Die
Mathematik
(
bundesdeutsches Hochdeutsch
: [
matema?tiːk
], [
matema?tik
];
osterreichisches Hochdeutsch
: [
mate?maːtik
];
[1]
von
altgriechisch
μαθηματικ? τ?χνη
math?matik? techn?
?die Kunst des
Lernens
‘) ist eine
Formalwissenschaft
, die aus der Untersuchung von
geometrischen Figuren
und dem
Rechnen
mit
Zahlen
entstand. Fur
Mathematik
gibt es keine allgemein anerkannte
Definition
; heute wird sie ublicherweise als eine Wissenschaft beschrieben, die durch
logische
Definitionen selbstgeschaffene
abstrakte
Strukturen
mittels der
Logik
auf ihre Eigenschaften und
Muster
untersucht.
Geschichte
Die Mathematik ist eine der altesten Wissenschaften. Ihre erste Blute erlebte sie noch vor der
Antike
in
Mesopotamien
,
Indien
und
China
, spater in der Antike in Griechenland und im
Hellenismus
. Von dort datiert die Orientierung an der Aufgabenstellung des ?rein logischen Beweisens“ und die erste
Axiomatisierung
, namlich die
euklidische Geometrie
. Im
Mittelalter
uberlebte sie unabhangig voneinander im fruhen Humanismus der Universitaten und in der arabischen Welt.
In der fruhen
Neuzeit
fuhrte
Francois Viete
Variablen ein,
Rene Descartes
eroffnete durch die Verwendung von
Koordinaten
einen rechnerischen Zugang zur Geometrie. Die Betrachtung von Anderungsraten (
Fluxionen
) sowie die Beschreibung von Tangenten und die Bestimmung von Flacheninhalten (?Quadratur“) fuhrten zur
Infinitesimalrechnung
von
Gottfried Wilhelm Leibniz
und
Isaac Newton
.
Newtons Mechanik
und sein
Gravitationsgesetz
waren auch in den folgenden Jahrhunderten eine Quelle richtungweisender
mathematischer
Probleme wie des
Dreikorperproblems
.
Ein anderes Leitproblem der fruhen Neuzeit war das Losen zunehmend komplizierter werdender algebraischer Gleichungen. Zu dessen Behandlung entwickelten
Niels Henrik Abel
und
Evariste Galois
den Begriff der
Gruppe
, der Beziehungen zwischen Symmetrien eines Objektes beschreibt. Als weitere Vertiefung dieser Untersuchungen konnen die neuere
Algebra
und insbesondere die
algebraische Geometrie
angesehen werden.
Eine damals neue Idee im Briefwechsel zwischen
Blaise Pascal
und
Pierre de Fermat
im Jahr 1654 fuhrte zur Losung eines alten Problems, fur das es schon andere, allerdings umstrittene Losungsvorschlage gab. Der Briefwechsel wird als Geburt der klassischen Wahrscheinlichkeitsrechnung angesehen. Die neuen Ideen und Verfahren eroberten viele Bereiche. Aber uber Jahrhunderte hinweg kam es zur Aufspaltung der klassischen Wahrscheinlichkeitstheorie in separate Schulen. Versuche, den Begriff ?Wahrscheinlichkeit“ explizit zu definieren, gelangen nur fur Spezialfalle. Erst das Erscheinen von
Andrei Kolmogorows
Lehrbuch
Grundbegriffe der Wahrscheinlichkeitsrechnung
im Jahr 1933 schloss die Entwicklung der Fundamente moderner Wahrscheinlichkeitstheorie ab, siehe dazu auch
Geschichte der Wahrscheinlichkeitsrechnung
.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts fand die Infinitesimalrechnung durch die Arbeiten von
Augustin-Louis Cauchy
und
Karl Weierstraß
ihre heutige
strenge Form
. Die von
Georg Cantor
gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte
Mengenlehre
ist aus der heutigen Mathematik ebenfalls nicht mehr wegzudenken, auch wenn sie durch die Paradoxien des naiven Mengenbegriffs zunachst deutlich machte, auf welch unsicherem Fundament die Mathematik vorher stand.
