gewander seiner Untertanen. Er nahm sich daher vor, dies in seinem Reich zu andern. Peter brachte am 5. September 1698 einen
Ukas
heraus,
[76]
der Manner, ausgenommen Geistliche und tendenziell Bauern,
[77]
anhielt, sich ihren Vollbart abzurasieren. Doch Widerstande von Betroffenen blieben. Daraufhin belegte er Vollbarttrager mit einer Abgabe, die 1701 und 1705 vom Zaren erneut angeordnet wurde. Bauern, die in eine Stadt kamen, mussten die Abgabe bezahlen, wollten sie ihren Bart behalten.
[78]
- Militar: Durch auslandische Berater wie
Patrick Gordon
,
Francois Le Fort
und andere wurden die Grundlagen einer modernen Armee nach westeuropaischem Vorbild geschaffen. Als Initialzundung fur die grundlegende Reformierung erwies sich die Katastrophe infolge der
Schlacht bei Narva
im
Großen Nordischen Krieg
im Jahr 1700, bei der sich die
russische Armee
als deutlich unterlegen gegenuber einer viel kleineren schwedischen Streitmacht erwies.
In der Außenpolitik richtete der Zar seine Aufmerksamkeit zuerst auf die Sudgrenze Russlands. Als Teil des
Großen Turkenkrieges
wurde im Oktober 1696 die osmanische Festung
Asow
am Schwarzen Meer nach einjahriger Belagerung erobert. Russland konnte aber ohne eine eigene Flotte, die in der Lage war, das Schwarze Meer zu beherrschen, nicht selbststandig gegen die
Hohe Pforte
vorgehen. Dem Aufbau einer modernen Flotte, mit dessen Problematik sich der Zar bereits in England und Holland vertraut gemacht hatte, widmete der Zar einen großen Teil seiner Kraft. Jedoch verzogerte der neue Krieg gegen Schweden den Kampf um das Schwarze Meer. Stattdessen ging es nun um den Zugang zur Ostsee und seine Beherrschung.
Im
Großen Nordischen Krieg
, vom Zaren dem schwedischen Konig
Karl XII.
im August 1700 erklart, erlitten Russland und seine Verbundeten zunachst schwere Ruckschlage. In der
Schlacht bei Narva
am 19./30. November 1700 wurde die
russische Armee
vom Schwedenkonig Karl XII. vernichtet. Dieser wandte sich anschließend wieder nach Polen, wahrend Zar Peter in der Zwischenzeit die russische Armee von Grund auf modernisierte. Karl XII. hatte in der Zwischenzeit August II. geschlagen und am 24. September 1706 einen Siegfrieden geschlossen. Nun wandte er sich erneut Russland zu und begann 1708 einen Feldzug gegen Moskau. In der
Schlacht von Poltawa
am 27. Juni/8. Juli 1709 konnte Peter einen entscheidenden Sieg uber das schwedische Heer erringen, der die Wende des Krieges bedeutete.
Dass auch die russische Macht an ihre Grenzen stieß, wurde 1711 sichtbar, als bei einem
erneuten Krieg gegen das Osmanische Reich
Zar Peter I. im Juli mitsamt seiner 38.000 Mann zahlenden Armee
[79]
am
Pruth
in Gefangenschaft geriet, jedoch nach zwei Tagen unter Verzicht von Asow und der russischen Asow-Flotte uberraschend freigelassen wurde. Nachdem Russland das bis dato schwedische
Livland
und
Estland
erobert hatte, loste es ? als neuer Ostseeanrainer ? im Ergebnis des
Frieden von Nystad
1721 Schweden als vorherrschende Ostseegroßmacht ab. Zudem wurde das nach dem Frieden von Zar Peter
Imperiale
ernannte Russische Reich von nun an wieder in die allgemeine europaische Geschichte verwickelt und ein festes Glied des europaischen Staaten- und Bundnissystems.
[80]
Dennoch hatte der Nordische Krieg dem russischen Volk das Außerste an Leistung abverlangt. Zeitweilig wurden 82 Prozent der Staatseinnahmen fur den Krieg ausgegeben.
[81]
Zar
Peter I.
(?Peter der Große“) nahm am 20. Oktober 1721 den Titel ?Imperator und Selbstherrscher (
Autokrat
) aller Russen ? Zar zu Moskau, Kiew, Wladimir, Nowgorod, Kasan und Astrachan“
[82]
bzw. ?Kaiser aller
Reußen
“ an und machte einen Monat spater am 21. November die Titulatur als ?Kaiserliche Majestat“ (
Imperatorskoje Welitschestwo
) bekannt.
[83]
Ausloser fur die Einfuhrung des russischen Kaisertums war die durch den Sieg uber die
Großmacht Schweden
im
Großen Nordischen Krieg
erlangte Vormachtstellung Russlands in
Ost-
und
Nordeuropa
sowie Peters I. vorausgegangene allgemeine Bestrebungen zur Reformierung des russischen
Staatswesens
nach westeuropaischem Vorbild, dem die Gleichstellung des Russischen Reiches im europaischen Machtgefuge durch den neuen Titel folgen sollte. Die
Proklamation Peters I. zum Kaiser
erregte in der europaischen Offentlichkeit großes Aufsehen und wurde von den Regierungen der meisten Staaten als Provokation empfunden. Es war schwer fur die russische
Diplomatie
, die internationale Anerkennung der neuen Herrschertitulatur zu erreichen.
Aufgrund des Rechtsakts von 1721 durch den
allrussischen Kaiser
(
imperator wserossijskij
)
[84]
Peter den Großen anderte sich die offizielle Bezeichnung des russischen Reiches. Der Terminus
imperija
(?
Imperium
“) loste den bislang benutzten Begriff
zarstwo
(?
Reich
,
Zartum
“
[85]
) ab.
[86]
Im amtlichen Sprachgebrauch ersetzte die bis dahin nur gelegentlich verwendete
hellenisierte
Form
Rossija
nun endgultig sowohl den Ausdruck
Rus
als auch den Zweitnamen
Moskowien
.
[87]
In der zweiten Halfte des 18. Jahrhunderts stieg das Kaiserreich zur Kontinentalmacht auf; am Beginn des 19. Jahrhunderts avancierte
Alexander I.
zum ?Retter Europas“ vor Napoleon. Die Expansion und internationale Geltung standen im Gegensatz zu den strukturellen Problemen des Reiches. Die starre Sozialverfassung in Form der Leibeigenschaft war fur sich als aufgeklart empfindende Herrscher wie Katharina II. und Alexander I. eine Herausforderung, an der sie scheiterten, wahrend Nikolaus I. gerade in dem Erhalt der Sozialverfassung die Starke Russlands sah und mit dieser Vision im Krimkrieg scheiterte.
Nach dem Tod Peters 1725 folgte ihm seine Frau
Katharina I.
auf den Thron. Zeitlebens Analphabetin, uberließ sie
Alexander Danilowitsch Menschikow
die Regierungsgeschafte praktisch uneingeschrankt. Doch schon zwei Jahre nach ihrem Regierungsantritt starb Katharina. Ihr Nachfolger wurde der Enkel Peters des Großen,
Peter II.
, der Menschikow schon bald entmachtete und seinen Hof nach
Moskau
verlegte. Doch auch Peter starb schon bald nach seinem Regierungsantritt an den Pocken ohne einen Erben zu hinterlassen. Nach seinem Tod wurde der Hof erneut nach St. Petersburg verlegt.
Seine Nachfolgerin als Zarin wurde seine Tante,
Anna Iwanowna
. Sie bremste viele Reformen Peters des Großen, die zu diesem Zeitpunkt noch wirksam waren. Das Geld wurde der Forderung von Bildung und anderen Unternehmungen entzogen und fur aufwandige und verschwenderische Hofzeremonien ausgegeben. Die Persienfrage, ein Konfliktherd gegenuber England und Osterreich, wurde zunachst entscharft, indem Russland nicht weiter darauf drangte, am Kaspischen Meer und Kaukasus zu expandieren. Russland zog sich sogar aus Gebieten zuruck, die unter Peter I. erobert wurden. Dafur konnte ein Bundnis mit
Persien
gegen das Osmanische Reich abgeschlossen und Handelsvorteile erzielt werden. Auch gegenuber China gelang nach dem
Vertrag von Kjachta
1727 eine Ausweitung des Handels. Durch verschiedene Expeditionen setzte man die Erkundung des Fernen Ostens fort. Mit der Erschließung
Kamtschatkas
wurde begonnen und 1731 ein Aufstand der dortigen Einheimischen niedergeworfen. Unter Kontrolle geriet schließlich auch
Kasachstan
. Bis 1740 stellten sich die dortigen Khane unter den Schutz des russischen Kaisers. Eine formelle Eingliederung in das Russische Kaiserreich erfolgte allerdings noch nicht gleich. In der Westpolitik versuchte die russische Diplomatie nach 1725 defensiv zu handeln, um in den Bundnissen mit Osterreich und Frankreich die neu gewonnene Stellung an der Ostsee und in Polen zu halten. Bis zum Beginn der 1730er Jahre bildete sich dabei ein Verstandigungssystem heraus, das auf einem Bundnis mit Osterreich und Preußen sowie auf einem Ausgleich mit England beruhte. Eine erste Krise des Systems brach 1733 im Konflikt auf die Nachfolge August II. auf dem polnischen Thron aus. Frankreich versuchte seinen Favoriten
Stanisław Leszczy?ski
durchzusetzen. Die
Allianz der drei Schwarzen Adler
bestehend aus Russland, Osterreich und Preußen versuchte einen sachsischen Kandidaten durchzusetzen. Im
Polnischen Erbfolgekrieg
sorgten vor allem russische Truppen bis 1736 fur den Sieg des sachsischen Kandidaten
August III.
Als Kriegsgewinn kam
Kurland
, auf das eigentlich Preußen abgezielt hatte, unter russischen Einfluss.
Als der Sieg in Polen feststand, fiel 1735 die Entscheidung zum Krieg gegen das Osmanische Reich. Begrundet wurde das weitere Vordringen Russlands am Kaukasus und am Schwarzen Meer, um sich handelspolitische und strategische Vorteile zu verschaffen. Zu dem Krieg drangte vor allem
Burkhard Christoph von Munnich
, ein Oldenburger der besonders in der Orientpolitik an Einfluss gewonnen hatte. Unter Anna hatten viele
Deutsche
einen erheblichen Einfluss im russischen Staat gewonnen, darunter
Ernst Johann von Biron
und
Heinrich Johann Ostermann
. Dies fuhrte zu Vorwurfen an Anna, unter ihr herrsche die von Auslandern beherrschte
Bironowschtschina
. Diese Entwicklung wurde vor allem durch den Herrschaftsstil Annas begunstigt, die sich ein personliches Beratungsgremium einrichtete und den einst machtigen
Regierenden Senat
zur politischen Bedeutungslosigkeit verurteilte. Seit 1735 verzichtete die Kaiserin aber zunehmend auf ihre eigenhandige Unterschrift. Dies fuhrte zu einer zunehmenden Gunstlingswirtschaft unter ihrem Favoriten Ernst Johann Biron. Die Mehrzahl der hochsten Stellen wurde allerdings durchaus von Russen besetzt. Der
Russisch-Osterreichische Turkenkrieg
nahm militarisch einen wesentlich ungunstigeren Verlauf als erwartet. Im
Frieden von Belgrad
musste Russland 1739 fast alle Eroberungen wieder herausgeben, worauf die Schweden unter Ausnutzung der russischen Schwache Bundnisvertrage mit dem Osmanischen Reich und Frankreich schlossen. Der
Erste Schlesische Krieg
von 1740 bis 1742 im Rahmen des Osterreichischen Erbfolgekrieges brachte Russland weitere Nachteile. Preußen und Osterreich standen sich nun feindlich gegenuber, Frankreich naherte sich Preußen an und gewann damit weiteren außenpolitischen Spielraum. Als Anna 1740 starb, wurde von Biron kurzzeitig Regent fur den erst zwei Monate alten
Iwan VI.
, einen Großneffen Annas. Bald schickte man ihn jedoch in die Verbannung. Munnich, dann nochmal Ostermann gelangten zu neuer Macht.
1741 sturzte schließlich die Tochter Peters des Großen
Elisabeth Petrowna
, mit Hilfe der Garde, die bisher herrschende Hofpartei. Da diese in der Offentlichkeit mit verhassten Auslandern identifiziert wurde, galt der Umsturz beinahe als nationalrussische Revolution. Ostermann und Munich wurden verbannt, Iwan VI. inhaftiert und spater bei einem Befreiungsversuch getotet. Die Regierungszeit Elisabeths war weniger von spektakularen Erfolgen gepragt, trotz solider Fortschritte fur Russland. Kaiserin Elisabeth nahm nach ihren Staatsstreich einen Kurswechsel auf die Seite Frankreichs vor, das sie unterstutzt hatte. Mit dieser Ruckendeckung fuhrte sie
1742?1743 einen siegreichen Krieg gegen Schweden
.
[88]
Die Regierungszeit von Elisabeth war das Gegenteil des Herrschaftsmodells von Anna. Hohe Staatsamter wurden wieder an Russen vergeben, Modernisierung und Weiterentwicklung des Landes wurde wieder angestoßen. Beispielsweise unterstutzte Elisabeth
Michail Lomonossow
bei der Grundung der
Moskauer Staatsuniversitat
. Elisabeth Petrowna erließ einige sehr liberale Gesetze, unter anderem wurde in Russland die Todesstrafe abgeschafft und wahrend ihrer Regierungszeit kein einziges Mal vollzogen. Elisabeth, die sich stark auf den Adel stutzte, forderte die Kunste und die Architektur, auf ihre Initiative wurden das
Winterpalais
von Sankt Petersburg, der
Katharinenpalast
und viele andere bekannte Bauwerke errichtet. St. Petersburg, auch das Venedig des Nordens genannt, stieg endgultig zu einer bedeutenden Metropole auf. Wahrend der Regierungszeit von Elisabeth blieb Russland im Zuge des
Osterreichischen Erbfolgekrieges
auf der osterreichischen Seite. Das Russische Kaiserreich spielte im
Siebenjahrigen Krieg
eine ausschlaggebende Rolle. In dem
Renversement des alliances
von 1756 blieb Russland wiederum an Osterreichs Seite, selbst mit der Gefahr der Feindschaft mit England, das Russlands wichtigster Außenhandelspartner war.
[89]
Die russische Armee operierte sehr erfolgreich und eroberte
Ostpreußen
. Der Tod von Elisabeth 1762, bekannt als das
Mirakel des Hauses Brandenburg
, wendete die totale Niederlage Preußens ab.
Der deutschfreundliche Neffe (sein Vater war der Herzog von Schleswig-Holstein-Gottorp) von Elisabeth,
Peter III.
wurde russischer Kaiser. Als Nachfolger Elisabeths wurde Peter III. von den Staatsgeschaften ferngehalten, so dass er den Thron ohne eigenes Netz von Beratern bestieg.
[90]
Peter III. gab nun Preußen alle eroberten Gebiete zuruck. In seiner kurzen Herrschaftszeit entstand am 18. Februar 1762 das Manifest uber die Befreiung des Adels vom obligatorischen Staatsdienst. Die Adeligen erhielten damit das Recht, dem russischen Staat nicht zu dienen, wann immer sie es wunschten. Der Ukas kam insbesondere dem Hofadel zugute, wahrend die Masse des kleinen und mittleren Adels zu bescheidenen Bedingungen im Dienst bleiben musste. Langfristig forderte dieser Ukas die Schaffung einer echten, von der Regierung distanzierten Gesellschaft, schuf aber auch Legitimationsprobleme zur Aufrechterhaltung der Leibeigenschaft der Bauern. Denn die Dienstpflicht der Bauern wurde bisher vom Adel so begrundet, dass diese auch den Dienst fur den Kaiser zu leisten hatten. Diese ethisch definierte Dienstpflicht wurde nun nichtig. Zudem gelang dem Kaiser die vollstandige Sakularisation der Kirchenguter, so dass die 800.000 Kirchenbauern zu
Staatsbauern
wurden. Zudem schaffte er die diskriminierenden Gesetze gegenuber den nicht-orthodoxen Religionen ab.
[91]
Aus der allgemeinen Unzufriedenheit mit der Politik Peters III. entstand eine Verschworung, im Zuge derer seine Ehefrau
Katharina II.
(?die Große“) an die Macht kam. Vorausgegangen war eine Drohung Peters III., sich scheiden zu lassen. Er wurde interniert und wenige Tage spater ermordet.
Am 28. Juni 1762 rief sich Katharina mit Unterstutzung der Garderegimenter und ohne den Widerspruch der hochsten Institutionen des Reiches (zum Beispiel des
Regierenden Senats
) zur Kaiserin aus. Katharina II. war im ganzen das Gegenteil ihres Mannes. Sie war den russischen Sitten zuganglich und lernbegierig. Um ihre Macht abzusichern, betrieb sie eine Politik zugunsten des Adels und des Beamtentums. Die Adelspolitik Katharinas II. spiegelte sich in fast allen inneren Reformen wider. Im Dezember 1766 kundigte Katharina II. die Einberufung der
Gesetzbuch-Kommission
an, in die Vertreter des Adels, der Stadte und der Bauern aus allen Landesteilen gewahlt wurden, um ein neues Gesetzbuch zu erarbeiten. Wegen der Kriegserklarung der Turkei an Russland wurde ihre Arbeit nach oft kontroversen Diskussionen auf insgesamt 203 Sitzungen im Januar 1769 beendet, ohne dass ein neues Gesetzbuch fertig war.
Wirtschaftlich machte Russland unter Katharina II. weitere Fortschritte. Der Binnenhandel wurde zollfrei durchgefuhrt, das Straßen- und Kanalnetz wurde verbessert und allen Standen wurde ein großerer Spielraum und großere Freiheit bei der Besiedelung neu erworbenen Landes, wie in der Ukraine zugestanden. Katharina II. unterstutzte die Grundung der
Kaiserlichen Freien Okonomischen Gesellschaft
, deren Ziel vor allem die Modernisierung der Landwirtschaft war. Auf einigen Gebieten wurde Russland ein fuhrender Hersteller und Exporteur. Dies betraf besonders die Produkte Eisen und Stahl. Auch die Dichte und Anzahl der wirtschaftlich lebensfahigen Stadte wurde großer. Alles in allem galt Russland ab der zweiten Halfte des 18. Jahrhunderts als ein nach zeitgenossischen europaischen Standards entwickeltes Land. Diesen Vorteil sollte Russland aber wieder in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts im Zuge der Industrialisierung verlieren.
[92]
Zusammen mit ihrem Favoriten
Grigori Potjomkin
entwarf sie eine kuhne Vision, das sogenannte ?Griechische Projekt“. Es sah vor, die Macht des
Osmanischen Reiches
auf dem
Balkan
zu brechen und ein zusammenhangendes orthodoxes Reich von der
Agais
bis nach Russland zu erschaffen. Die Meerengen sowie
Konstantinopel
sollten unter die Kontrolle Russlands fallen. Eine Reihe von
Kriegen gegen das Osmanische Reich
brachte dieses Ziel tatsachlich naher, auch wenn es nie vollstandig realisiert wurde. Weite Teile Sudrusslands und der Sudukraine kamen zum Russischen Reich. In den neuen Landstrichen, die unter dem Namen
Neurussland
zusammengefasst waren, wurden zahlreiche neue Stadte wie
Sewastopol
,
Odessa
oder
Jekaterinoslaw
gegrundet. Katharina besaß eine große Macht in Polen-Litauen und ubte großen Einfluss auf dessen Entscheidungen und Thronverhaltnisse aus. Schließlich beschloss sie zusammen mit Preußen und Osterreich die
polnischen Teilungen
, bei denen sich Russland große Gebiete sicherte.