Die Entwicklung der ersten Halfte des 20. Jahrhunderts stand unter dem Einfluss von
David Hilberts
Liste von 23 mathematischen Problemen
. Eines der Probleme war der Versuch einer vollstandigen
Axiomatisierung
der Mathematik; gleichzeitig gab es starke Bemuhungen zur Abstraktion, also des Versuches, Objekte auf ihre wesentlichen Eigenschaften zu reduzieren. So entwickelte
Emmy Noether
die Grundlagen der modernen Algebra,
Felix Hausdorff
die allgemeine
Topologie
als die Untersuchung
topologischer Raume
,
Stefan Banach
den wohl wichtigsten Begriff der
Funktionalanalysis
, den nach ihm benannten
Banachraum
. Eine noch hohere Abstraktionsebene, einen gemeinsamen Rahmen fur die Betrachtung ahnlicher Konstruktionen aus verschiedenen Bereichen der Mathematik, schuf schließlich die Einfuhrung der
Kategorientheorie
durch
Samuel Eilenberg
und
Saunders Mac Lane
.
Inhalte und Methodik
Inhalte und Teilgebiete
Die folgende Aufzahlung gibt einen ersten chronologischen Uberblick uber die Breite mathematischer Themen:
- das Rechnen mit
Zahlen
(
Arithmetik
?
Altertum
),
- die Untersuchung von Figuren (
Geometrie
?
Altertum
,
Euklid
),
- das Auflosen von
Gleichungen
(
Algebra
?
Altertum
,
Mittelalter
und
Renaissance
,
Tartaglia
),
- die Untersuchung der korrekten Schlussfolgerungen (
Logik
?
Aristoteles
) (teilweise nur zur Philosophie, oft aber auch zur Mathematik gezahlt)
- Untersuchungen zur
Teilbarkeit
(
Zahlentheorie
? Euklid,
Diophant
,
Fermat
,
Euler
,
Gauß
,
Riemann
),
- das rechnerische Erfassen raumlicher Beziehungen (
Analytische Geometrie
?
Descartes
, 17. Jahrhundert),
- das Rechnen mit Wahrscheinlichkeiten (
Wahrscheinlichkeitstheorie
?
Pascal
,
Jakob Bernoulli
,
Laplace
, 17.?
19. Jahrhundert
),
- die Untersuchung von Funktionen, insbesondere deren Wachstum, Krummung, des Verhaltens im Unendlichen und der Flacheninhalte unter den Kurven (
Analysis
?
Newton
,
Leibniz
, Ende des 17. Jahrhunderts),
- die
Optimierung
geometrischer Formen und Funktionen (
Mathematische Optimierung
?
Johann Bernoulli
,
Leonhard Euler
und
Joseph-Louis Lagrange
, Ende des 17. und 18. Jahrhundert)
- die Beschreibung
physikalischer Felder
(
Differentialgleichungen
,
partielle Differentialgleichungen
,
Vektoranalysis
?
Euler
, die
Bernoullis
,
Laplace
, Gauß,
Poisson
,
Fourier
,
Green
,
Stokes
,
Hilbert
, 18.?19. Jahrhundert),
- die Perfektionierung der Analysis durch die Einbeziehung
komplexer Zahlen
(
Funktionentheorie
? Gauß,
Cauchy
,
Weierstraß
, 19. Jahrhundert),
- die Geometrie gekrummter Flachen und Raume (
Differentialgeometrie
? Gauß, Riemann,
Levi-Civita
, 19. Jahrhundert),
- das systematische Studium von Symmetrien (
Gruppentheorie
?
Galois
,
Abel
,
Klein
,
Lie
, 19. Jahrhundert),
- die Aufklarung von Paradoxien des Unendlichen (
Mengenlehre
und
mathematische Logik
?
Cantor
,
Frege
,
Russell
,
Zermelo
,
Fraenkel
, Anfang des 20. Jahrhunderts),
- die stetige Verformung geometrischer Korper (
Topologie
? Cantor,
Poincare
,
Frechet
,
Hausdorff
,
Kuratowski
, Anfang des 20. Jahrhunderts),
- die Untersuchung von Strukturen und Theorien (
Universelle Algebra
,
Kategorientheorie
),
- die Erhebung und Auswertung von Daten (
Mathematische Statistik
).
- diskrete endliche oder abzahlbar unendliche Strukturen (
Diskrete Mathematik
,
Kombinatorik
,
Graphentheorie
? Euler,
Cayley
,
K?nig
,
Tutte
,
Carl Adam Petri
) mit engen Beziehungen zur
Informatik
.
Etwas abseits steht in dieser Aufzahlung die
Numerische Mathematik
, die fur konkrete kontinuierliche Probleme aus vielen der oben genannten Bereiche
Algorithmen
zur Losung bereitstellt und diese untersucht.