Im Inland war sie durch die Ausdehnung der Leibeigenschaft auf die Ukraine 1773/74 mit einem massiven Bauern- und Kosakenaufstand (
Pugatschow-Aufstand
) konfrontiert. Katharina konnte den Aufstand blutig niederschlagen, doch weite Teile des sudlichen Wolga- und Uralgebietes blieben noch lange von dem burgerkriegsahnlichen Aufstand verwustet. Zum Wiederaufbau und der Wiederbesiedlung dieser Landstriche wurden viele
Deutsche als Siedler nach Russland
eingeladen. Katharina beseitigte außerdem die Autonomie der ukrainischen Kosaken und gab ihnen stattdessen Landereien im
Krasnodar
-Gebiet. Die
franzosische Revolution
von 1789 brachte sie endgultig von den liberalen Ideen ab, die sie in der Anfangszeit ihrer Herrschaft noch gepflegt hatte.
Bis 1812 wurden
Finnland
,
Georgien
und
Bessarabien
russisch.
Nach Katharinas Tod folgte ihr nicht, wie sie ursprunglich gewunscht hatte, ihr Enkel Alexander, sondern ihr verhasster Sohn
Paul I.
(1796?1801) am 17. November 1796 nach. Anlasslich seiner Kronung zum Kaiser im April 1797 erließ er ein neues Thronfolgegesetz, das die mannliche Linie der Thronfolge bevorzugte. Der alteste Sohn oder, wenn keine Sohne vorhanden waren, der alteste Bruder sollte automatisch die Nachfolge antreten. Dies bedeutete die Begrundung eines
Erbkaisertums
. Bisher konnten die russischen Kaiser ihren Nachfolger frei bestimmen.
Am
Zweiten Koalitionskrieg
gegen Frankreich nahm er teil, da Ritter des
Malteserordens
ihn im Oktober 1798 zum
Großmeister des Malteserordens
wahlten und ihn um Hilfe gegen Frankreich anriefen. Er stellte Hilfstruppen fur die von den Briten beabsichtigte Landung in den Niederlanden, fur den Krieg in Suddeutschland und in Italien. Sultan
Selim III.
schickte er eine Flotte mit 4000 Soldaten nach Konstantinopel zu Hilfe. Russische Truppen erzielten in Italien Erfolge, doch die Landung in den Niederlanden endete mit einer Kapitulation. Kaiser Paul schrieb diese Misserfolge den verbundeten Befehlshabern zu. Er sagte sich von der Koalition los und schloss nach dem Muster des Neutralitatsvertrags vom 26. Februar 1780 zur Beschrankung der britischen Seemacht, im Dezember 1800 einen solchen mit Schweden, Danemark und Preußen. Großbritannien antwortete sofort mit einem
Angriff auf Kopenhagen
.
Seine kurze Regierungszeit hinterließ innenpolitisch ein widerspruchliches Bild. Anfangs erließ er einige wohltatige Verordnungen zugunsten der Leibeigenen und
Altglaubigen
. Ein anderes Gesetz trennte einen Teil der
Kronbauern
als Eigentum der kaiserlichen Familie unter dem Namen
Apanagebauern
ab. Aus Misstrauen gegen die revolutionaren Ideen der franzosischen Revolution verbot Paul aber den Besuch auslandischer Lehranstalten und Universitaten, fuhrte eine verscharfte Zensur und strenge Aufsicht uber alle im Reich lebenden Auslander und fremden Reisenden ein und bestrafte freie Meinungsaußerung. Paul schottete Russland zunehmend ab vom Rest der Welt. Namentlich der Adel fuhlte sich durch die Politik Pauls zuruckgesetzt, da er die Leibeigenschaft etwas einschrankte und versuchte, den Adel mit Steuern zu belegen. Dies fuhrte zu Geruchten unter den Bauern, der Kaiser wurde die Leibeigenschaft aufheben. Als Folge bildete sich eine Adelsverschworung. In der Nacht des 24. Marz brachten ihn Angehorige der Palastgarde um.
[93]
Sein 23-jahriger Sohn
Alexander I.
(1801?1825) entsagte sofort in einem Vertrag mit Großbritannien der bewaffneten Neutralitat. Bald erkannte er, dass sein kooperativer Kurs zu Frankreich von
Napoleon
nur benutzt wurde, um in Mitteleuropa nach Willkur schalten zu konnen. 1805 trat er der
dritten Koalition gegen Frankreich
bei. Doch wurde das russische Heer geschlagen. Seinem Freundschaftsbundnis mit
Friedrich Wilhelm III.
getreu, kam Alexander 1806 Preußen im
Vierten Koalitionskrieg
zu Hilfe. Alexander schloss am 7. Juli mit Napoleon den
Frieden von Tilsit
. In einem geheimen Bundesvertrag teilten sie sich die Herrschaft uber Europa. Genaueres wurde bei einer zweiten Zusammenkunft in Erfurt (
Erfurter Furstenkongress
, September bis Oktober 1808) bestimmt. Russland uberließ Napoleon die Herrschaft uber Deutschland, Spanien und Portugal und trat der
Kontinentalsperre
gegen Großbritannien bei. Dafur durfte Russland Schweden und die Turkei erobern.
Schon Anfang 1808 hatte Russland Schweden den
Krieg
erklart und ein Heer in Finnland einrucken lassen, das in kurzer Zeit erobert wurde; 1809 gingen russische Truppen uber das Eis des
Bottnischen Meerbusens
, besetzten die
Alandinseln
und die gegenuberliegende schwedische Kuste.
Karl XIII.
von Schweden musste den
Frieden von Frederikshamn
schließen (17. September 1809) und ganz Finnland bis zum Fluss
Tornea
und die Alandinseln an Russland abtreten. Das zweite Opfer des Tilsiter Bundnisses war die Turkei. Von Napoleon provoziert, begann sie am 30. Dezember 1806 den
achten
Russisch-Turkischen Krieg
(1806?1812). Die Russen drangen in die Donaufurstentumer ein und erzwangen den
Frieden von Bukarest
(28. Mai 1812), durch welchen der
Pruth
zur Grenze zwischen den beiden Reichen bestimmt wurde. Ein Krieg mit Persien wurde gleichzeitig durch Abtretung eines Landerstreifens am Westufer des Kaspischen Meers mit
Baku
beendet.
Kaum waren diese Kriege beendet, begann der
Krieg mit Frankreich 1812
. Ursache des Krieges war der Ubermut Napoleons, der Russland als Bundnispartner nicht mehr zu brauchen glaubte und allein in Europa herrschen wollte und forderte eine Verscharfung der Kontinentalsperre. Im Sommer 1812 uberschritt Napoleon mit der
Großen Armee
von 477.000 Mann die russische Grenze. Die Russen waren zahlenmaßig weit unterlegen (ca. 200.000 Mann). Trotzdem besiegten sie Napoleon, indem sie offene Feldschlachten mieden, sich in das weite Innere des Reiches zuruckzogen und den Feind durch Kleinkrieg ermudeten. Um die Bevolkerung von jeder Unterstutzung des Feindes abzuhalten, wurde die
orthodoxe Religion
fur gefahrdet erklart und der heilige Krieg proklamiert. Die Hauptarmee unter Napoleon schlug die Richtung nach
Moskau
ein, erreichte am 28. Juni
Vilnius
, am 28. Juli
Wizebsk
und stieß erst Mitte August bei
Smolensk
auf die 116.000 Mann starke russische Westarmee unter
Barclay de Tolly
. Sie leistete Widerstand, wurde aber am 17. August geschlagen.
Am 7. September wurde die
Schlacht von Borodino
unter dem Oberbefehl von
Michail Kutusow
zu einem
Pyrrhussieg
fur Frankreich. Einen Tag nach dem Einzug Napoleons in Moskau begann am 15. September der
Brand Moskaus
, der in sechs Tagen fast die ganze Stadt in Asche legte und die Franzosen der Mittel des Unterhalts beraubte. Napoleon konnte nun nicht in Moskau uberwintern, und nachdem seine Friedensantrage von Alexander erst hingehalten, dann zuruckgewiesen worden waren, trat er am 18. Oktober den Ruckzug an. Durch den Mangel an Lebensmitteln und die fruh eingetretene Kalte litt die Armee furchterlich und war schon in Auflosung, als sie am 9. November Smolensk erreichte. Mit Muhe, unter Aufbietung der letzten Krafte, erzwangen die Franzosen am 26.?28. November den
Ubergang uber die Beresina
. Der abgekampfte Rest des Heers erreichte am 6. Dezember Wilna. Der
Abfall
Yorcks
von den Franzosen (30. Dezember) notigte die Franzosen auch zur Raumung der Weichsellinie.
Auch die russischen Truppen waren durch den Winterfeldzug stark vermindert und erschopft, und im russischen Hauptquartier waren viele einflussreiche Personen fur einen sofortigen, moglichst vorteilhaften Frieden mit Frankreich. Aber zu einem solchen zeigte sich Napoleon keineswegs geneigt, und auch Alexander verlockten Ehrgeiz und Herrschsucht sowie der Wunsch, sich den Besitz ganz Polens zu sichern, zur Fortsetzung des Kriegs im Bund mit Preußen (siehe
Befreiungskriege
). Der Fruhjahrsfeldzug 1813 endete mit dem Ruckzug nach Schlesien. Im zweiten Teil des Kriegs aber, als Osterreich, Großbritannien und Schweden der sechsten Koalition beigetreten waren, wurde Napoleon aus Deutschland vertrieben. Im Rate der Verbundeten spielte Kaiser Alexander neben
Metternich
die bedeutendste Rolle. Er bewirkte die Restauration der
Bourbonen
und die Schonung Frankreichs im
ersten Pariser Frieden
. 1815 wurde Alexander I. in Europa als ?Retter Europas“ gefeiert und bestimmte beim
Wiener Kongress
maßgeblich die Neuordnung Europas mit. Mit auf seine Anregung hin wurde unter anderem die
Heilige Allianz
aus Russland, Osterreich und Preußen gegrundet. Russland erhielt das so genannte
Kongresspolen
als besonderes Konigreich, dem auch eine eigene liberale Verfassung verliehen wurde. Seine Besitzungen dehnten sich nun im Westen bis nahe an die Oder aus, wahrend es sich im außersten Osten uber die
Beringstraße
hinaus uber einen Teil Nordamerikas ausbreitete; es umfasste uber 20 Millionen Quadratkilometer mit etwa 50 Millionen Einwohnern. Russland dominierte nun Kontinentaleuropa, bis der
Krimkrieg
in den 1850er Jahren diesem Zustand ein Ende setzte.
Alexander I., von
La Harpe
nach Grundsatzen
Rousseaus
erzogen, schwarmte fur humanistische Ideale, ohne jedoch auf seine unbeschrankte Herrschergewalt zu verzichten. An Stelle der von Peter I. begrundeten Kollegien errichtete er acht Ministerien (1802), schuf fur die Prufung und Beratung aller neuen Gesetze und Maßregeln der Regierung den
Staatsrat
(1810, auch
Reichsrat
genannt), suchte die Finanzen zu regeln und legte zur Verminderung der Heereskosten
Militarkolonien
an. Die Leibeigenschaft hob er in den
baltischen Provinzen
auf und milderte sie in Russland selbst. Die Zahl der Gymnasien und Volksschulen wurde betrachtlich vermehrt, Universitaten neu errichtet (in
Kasan
und
Charkiw
) oder reorganisiert (in
Dorpat
und
Vilnius
). Die gebildeten Bevolkerungskreise in Russland sahen sich durch die Verscharfung der Herrschaft um ihre Hoffnungen betrogen, mit ihren Opfern im Krieg gegen Napoleon liberale Freiheiten zu erreichen.
Geheimbunde
entstanden; sie diskutierten gesellschaftliche und politische Moglichkeiten der Umgestaltung und entwickelten dafur revolutionare Programme. Alexander starb Ende 1825 in
Taganrog
am Asowschen Meer, ohne Nachkommen zu hinterlassen.
Laut Nachfolgeregelung ware ihm eigentlich sein Bruder
Konstantin
auf dem Thron gefolgt; dieser hatte aber 1822 auf den Thron verzichtet. Alexander hatte deshalb im Geheimen seinen Bruder Nikolaus Pawlowitsch zu seinem Nachfolger designiert. Nach dem Tode Alexanders wurde zunachst Konstantin zum Herrscher ausgerufen; als dieser verzichtete, kam es zeitweise zu einer wirren Situation. Bei der Vereidigung der Petersburger Garnison auf
Nikolaus I.
kam es aus Enttauschung uber ausgebliebene innenpolitische Reformen am 26. Dezember 1825 zum
Dekabristenaufstand
(russ. dekabr = Dezember). Der Aufstand brach innerhalb weniger Stunden zusammen. Durch die nachfolgenden Urteile wurde die Gruppe liberaler Verfechter in Russland im Kern getroffen. Fur lange Zeit blieb ihre politische Aktivitat gelahmt. Da auch der Adel sich passiv verhielt, sah sich Kaiser Nikolaus in der Politik auf sich selbst und die Beamtenschaft verwiesen. Unter seiner Agide wurde auch die Geheimpolizei, die spatere
Ochrana
, ins Leben gerufen.
Nikolaus, der bis 1855 regierte, sah sich vor allem als Bewahrer der bestehenden Ordnung im Innern und Außeren. Er erließ eine Vielzahl
repressiver
Bestimmungen gegen die
Juden in Russland
, forderte die
Russifizierung
der verschiedenen Nationalitaten und unterstutzte die
Reaktion
in Europa. Mehrmals drohte er mit einer Interventionsarmee, beispielsweise im Fall der
Belgischen Revolution
. Den Zeitgenossen in Europa galt er daher nicht mehr als Befreier wie sein Vorganger Alexander, sondern als Gendarm Europas. Mit seinem Namen verbinden sich die Niederschlagungen der Aufstande in
Polen
1831 und ? auf Bitten Osterreichs ?
Ungarn
1849.
Die russischen Versuche, auf dem Weg mittels Protektorat uber das Osmanische Reich die Meerengen zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer zu kontrollieren, wurden durch Frankreich und Großbritannien, aber auch durch Preußen und Osterreich zuruckgewiesen (vgl.
Dardanellen-Vertrag
). Bereits im
Russisch-Turkischen Krieg (1828/29)
hatte Russland Gebiete im sudlichen
Kaukasus
vom
Osmanischen Reich
gewonnen und dieses geschwacht. Moldau, Walachei und Serbien wurden autonom und gerieten unter russischen Einfluss. Der osmanische Sultan selbst war nicht bereit, sich mehr an Russland anzulehnen, wodurch dieses seinen Protektoratsanspruch auf die Christen in Gefahr sah. 1853 kam es zu erneuten militarischen Verwicklungen zwischen Russland und dem Osmanischen Reich;
Napoleon III.
ergriff die gunstige Gelegenheit, um Frankreich wieder als erste Macht auf dem Kontinent zu etablieren und von eigenen innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken. Großbritannien und Osterreich standen den Ambitionen Nikolaus I. misstrauisch gegenuber und es bildete sich eine breite Koalition gegen Russland. Im
Krimkrieg
von 1853 bis 1856 unterlag Russland einer Allianz aus Großbritannien, Frankreich, dem Osmanischen Reich und dem
Konigreich Sardinien
; Osterreich wendete sich ebenfalls gegen seinen ehemaligen Verbundeten, ohne direkt in den Krieg einzugreifen, und Russland, das lediglich von Preußen eine wohlwollende Neutralitat erfuhr, sah sich weitgehend isoliert. Der Krieg wurde nicht nur auf der Krim selbst, sondern auch auf dem Balkan, in der Ostsee, im Weißen Meer, im Pazifik und im Schwarzen Meer ausgetragen. Im Krieg machte sich die
Ruckstandigkeit Russlands
unangenehm bemerkbar; trotz guter Resultate im Kampf war die Ausrustung und Versorgungskraft des Landheeres mangelhaft, die
Kaiserlich Russische Marine
war veraltet und einer Kraftprobe mit der britischen
Royal Navy
nicht gewachsen. Russland musste der Neutralisierung des Schwarzen Meeres zustimmen
[94]
und verlor seine seit 1815 fuhrende Stellung auf dem europaischen Kontinent an Frankreich. Das ehemals gute Verhaltnis zu Osterreich blieb zerruttet.
In der Folge wandte sich Russland verstarkt Asien zu. Im Kaukasus begann 1856 die dritte und letzte Phase der russischen Expansion (vgl.
Kaukasuskrieg (1817?1864)
). Der Befriedung 1864 folgte die wirtschaftliche Erschließung und Russifizierung der 53 Volkerschaften und 14 Stamme unter Leitung des
Kaukasischen Komitees
.
Quasi nahtlos schloss sich an die Befriedung des Kaukasus die Expansion nach
Zentralasien
an. Russland dehnte hierbei im beginnenden Zeitalter des
Imperialismus
1852?1888 sein Einflussgebiet auf
Turkestan
aus. Nach der russischen Expansionswelle gegen die Khanate Kasan, Astrachan und Sibir im 16. Jahrhundert war Russland an seinen sudostlichen Grenzen zunachst in Verteidigungsstellung gegangen, da es in anderen Gebieten stark in Anspruch genommen wurde. Vom Kaspischen Meer bis zum
Altaigebirge
wurde deswegen eine lange Linie von
Kosakensiedlungen
errichtet, deren Basen
Orenburg
,
Petropawlowsk
,
Omsk
,
Semipalatinsk
und
Ust-Kamenogorsk
waren und die
Kasachen
an Einfallen in das
Wolgagebiet
und
Westsibirien
hindern sollten.
[95]
Die Kasachen brachen aber haufig durch die russischen Linien und griffen die Siedlungen an. Ab den 1820er Jahren bemuhte sich Russland schließlich um stabilere Grenzen. Durch die Beseitigung der
Kleinen Horde
1822 und der
Mittleren Horde
1824 wurde die kasachische Unabhangigkeit untergraben. In der Steppe wurden Grenzposten errichtet. Es folgten zunachst erfolglose Expeditionen gegen das
Khanat Chiwa
. In den 1840er Jahren wurden die Stutzpunkte in die Steppe vorgeschoben. Russland drang nun in die Gebiete ein, die vom
Khanat Kokand
beansprucht wurden, aber praktisch unverteidigt waren.
[96]
1853 wurde
Kasalinsk
erreicht, ein Jahr spater
Alma-Ata
gegrundet. Bedingt durch die Beanspruchung der Krafte im Krimkrieg folgte eine Phase der Konsolidierung der gemachten Eroberungen. Um die Baumwollversorgung zu sichern ? durch die Folgen des
Amerikanischen Burgerkriegs
waren die Weltmarktpreise fur den Rohstoff erheblich gestiegen ? begannen 1864 erneute Operationen. Ein russisches Kontingent nahm im gleichen Jahr
Aulije-Ata
, Jassy und
Tschimkent
ein. Mit diesem Feldzug eroberten die Russen das ganze
Tschu
-Tal und umschlossen die ganze
Kasachensteppe
in einem Ring von Forts. Am 11. Juli 1867 wurden die neu gewonnenen Gebiete in die Oblast Turkestan umgewandelt und einem Militargouverneur unterstellt.
[97]
Danach wurde die Stadt
Chodschent
erobert, in dessen Folge sich der Khan von Kokand, Khudayar Khan, zum Vasall des Kaisers erklarte. Danach folgte ein neuer Feldzug gegen das Emirat von Buchara. 1868 nahmen die Russen Samarkand ein. Der Emir
kapitulierte
. Die erworbenen Gebiete wurden in das Generalgouvernement Turkestan eingegliedert.
1873 wurde schließlich das Khanat Chiwa erobert. Von den drei großen zentralasiatischen Staaten, die so zu russischen Vasallen wurden, blieb allein
Kokand
ein Unsicherheitsfaktor.
[98]
Nach einem erfolglosen Aufstand wurde dieses 1876 als Oblast eingegliedert. Auch im
transkaspischen
Gebiet sudlich des
Amurdarja
hatte Russland bereits Fuß gefasst. 1881?1885 wurde das Gebiet im Zug eines Feldzugs annektiert, u. a. kamen
Aschgabat
und
Merw
unter russische Kontrolle. Die sudwartige Expansion kam 1887 zum Stillstand, als mit dem Kontrahenten Großbritannien die afghanische Nordgrenze festgelegt wurde, die gleichzeitig als Demarkationslinie der Interessen- und Einflussspharen festgeschrieben worden war. Afghanistan wurde so zum Pufferstaat zwischen den beiden imperialen Machten, was 1907 im
Vertrag von Sankt Petersburg
bekraftigt wurde (vgl.