Unterschieden werden ferner die
reine Mathematik
, auch als
theoretische Mathematik
bezeichnet, die sich nicht mit außermathematischen Anwendungen befasst, und die
angewandte Mathematik
, wie zum Beispiel die
Versicherungsmathematik
und
Kryptologie
. Die Ubergange der vorstehenden Gebiete sind fließend.
Fortschreiten durch Problemlosen
Kennzeichnend fur die Mathematik ist weiterhin die Weise, wie sie durch das Bearbeiten von ?eigentlich zu schweren“ Problemen voranschreitet.
Sobald ein
Grundschuler
das
Addieren
naturlicher Zahlen gelernt hat, ist er in der Lage, folgende Frage zu verstehen und durch Probieren zu beantworten:
?Welche Zahl muss man zu 3 addieren, um 5 zu erhalten?“
Die systematische Losung solcher Aufgaben aber erfordert die Einfuhrung eines neuen Konzepts: der Subtraktion. Die Frage lasst sich dann umformulieren zu:
?Was ist 5 minus 3?“
Sobald aber die
Subtraktion
definiert ist, kann man auch die Frage stellen:
?Was ist 3 minus 5?“,
die auf eine negative Zahl und damit bereits uber die Grundschulmathematik hinaus fuhrt.
Ebenso wie in diesem elementaren Beispiel beim individuellen Erlernen ist die Mathematik auch in ihrer Geschichte fortgeschritten: auf jedem erreichten Stand ist es moglich, wohldefinierte Aufgaben zu stellen, zu deren Losung weitaus anspruchsvollere Mittel notig sind. Oft sind zwischen der Formulierung eines Problems und seiner Losung viele Jahrhunderte vergangen und ist mit der Problemlosung schließlich ein vollig neues Teilgebiet begrundet worden: so konnten mit der
Infinitesimalrechnung
im 17. Jahrhundert Probleme gelost werden, die seit der Antike offen waren.
Auch eine negative Antwort, der Beweis der Unlosbarkeit eines Problems, kann die Mathematik voranbringen: so ist aus gescheiterten Versuchen zur Auflosung algebraischer Gleichungen die Gruppentheorie entstanden.
Axiomatische Formulierung und Sprache
Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, vereinzelt schon seit der
Antike
, wird die Mathematik in Form von
Theorien
prasentiert, die mit Aussagen beginnen, welche als wahr angesehen werden; daraus werden dann weitere wahre Aussagen hergeleitet. Diese Herleitung geschieht dabei nach genau festgelegten
Schlussregeln
. Die Aussagen, mit denen die Theorie anfangt, nennt man
Axiome
,
die daraus hergeleiteten nennt man
Satze
.
Die Herleitung selbst ist ein
Beweis
des Satzes. In der Praxis spielen noch
Definitionen
eine Rolle, durch sie werden mathematische Begriffe durch Ruckfuhrung auf grundlegendere eingefuhrt und prazisiert. Aufgrund dieses Aufbaus der mathematischen Theorien bezeichnet man sie als
axiomatische Theorien.
Ublicherweise verlangt man dabei von Axiomen einer Theorie, dass diese widerspruchsfrei sind, also dass nicht gleichzeitig ein Satz und die Negation dieses Satzes wahr sind. Diese Widerspruchsfreiheit selbst lasst sich aber im Allgemeinen nicht innerhalb einer mathematischen Theorie beweisen (dies ist abhangig von den verwendeten Axiomen). Das hat zur Folge, dass etwa die Widerspruchsfreiheit der
Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre
, die fundamental fur die moderne Mathematik ist, nicht ohne Zuhilfenahme weiterer Annahmen beweisbar ist.
Die von diesen Theorien behandelten Gegenstande sind abstrakte mathematische Strukturen, die ebenfalls durch Axiome definiert werden. Wahrend in den anderen
Wissenschaften
die behandelten Gegenstande vorgegeben sind und danach die Methoden zur Untersuchung dieser Gegenstande geschaffen werden, ist bei der Mathematik umgekehrt die Methode vorgegeben und die damit untersuchbaren Gegenstande werden erst danach erschaffen. In dieser Weise nimmt und nahm die Mathematik immer eine Sonderstellung unter den Wissenschaften ein.