The Great Game
). 1860 wurde am
Pazifik
Wladiwostok
gegrundet, als feste Ausgangsbasis fur eine aktivere Politik Russlands im Fernen Osten.
Als Reaktion auf die in der Niederlage im Krimkrieg deutlich zutage getretene Ruckstandigkeit Russlands nahm
Alexander II.
(1855?1881) weitreichende Reformen in Angriff, deren wesentlichste Bestandteile die seit 1861 durchgefuhrte Aufhebung der
Leibeigenschaft
, Reformen im
Justizwesen
und eine neue Militarorganisation waren. Alexander setzte diese Reformen gegen große innere Widerstande durch. Die großten Reformnotwendigkeiten sahen Alexander II. und die russische Offentlichkeit in der Aufhebung der Leibeigenschaft der Bauern. Der Kaiser beauftragte daher schon 1857 ein Komitee, Vorschlage zur Losung des Bauernproblems auszuarbeiten. Dieses bestand hauptsachlich in der Leibeigenschaft der Bauern, die uber 80 Prozent der Bevolkerung ausmachten. Die einzigen, die die Leibeigenschaft abgeschuttelt hatten, waren die
Kosaken
, die ab dem 16. Jahrhundert aus der Leibeigenschaft in die unerschlossenen Gebiete des Ostens fliehen konnten. Die Leibeigenschaft war, abgesehen vom Verfugungsrecht des Herrn uber die Person des Bauern, mit vielfaltigen Dienstleistungen fur den adligen Grundbesitzer verbunden. Dieses System ließ weder Eigeninitiative noch soziale Veranderungen oder Mobilitat noch effektivere und rationellere Bewirtschaftungsmethoden zu. Die Dienstleistung variierte dabei zwischen der einfachen Form eines Leibzinses (
Obrok-Bauern
in Weißrussland, der Ukraine, Woronesh und Kasan) und der oft willkurlichen Form des Frondienstes (
Barschtschina
-Bauern in Großrussland und in Westsibirien). So kam diese Reform nur schleppend in Gang.
Die Produktion der wichtigsten Industrieprodukte zwischen 1887 und 1913 in Mio.
Pud
[99]
Produktart
|
1887
|
1900
|
1913
|
Gusseisen
|
36,1
|
176,8
|
283
|
Kohle
|
276,2
|
986,4
|
2215
|
Stahl und Eisen
|
35,5
|
163
|
246,5
|
Ol
|
155
|
631,1
|
561,3
|
Baumwolle
|
11,5
|
16
|
25,9
|
Zucker
|
25,9
|
48,5
|
75,4
|
Wahrend Alexander I. noch die Hoffnung hatte, dass der
Adel
von sich aus und ohne Druck von oben die Bauern freilassen wurde, war Alexander II. nach der Kriegsniederlage nicht mehr gewillt, auf die Bereitschaft des Adels zu warten, sondern ergriff selbst die Initiative. Nach funf Jahren Beratungen wurde das Manifest uber die Aufhebung der Leibeigenschaft am 2. Marz 1861 unterzeichnet. Dem Manifest folgte ein Gesetz, das die Landzuteilung an die Bauern regelte. Die Landanteile waren zu klein und wurden mit ubergroßen Lasten belegt, da die Bauern die Entschadigung, die der Staat den Grundbesitzern gezahlt hatte, innerhalb von 49 Jahren an ihn zuruckzahlen mussten. Ergebnis der Bauernbefreiung von 1861 war also, dass sich die Lage der Bauern eher verscharfte. Der entstehende Bevolkerungsuberschuss konnte nirgends anders aufgefangen werden, die Landwirtschaft arbeitete weiter am Rand der Existenzkrise, was sich in den immer wiederkehrenden Hungersnoten zeigt. Die alte Abhangigkeit der Bauern von den Grundbesitzern wandelte sich in eine neue Abhangigkeit durch druckende Schulden.
Das fur die
Industrialisierung
notwendige Kapital konnte mit der Bauernbefreiung nicht freigesetzt werden. Auch die Adligen wurden nur zogernd Unternehmer. Der russische Staat musste aus Mangel an Alternativen selber eine kapitalistische Industriewirtschaft aufbauen und von oben in das Wirtschaftsleben eingreifen. Die Regierung grundete Staatsbetriebe und unterstutzte Unternehmer finanziell. Der Staat beteiligte sich auch selbst an den Unternehmen oder gewahrte Großbetrieben im
Huttenwesen
und im
Transportmaschinenbau
Geldmittel und sorgte fur den Absatz ihrer Produkte. Mittels hohen Importzollen sollten einheimische Unternehmer vor auslandischer Konkurrenz geschutzt werden. Der Staat erneuerte das Kreditwesen, indem er Regierungsbanken ins Leben rief und damit die Voraussetzung fur den Import westlichen Kapitals. So wurde 1860 die
Staatsbank
gegrundet. Vom auslandischen Kapital profitierte vor allem der
Eisenbahnbau
. 1857 wurde mit Hilfe auslandischen Kapitals die
Hauptgesellschaft der russischen Eisenbahn
gegrundet. Von 960 Streckenkilometer stieg das russische Streckennetz bis 1880 auf 21.800 Kilometer an. Mitte der 1880er und 1890er Jahre verstaatlichte Russland die meisten Eisenbahnen, die die entstehenden Industriezentren mit den Eisen- und Kohlerevieren, sowie mit den zentralen Agrarregionen und den Ausfuhrhafen an der Ostsee und am Schwarzen Meer verbanden. Auf diese Weise wurde die wirtschaftliche Erschließung des Landes und die Bildung eines großen
Binnenmarkts
erst moglich. Mit dem Eisenbahnbau wurden gleichzeitig die
Schwerindustrie
und der Maschinenbau angetrieben, die zu zentralen Bereichen der Industrialisierung wurden. Um 1885 begann ein rascher industrieller Aufschwung. Die durchschnittlichen Wachstumsraten lagen bei sechs Prozent, in den 1890er Jahren bei acht Prozent.
[100]
Sogar in der Landwirtschaft stieg die Getreide- und Kartoffelproduktion jahrlich um uber zwei Prozent. Trotz der Industrialisierung blieb Russland ein Agrarland. Um 1900 trug die Landwirtschaft mit 53 Prozent zum Nationaleinkommen, die Industrie mit 21 Prozent bei. Auch die Arbeiter behielten oft ihre bauerliche Lebensweise bei und lebten in Arbeiterdorfern um die neu entstandenen Industrieansiedlungen herum. Die Industrie konzentrierte sich besonders in Sankt Petersburg und Moskau, in der Ukraine und in den Olgebieten
Transkaukasiens
.
Da die Aufhebung der Leibeigenschaft staatliche Funktionen des Grund besitzenden Adels betraf, musste auch das Verwaltungs- und das Gerichtswesen in der Provinz neu geordnet werden. Die Justizreform von 1864 fuhrte im Westen gultige Rechtsnormen ein: Rechtsgleichheit, Trennung von Justiz und Verwaltung, Unabhangigkeit der Richter. Die Verwaltungsreform vom selben Jahr schuf Selbstverwaltungsorgane auf Kreis- und Gouvernementsebene, die 1870 durch solche in den Stadten erganzt wurden. Von weiterer Bedeutung waren die Militarreformen. Gleich zu Beginn seiner Herrschaft schaffte Alexander II. die
Militarsiedlungen
ab und reduzierte die Dienstzeit. Zudem wurde auf Grundlage der am 1. Januar 1874 neu geschaffenen Wehrpflicht die Armee in ein modernes Massenheer umgewandelt. Die Bildungsinstitute erhielten Autonomie, auch die Presse erhielt Zensurerleichterungen. Auf der Grundlage dieser Freiheiten konnte sich eine
Opposition
formieren, die vom europaischen Ausland stark unterstutzt wurde.
[101]
Das revolutionare Potential, das schon im Dekabristenaufstand von 1825 deutlich wurde, erhielt durch die langsamen Veranderungen immer neue Verstarkung. Es blieb nicht bei einer begrenzten Ubernahme von Elementen der europaischen Kultur, sondern es setzte eine Radikalisierung der Opposition ein. Statt nur Abschaffung der Leibeigenschaft forderte man den
Sozialismus
, statt Verfassung
Anarchie
, statt Losung des Nationalitatenproblems
Kosmopolitismus
, statt Gewissensfreiheit
Atheismus
. Diese Gruppen befurworteten auch Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele. Die einzelnen revolutionaren Gruppen unterschieden sich dabei sehr, sowohl in der Herkunft als auch in der Auspragung ihres Ideengutes (vgl.
Russischer Nihilismus
). So hatten sich Ende der 1860er Jahre zwei politische Richtungen herausgebildet:
- Aufruhrer
(buntari): Diese folgten den Ideen
Michail Alexandrowitsch Bakunins
, des Vaters des russischen Anarchismus.
- Vorbereiter
(podgotowiteli): Sie folgten
Pjotr Lawrowitsch Lawrow
, der die
Narodnikibewegung
schuf. Diese in kleinen Gruppen organisierte Bewegung versuchte die Umgestaltung Russlands auf anderen Wegen, in geduldiger Aufbauarbeit, zu erreichen. Nach Enttauschungen uber die ergebnislose friedliche Agitation und nach zahlreichen Verhaftungswellen der 1870er Jahre bildete ein Teil der Narodniki 1879 die Geheimgesellschaft
Narodnaja Wolja
(
Volkswille
), welche die 1881 erfolgte Ermordung Alexanders II. organisierte.
Auf Alexander II. folgte als Kaiser sein Sohn
Alexander III.
, der, auch gepragt von der Ermordung seines Vaters, einen reformfeindlichen Kurs einschlug und autokratisch regierte. Dabei stutzte er sich vor allem auf die Armee und auf die Geheimpolizei, die
Ochrana
. Die Armee nahm im Inneren Russlands traditionell auch Polizeiaufgaben wahr. Die revolutionare Bewegung wurde dadurch geschwacht.
Nach dem
Turkisch-Russischen Krieg
1877?1878, in dessen Verlauf Russland die Unabhangigkeit
Bulgariens
vom
Osmanischen Reich
erreichte, verbreitete sich die Idee des
Panslawismus
, also der Vereinigung der slawischen Volker unter russischer Herrschaft. Diese Ideen waren nicht neu, aber jetzt fanden sie durch eine national gesinnte Presse und Agitatoren zunehmend Gehor in Russland. Auf dem
Berliner Kongress
erlitt Russland jedoch einen Ruckschlag, denn die Schaffung eines Groß-Bulgarien, wie sie Russland anstrebte, traf auf heftige Opposition Großbritanniens und
Osterreich-Ungarns
, die einen Durchbruch Russlands an die Adria unbedingt unterbinden wollten.
Von 1891 bis 1901 wurde die
Transsibirische Eisenbahn
zwischen Wladiwostok und
Tscheljabinsk
gebaut, die den Westen und den Osten des Reiches miteinander verbinden sollte; auch die Besiedlung Sibiriens wurde hierdurch begunstigt. 1896 erhielt Russland durch den Bau einer Abzweigung, der
Transmandschurischen Eisenbahn
, Einfluss auf die
Mandschurei
, was aber zu kollidierenden Interessen mit
Japan
fuhrte; beide suchten sich auf Kosten Chinas zu vergroßern.
So kam es 1904?1905 zum
Russisch-Japanischen Krieg
. Japan, seit 1902 Bundnispartner Großbritanniens, attackierte den russischen Stutzpunkt
Port Arthur
ohne vorherige Kriegserklarung und versenkte einen Teil des russischen Fernostgeschwaders. Am 13. April kam es zu einer ersten Seeschlacht, die mit dem Sieg der Japaner endete. Diese besetzten nun die Hohen um die Festung Port Arthur und begannen mit der Belagerung. Von den Hohen aus nahmen sie auch die russischen Schiffe unter Feuer; im August versuchte die Restflotte einen erneuten Durchbruch. In einer weiteren Seeschlacht wurden die restlichen russischen Schiffe versenkt. Der Zar war jedoch uneinsichtig und noch nicht zu einem Frieden bereit, den auch weite Kreise, von Großindustriellen bis zu den Militars, in Russland forderten. Nachdem die
Russische Ostseeflotte
die halbe Welt umrundet hatte, kam es am 14.?15. (27.?28.) Mai 1905 bei
Tsushima
in der Meerenge von
Korea
und Japan zur Schlacht mit der
japanischen Flotte
unter Admiral
T?g? Heihachir?
. Erneut unterlag die russische Flotte der japanischen, und nachdem die Festung Port Arthur von den Japanern erobert worden war, musste Russland einem von
US-Prasident
Theodore Roosevelt
vermittelten Frieden zustimmen, der am 23. August (5. September) 1905 in Portsmouth,
New Hampshire
, unterzeichnet wurde. Die Niederlage wurde als Sensation empfunden, denn erst zum zweiten Mal (nach der italienischen Niederlage in
Athiopien
1896) war eine europaische Nation gegen eine außereuropaische unterlegen. Wiederum zeigte sich die Ruckstandigkeit Russlands.
Durch ausgebliebene innenpolitische Reformen und den Konflikt zwischen Anhangern einer Annaherung an den Westen (
Westler
) und Gegnern einer solchen Annaherung (
Slawophile
) geriet Russland wirtschaftlich immer mehr ins Hintertreffen gegenuber den anderen Großmachten. Die Korruption im Land war weit verbreitet und hoher als in den westlichen Landern. Zudem war die starke Zentralisierung des Staates nicht immer von Vorteil. In
Moskau
und
Sankt Petersburg
, aber auch in anderen russischen Stadten entstanden Kreise von Intellektuellen, Kommunisten und Anarchisten. Sie wurden von Zar Alexander III. brutal verfolgt. Sein Nachfolger,
Nikolaus II.
, behielt die Politik seines Vaters bei. Hinzu kamen soziale Probleme, die im Zuge der
Industrialisierung
des Landes entstanden, sowie eine Hungersnot im Jahre 1890. 1898 wurde die
Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands
(Vorgangerin der
Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki)
) gegrundet, in welcher ab 1903 die
Bolschewiki
unter
Lenin
die Fuhrung ubernahmen. Die Niederlage Russlands im Russisch-Japanischen Krieg verstarkte die Unzufriedenheit nur noch und es kam zu großen Demonstrationen. Nach dem
Petersburger Blutsonntag
von 1905 fand die erste
Russische Revolution
statt. Zar Nikolaus II. musste unter anhaltendem Druck erstmals der Wahl eines
Parlaments
, der
Duma
, zustimmen. Die erste Verfassung, die
Staatsgrundgesetze des Russischen Kaiserreiches
, erließ er allerdings 1906 ohne dessen Mitwirkung. Spater loste er die Duma mehrfach wieder auf. Letztlich blieb die Revolution erfolglos, aber sie fuhrte der zaristischen Regierung das revolutionare Potenzial im Land und die Notwendigkeit von Reformen vor Augen. Die Versuche von Ministerprasident
Pjotr Stolypin
, eine breite Schicht wohlhabender Bauern zu schaffen, endeten jedoch mit seiner Ermordung 1911. Nach 1906 zeigte sich aber auch, dass die Masse der Bevolkerung die liberalen, stadtischen Eliten nicht als ihre Sachwalter ansah. Das
Wyborger Manifest
, in dem die
Kadettenpartei
gegen die Parlamentsauflosung protestierte und die Bevolkerung zu zivilem Ungehorsam aufrief, verhallte ungehort. Damit zeichnete sich ab, dass die nachste Revolution von radikaleren Kraften gepragt sein wurde.
Außenpolitisch war Russland nach der 1890 vom Deutschen Kaiser
Wilhelm II.
verweigerten Verlangerung des
Ruckversicherungsvertrages
1892 ein zunachst geheimes Bundnis mit Frankreich eingegangen, das 1894
formlich bestatigt wurde
. Nach der Niederlage im Fernen Osten richtete Russland wieder seine Aufmerksamkeit auf Europa und den Balkan. Hier nahmen die Spannungen immer weiter zu, denn das Osmanische Reich, ?der kranke Mann am Bosporus“, war zunehmend im Zerfallen begriffen. Russland war inzwischen extrem geschwacht und musste 1908 der
Annexion Bosniens
durch Osterreich-Ungarn mit Ruckendeckung des Deutschen Reiches tatenlos zusehen.
1907 schloss Russland
ein Ubereinkommen mit Großbritannien
, in dem die Streitigkeiten in Asien ausgeraumt und die gegenseitigen Interessenspharen festgelegt wurden. Es kam in Europa zu einem Rustungswettlauf. Die allgemeine Lage verdusterte sich zunehmend und ein großer europaischer Krieg wurde immer wahrscheinlicher.
Im August 1914 brach der
Erste Weltkrieg
aus. Russland stand als Verbundeter Serbiens, Frankreichs und Großbritanniens gegen das Deutsche Reich, Osterreich-Ungarn und das Osmanische Reich. Nach einigen Erfolgen vor allem in
Galizien
erlitt Russland mehrere schwere Niederlagen gegen die deutsche Armee; Polen und das Baltikum gingen verloren. Den Oberbefehl im
Hauptquartier
ubernahm aufgrund der Niederlagen der russischen Armeen Nikolaus II. am 9. September. Doch nach zwei Jahren stand Russland vor dem wirtschaftlichen und militarischen Zusammenbruch.
Im Marz 1917 sturzte die
Februarrevolution
die Monarchie in Russland. Es kam zunachst zu einer Doppelherrschaft der von der Duma eingesetzten
Provisorischen Regierung
einerseits und dem von linksgerichteten Arbeitern und Soldaten dominierten
Petrograder Sowjet
andererseits. Da die deutsche Regierung Russland destabilisieren und aus dem Bundnis mit England und Frankreich herausbrechen wollte, ließ sie den im Schweizer
Exil
lebenden Berufsrevolutionar
Lenin
nach Petrograd schleusen. Dessen Anhanger, die
kommunistischen
Bolschewiki
, drangen, anders als die Provisorische Regierung, auf die sofortige Beendigung des Krieges gegen Deutschland. Sie ergriffen nach wenigen Monaten durch einen spater als
Oktoberrevolution
bezeichneten Staatsstreich die Macht. Da die Bolschewiki in der
Verfassunggebenden Versammlung
, deren Wahl noch von der gesturzten Provisorischen Regierung in die Wege geleitet worden war, nur eine Minderheit darstellten, losten sie dieses erste demokratisch gewahlte russische Parlament schon nach einem Sitzungstag wieder auf. Nach der Oktoberrevolution erklarten
Polen
,
Finnland
und die baltischen Staaten ihre Unabhangigkeit. Zeitweise losten sich auch
Belarus
, die
Ukraine
,
Georgien
und weitere Gebiete von Russland.
Die unmittelbare Folge der Oktoberrevolution war der funf Jahre dauernde
Russische Burgerkrieg
, zu dessen Beginn Lenin die Hauptstadt Russlands von Petrograd zuruck nach Moskau verlegen ließ. Nach dem im Marz 1918 geschlossenen
Vertrag von Brest-Litowsk
mit Deutschland wurde die
Russische Sozialistische Foderative Sowjetrepublik
(RSFSR) gegrundet. Deren Machtbereich war aber fast auf das Gebiet des alten moskowitischen Staats reduziert, da der großte Teil des Landes sich unter der Kontrolle der antibolschewistischen
Weißen Armeen
sowie auslandischer Interventionstruppen befand. Im Westen entwickelte sich ein Krieg mit dem neu entstandenen Polen, im Suden griffen Briten und Franzosen an, und in
Sibirien
traten Japaner, US-Amerikaner und die aus ehemaligen Kriegsgefangenen bestehenden
Tschechoslowakische Legionen
der von
Leo Trotzki
organisierten
Roten Armee
entgegen. Der Burgerkrieg hatte enorme Verluste unter der Zivilbevolkerung zur Folge. Nach und nach gelang es der Roten Armee, Belarus, die Ukraine und
Georgien
zu erobern und dort
Sowjetrepubliken
zu errichten, die 1922 zusammen mit der RSFSR die
Sowjetunion
begrundeten. 1924 wurde die
erste sowjetische Verfassung
verabschiedet.
In Zeiten der Sowjetunion war Russland in Form der RSFSR die großte und wirtschaftlich, sozial und politisch dominierende Sowjetrepublik. Bestrebungen nach nationaler Eigenstandigkeit wurden in vielen Teilrepubliken mit großer Grausamkeit unterbunden, so in der Ukraine (
Holodomor
). Viele Volker wurden aber auch rein prophylaktisch aus ihren angestammten Siedlungsgebieten entfernt und innerhalb der
Sowjetunion deportiert
.
Vor allem in Sibirien wurden die Besiedelung und die wirtschaftliche Erschließung, oft durch die Arbeit politischer und militarischer Gefangener, vorangetrieben (siehe
Geschichte Sibiriens
). Wahrend der Herrschaft
Stalins
, im sogenannten
Stalinismus
, kamen Millionen von Burgern des Landes gewaltsam in
Lagern
oder in Gefangnissen ums Leben ? die genaue Anzahl der Opfer ist unbekannt (
siehe auch:
Archipel GULAG
).
Im
Zweiten Weltkrieg
war der westlichste Teil Russlands neben Belarus und der
Ukraine
einer der Hauptkriegsschauplatze.
[102]
Dabei brachten die deutschen Eroberer im Zeichen
nationalsozialistischen
Rassenideologie
schlimmstes Leid uber die Bevolkerung: Ermordung und Verschleppung mehrerer Millionen sowjetischer Zivilisten und
Kriegsgefangener
, Massenmorde an
Juden
,
Sinti und Roma
, Versklavung und Ausbeutung der besetzten Gebiete. In Anlehnung an den
Vaterlandischen Krieg
gegen
Napoleon Bonaparte
wurde der Zweite Weltkrieg auf sowjetischem Gebiet als
Großer Vaterlandischer Krieg
bezeichnet. In der
Schlacht von Stalingrad
und der
Schlacht bei Kursk
erlitt die eingedrungene deutsche
Wehrmacht
entscheidende Niederlagen, was die Wende im Zweiten Weltkrieg einleitete.
Gegen Kriegsende eroberten und besetzten sowjetische Truppen auch
japanisches
Gebiet im Fernen Osten. 1945 gliederte sich die Sowjetunion nach dem
Potsdamer Abkommen
, bis zur endgultigen
friedensvertraglichen
Regelung,
Nordostpreußen
mit
Konigsberg
als
Oblast Kaliningrad
ein; 1990 wurde dieses per
Zession
aufgrund des
Zwei-plus-Vier-Vertrages
seitens Deutschland ubertragen.
[103]
Daneben gewann sie das sudliche
Sachalin
und die
Kurilen
von
Japan
. 1954 wurde auf Betreiben von
Nikita Chruschtschow
die
Krim
von der RSFSR an die
Ukrainische SSR
ubertragen.
Mit Beginn der 1980er Jahre geriet die sowjetische Wirtschaft immer mehr in eine Krise. Auf einigen Gebieten der Versorgung herrschte schwerer Mangel. Nach dem Tod von
Konstantin Tschernenko
wurde am 11. Marz 1985 der noch relativ junge
Michail Sergejewitsch Gorbatschow
zu seinem Nachfolger bestimmt. Im Zuge seiner Politik von
Perestroika
und
Glasnost
trat die wirtschaftliche Krise immer klarer zutage. Durch die sinkenden
Olpreise
im Zuge des
Ersten Golfkrieges
zwischen dem
Iran
und dem
Irak
verlor der Olexport ? ein wichtiger Devisenbringer und eine Haupteinnahmequelle der Sowjetunion ? an Bedeutung. Die
Invasion in Afghanistan
1979 und der daraus resultierende kostspielige Krieg lasteten ebenfalls schwer auf dem Staatshaushalt. Die Versuche Gorbatschows, den Rustungswettlauf zu beenden um Geld fur dringend benotigte innenpolitische Reformen und Modernisierungen einzuleiten, wurden von der damaligen
US-Regierung
(
Kabinett Reagan
) nicht goutiert. Gorbatschow geriet innenpolitisch zunehmend in Bedrangnis; den Reformern gingen seine Reformen nicht weit genug, den reaktionaren Kraften schon zu weit. Im aufstrebenden
Boris Jelzin
erwuchs Gorbatschow auch ein Gegner, der ihn bald in den Schatten drangen sollte. Der Unmut der sowjetischen Bevolkerung entlud sich immer offener und in den Republiken kam es verstarkt zu separatistischen Tendenzen. 1991 erklarten sich im Zuge des Machtzerfalls der sowjetischen Regierung und nach dem erfolglosen
Augustputsch in Moskau
gegen Gorbatschow zunachst die drei baltischen Lander
Litauen
,
Lettland
und
Estland
, spater auch die ubrigen Sowjetrepubliken fur unabhangig. Am 8. Dezember 1991 beschlossen die
Staatsoberhaupter
der letzten drei Unionsrepubliken ?
RSFSR
,
Ukrainische SSR
und
Weißrussische SSR
? die offizielle
Auflosung der Sowjetunion
. Mit der ganz uberwiegenden Staatenpraxis wird dabei die
Russische Foderation
in ihrer Eigenschaft als
Fortsetzerstaat
als mit der UdSSR identisch angesehen.
[104]
Nach dem
Zerfall der Sowjetunion
stellte sich die Frage nach der Kontinuitat der russischen Geschichte erneut. Dabei knupfte die Russische Foderation an die Zeit vor der Oktoberrevolution an. Allerdings entsprachen die Grenzen Russlands nicht denen des Kaiserreichs vor 1917, sondern denen des ethnisch relativ einheitlichen russischen Zarentums im 17. Jahrhundert.
[105]
Mit der Auflosung der Sowjetunion grundete Russland zusammen mit Weißrussland und der Ukraine die
Gemeinschaft Unabhangiger Staaten
(GUS), der sich spater mit Ausnahme der
baltischen Staaten
auch die anderen ehemaligen Sowjetrepubliken anschlossen. Die GUS erreichte aber nie echte Bedeutung. Jeder Staat hat seine eigene Wahrung.
Die wirtschaftliche Situation verschlechterte sich auch nach dem Ende der Sowjetunion immer weiter. Die Wirtschaftskrise wurde eine der tiefsten, die je außerhalb von Kriegszeiten verzeichnet wurde. Die gewachsenen wirtschaftlichen Verbindungen (siehe
COMECON
) wurden teilweise zerrissen, ohne dass neue geknupft werden konnten.
[106]
Es fehlte an durchdachten Konzepten zur Behebung der Krise und die soziale Polarisierung wurde starker. Einer kleinen Zahl von Profiteuren stand in den 1990er Jahren eine große Zahl von Armen gegenuber. Schon vor Beginn des Winters 1991/92 war absehbar gewesen, dass bei der Versorgung eine große Unsicherheit bestand.
[107]
Die Europaische Gemeinschaft gab 250 Millionen
Ecu
fur Nahrungsmittelhilfe frei. Zur Unterstutzung lieferten die USA mit Hilfe aus Deutschland, Großbritannien und Japan im Februar uber 2000 Tonnen
humanitare Hilfe
nach Russland. Bis im August 1993 wurden bei dieser
Operation Provide Hope
weitere 5000 Tonnen Guter per Luftbrucke geliefert.
[108]
1992 ließ der russische Prasident Boris Jelzin einen Foderationsvertrag unterzeichnen, der den Foderationssubjekten Russlands weitreichende Vollmachten zubilligte. 1993 kam es in Moskau zu blutigen Auseinandersetzungen, als sich der Machtkampf zwischen dem konservativ dominierten Parlament und dem Prasidenten zuspitzte (siehe
Russische Verfassungskrise 1993
). Im selben Jahr trat eine neue Verfassung in Kraft, die dem
Prasidenten
eine machtvolle Stellung gibt. Die erste Halfte der 1990er Jahre war gepragt von der sogenannten “wirtschaftlichen
Schocktherapie
”, wachsender Unzufriedenheit der russischen Bevolkerung uber die unvollendeten Reformen,
Rubelsturz
von 1994, dem
Ersten Tschetschenienkrieg
(1994?1996) und der Niederlage des demokratischen Lagers bei der
Duma-Wahl im Dezember 1995
. Jelzin gewann die
Prasidentschaftswahl im Sommer 1996
, wobei die machtigen Finanzmagnaten (
Oligarchen
) ihn finanziell und organisatorisch massiv unterstutzten.
[109]
1998 ereignete sich eine
Finanzkrise
, in der der Rubel abgewertet werden musste; die
Reallohne
sanken dadurch.
[110]
Ende 1999 trat Jelzin als Prasident zuruck. Nachfolger wurde
Wladimir Putin
; er wurde bei der
Prasidentschaftswahl am 26. Marz 2000
im Amt bestatigt. Am 2. Marz 2008 wurde
Dmitri Medwedew
zum Nachfolger Wladimir Putins als Prasident Russlands gewahlt. Putin wechselte fur vier Jahre ins Amt des Ministerprasidenten.
Ende der 1990er Jahre vollzog sich ein Ubergang von der
Zentralverwaltungswirtschaft
zum
Kapitalismus
(
Transformationsokonomie
),
[111]
worauf 1998 das
russische Bankenwesen zusammenbrach
, wodurch viele Russen ihr Guthaben verloren. Erstmals mit der Regierung
Primakow
von September 1998 bis Mai 1999 kam das semi-prasidentielle Verfassungsdesign zum Tragen; er versuchte eine faktische Koalitionsregierung zu bilden. Wahrend dieser Zeit bußte die Prasidialadministration prompt ihre dominierende Rolle gegenuber dem Ministerkabinett ein. Er wurde ausgetauscht, um dem vom informellen Machtkartell der ?Kremlfamilie“ ausgesuchten Nachfolgekandidaten Jelzins Platz zu machen. Insgesamt waren wahrend der Jelzin-Jahre demokratische Essentials (gewaltenteilige Mechanismen, Meinungsfreiheit) erhalten geblieben. Politologen sprechen fur diese Zeit von einer
defekten Demokratie
.
[112]
Insbesondere in der Ubergangszeit nahmen regionale Autonomiebestrebungen nach dem Ende der stark zentralistischen Sowjetzeit zu, was zu zentrifugalen Stromungen an den Randern des Landes fuhrte. So sah sich seit Mitte der 1990er Jahre die russische Regierung mit Unabhangigkeitsbewegungen und Machtkampfen in zahlreichen Teilrepubliken, darunter in Tschetschenien, Jakutien und Nordossetien, konfrontiert (vgl.
Erster Tschetschenienkrieg
). Von Fruhherbst 1999 bis Anfang 2000 brachten russische Truppen im
zweiten Tschetschenienkrieg
den Großteil Tschetscheniens wieder unter ihre Kontrolle. Seit dem Abzug etwa 20.000 russischer Militarangehoriger liegt die Regierungsgewalt Tschetscheniens verstarkt bei seinem 2007 vereidigten Prasidenten,
Ramsan Kadyrow
.
[113]
Am 16. April 2009 wurde auf Anweisung des russischen Prasidenten Medwedew Tschetscheniens Status einer ?Zone der Ausfuhrung antiterroristischer Operationen“ aufgehoben. Gerade das Problem des Ausgleichs zwischen zentralistischer und dezentraler Herrschaft bildete in der Geschichte Russlands ein konstantes Problem. Um die staatliche Einheit zu wahren und ein Auseinanderfallen des Landes zu verhindern, verstarkte Putin wieder die Zentralmacht in Moskau. Die defekte Demokratie wurde zur
gelenkten Demokratie
.
[114]
Am 10. Marz 2010 begann die russische Opposition eine Kampagne unter dem Titel ?
Putin muss gehen
“. Bis zum 4. Februar 2011 hatten um die 75.000 Burger Russlands den Appell unterzeichnet. Auch im Internet machte sich immer mehr Kritik breit, obwohl die Regierungspartei Putins auch Blogger bezahlt haben soll.
[115]
Die
Putin-Jugendorganisation
soll ein ganzes ?Netzwerk“ an Bloggern finanziert haben.
[116]
Putin wollte stets Aufkommen einer
Farbrevolution
im Keim ersticken; nach den Protesten 2012 verstarkte er die Kontrolle im Inland und die Abschottung nach außen.
[117]
Außenpolitisch suchte die russische Regierung lange nach einem neuen Standort. Unter Putin gelang es wieder mehr politisches Gewicht zu erlangen. Im Umfeld des
Irakkrieges
2003 wurde deutlich, dass sich Russland nicht als Spielball der USA verstand.
[118]
Zudem war Russland an einer engen Abstimmung innerhalb Europas bestrebt und versuchte, seine Interessen durch eine enge Partnerschaft durchzusetzen. Die Vollmitgliedschaft bei den
G8
-Staaten (2002?2014) bedeutete einen erheblichen außenpolitischen Prestigegewinn. Russland blieb bemuht, seinen Einfluss in den Nachbarlandern, vor allem in
Mittelasien
und Weißrussland weiter auszubauen bzw. wiederzuerlangen. So wurde mit Belarus eine Wirtschafts-, Verteidigungs- und Zollunion abgeschlossen (
Russisch-Weißrussische Union
). Außenpolitisch wendete sich Russland nach einigen Jahren der Annaherung mehr und mehr vom Westen ab, in der Rede an der
Munchner Sicherheitskonferenz
2007 nannte Putin die USA ?gegnerische Weltmacht“.
[119]
Dazu beigetragen hatte die zeitweilige Absicht der USA, Teile ihres geplanten
Raketenabwehrsystems
in Polen und Tschechien aufzustellen.
Im August 2008 eskalierten langjahrige Spannungen mit Georgien. Georgien begann eine Militaroffensive in der von Russland unterstutzten abtrunnigen Region
Sudossetien
, um die Kontrolle uber das Gebiet zuruckzugewinnen. Russland beantwortete dies mit dem Einmarsch eigener Truppen (→
Kaukasus-Konflikt 2008
).
Gegenuber ehemaligen Sowjetrepubliken wurde mit Wirtschaftssanktionen und Strafzollen Druck ausgeubt ? exemplarisch der
russisch-ukrainische Gasstreit
(?Gaskrieg“) mit der Ukraine. Die ukrainische Webseite Newsplot zeichnete 2014 15 Falle von ?Nahrungsmittelkriegen“ auf, die die russische Regierung in den Jahren 2005 bis 2013 gegen seine Nachbarn gefuhrt hat, beispielsweise gegen georgischen Wein, gegen Milchprodukte aus Belarus, gegen ukrainische Schokolade
[120]
und gegen moldauischen Wein.
[121]
Nach den Falschungen der
Parlamentswahlen 2011
kam es zu
Großdemonstrationen
mit Hunderttausenden von Teilnehmern. Darauf reagierte die Staatsmacht mit noch mehr Repression; es wurde bereits verhaftet, wer sich mit einer anderen ?protestierenden“ Person traf; jede andere Protestform als ein Einzelprotest wurde verboten,
[122]
Anmeldungen von Demonstrationen zur Bewilligung waren stets willkurlichen Regeln unterworfen. Das ebenso willkurliche
Gesetz uber ?auslandische Agenten“ in Russland
wurde ab 2012 eingefuhrt.
Ab 2013 begann die Stagnation der Wirtschaft.
Am 20. Februar 2014 begann der nur halb verdeckte Militareinsatz in der durch einen
Freundschaftsvertrag mit Russland
verbundenen
Ukraine
. Deren vertraglich garantierte Souveranitat wurde dadurch und durch die russische
Annexion der Krim
verletzt. Am 21. Marz 2014 wurde der
Foderationskreis Krim
gegrundet. Die
volkerrechtliche
Legitimitat dieser Schritte ist außerhalb Russlands, aber auch in Russland selbst umstritten.
[123]
[124]
Der von Russland 2014 ebenfalls angestossene
Hybridkrieg in der ostlichen Ukraine
wahrte nach einer
internationalen Eindammung
uber mehrere Jahre und mundete am 24. Februar 2022 in den
russischen Uberfall auf die Ukraine
.
In der Gesellschaft war es in der Zwischenzeit zu mehreren Demonstrationswellen gekommen. 2018 demonstrierten die Menschen wochenlang gegen die Erhohung des Rentenalters, 2019 kam es neben einer bewilligten Großdemonstration
[125]
trotz Demonstrationsverboten zu wochenlangen
Protesten gegen den Ausschluss von Kandidaten bei den Kommunalwahlen
.
[126]
Diese Proteste waren moralisch, nicht politisch, so
Leonid Gosman
, daher vereinten sie Menschen verschiedener politischer Ansichten gegen die Arroganz und Unzulanglichkeit der Behorden mit ihren Lugen und ihrer Verachtung der Menschen.
[127]
Weitere Proteste gab es in
Chabarowsk 2020
nach der offensichtlich politisch motivierten Festnahme des Gouverneurs
Sergei Furgal
. Im
Januar 2021 protestierten Zehntausende
gegen die Festnahme von
Alexei Nawalny
.
Als Grund fur den
verdeckten Krieg
in der Ukraine sehen Historiker und Politikwissenschaftler ubereinstimmend die innenpolitische Gefahr fur das
politische System Russlands
, welche eine erfolgreiche Ukraine darstelle.
[128]
Am 24. Februar 2022 begannen russische Streitkrafte auf Befehl von Putin den
russischen Uberfall auf die Ukraine
. Nachdem die
Russische Propaganda
die Menschen aufgepeitscht hatte, erreichte die klare oder maßige Zustimmung zu Putins Krieg laut einer Umfrage rund 58 Prozent, wahrend 23 Prozent diesen klar ablehnten. Die Zustimmung war unter den uber 66-jahrigen mit 75 Prozent am Hochsten, wahrend sie bei den unter 24-jahrigen noch 29 Prozent betrug.
[129]
Eine
Mobilmachung
hatte der Prasident bis im September vermieden, um diese Zustimmung nicht zu verlieren. Die
russische Annexion der Sud- und Ostukraine
sollte das Volk hinter der Kriegsidee sammeln und wurde von 143 Staaten weltweit verurteilt.
Am 23. Juni 2023 begann der
Aufstand der Gruppe Wagner in Russland
. Nach Aussage des Wagner-Chefs
Jewgeni Wiktorowitsch Prigoschin
hatten die russischen Streitkrafte seine
Gruppe Wagner
in der Ukraine attackiert, woraufhin er seinen Streitkraften befahl, einen Marsch der Gerechtigkeit auf Moskau mit dem Ziel durchzufuhren. Dieser hatte unter anderem das Verteidigungsminister
Sergei Schoigu
abzusetzen. Am 24. Juni nahm die Gruppe Wagner mit 25.000 Soldaten militarische Einrichtungen in
Rostow am Don
ein und ruckte bis zum Abend uber Woronesch auf Moskau vor.
[130]
Rund 200 Kilometer vor der russischen Hauptstadt, in der man sich unter anderem mit Straßenblockaden bereits vorbereitete, stoppte Prigoschin den Vormarsch.
[131]
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Im Zentrum steht die Geschichte des russischen Ostslawentums, also das
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Ukrainer
und
Belarussen
als auch die Abhandlung nichtslawischer Volker und Territorien sind nicht Gegenstand dieses Artikels.
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Die Bezeichnung ?Russland“ wurde erst zur Zeit Peters des Großen in Anlehnung an die westeuropaischen Landesnamen gebildet.
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Vgl. Antonia von Reiche:
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Vgl. Antonia von Reiche:
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Geschichte neuzeitlicher Staaten Asiens
Geschichte neuzeitlicher Staaten in Europa