Die Weiterentwicklung der Mathematik geschah und geschieht dagegen oft durch Sammlungen von Satzen, Beweisen und Definitionen, die nicht axiomatisch strukturiert sind, sondern vor allem durch die Intuition und Erfahrung der beteiligten Mathematiker gepragt sind. Die Umwandlung in eine axiomatische Theorie erfolgt erst spater, wenn weitere Mathematiker sich mit den dann nicht mehr ganz so neuen Ideen beschaftigen.
Kurt Godel
zeigte um 1930 den nach ihm benannten
Unvollstandigkeitssatz
, der besagt, dass es in jedem
Axiomensystem
klassischer Logik, das erlaubt, gewisse Aussagen uber naturliche Zahlen zu beweisen, entweder Aussagen gibt, die ebenso wenig wie ihre Negation beweisbar sind, oder aber das System selbst widerspruchlich ist.
Mathematik benutzt zur Beschreibung von Sachverhalten eine sehr kompakte Sprache, die auf Fachbegriffen und vor allem Formeln beruht. Eine Darstellung der in den Formeln benutzten Zeichen findet sich in der
Liste mathematischer Symbole
. Eine Besonderheit der
mathematischen Fachsprache
besteht in der Bildung von aus Mathematikernamen abgeleiteten
Adjektiven
wie
pythagoreisch
, euklidisch,
eulersch
,
abelsch
,
noethersch
und
artinsch
.
Anwendungsgebiete
Die Mathematik ist in allen Wissenschaften anwendbar, die ausreichend
formalisiert
sind. Daraus ergibt sich ein enges Wechselspiel mit Anwendungen in
empirischen
Wissenschaften. Uber viele Jahrhunderte hinweg hat die Mathematik Anregungen aus der
Astronomie
, der
Geodasie
, der
Physik
und der
Okonomie
aufgenommen und umgekehrt die Grundlagen fur den Fortschritt dieser Facher bereitgestellt. Beispielsweise hat Newton die
Infinitesimalrechnung
entwickelt, um das physikalische Konzept ?Kraft gleich Impulsanderung“ mathematisch zu fassen. Solow entwickelte ein
okonomisches Modell
des Wachstums einer
Volkswirtschaft
, das bis heute die Grundlage der neoklassischen Wachstumstheorie bildet. Fourier hat beim Studium der
Wellengleichung
die Grundlage fur den modernen
Funktionsbegriff
gelegt und Gauß hat im Rahmen seiner Beschaftigung mit Astronomie und Landvermessung die
Methode der kleinsten Quadrate
entwickelt und das Losen von linearen Gleichungssystemen systematisiert. Aus der anfanglichen Untersuchung von Glucksspielen ist die heute allgegenwartige Statistik hervorgegangen.
Umgekehrt haben Mathematiker zuweilen Theorien entwickelt, die erst spater uberraschende praktische Anwendungen gefunden haben. So ist zum Beispiel die schon im 16. Jahrhundert entstandene Theorie der
komplexen Zahlen
zur mathematischen Darstellung des
Elektromagnetismus
inzwischen unerlasslich geworden. Ein weiteres Beispiel ist der
tensorielle
Differentialformen
kalkul, den
Einstein
fur die mathematische Formulierung der
allgemeinen Relativitatstheorie
verwendet hatte. Des Weiteren galt die Beschaftigung mit der
Zahlentheorie
lange Zeit als intellektuelle Spielerei ohne praktischen Nutzen, ohne sie waren heute allerdings die moderne
Kryptographie
und ihre vielfaltigen Anwendungen im Internet nicht denkbar.
Verhaltnis zu anderen Wissenschaften
Kategorisierung der Mathematik
Uber die Frage, zu welcher Kategorie der Wissenschaften die Mathematik gehort, wird seit langer Zeit kontrovers diskutiert.
Viele mathematische Fragestellungen und Begriffe sind durch die Natur betreffende Fragen motiviert, beispielsweise aus der
Physik
oder den
Ingenieurwissenschaften
, und die Mathematik wird als Hilfswissenschaft in nahezu allen Naturwissenschaften herangezogen. Jedoch ist sie selbst keine
Naturwissenschaft
im eigentlichen Sinne, da ihre Aussagen nicht von Experimenten oder Beobachtungen abhangen. Dennoch wird in der neueren
Philosophie der Mathematik
davon ausgegangen, dass auch die Methodik der Mathematik immer mehr derjenigen der Naturwissenschaft entspricht. Im Anschluss an
Imre Lakatos
wird eine ?Renaissance des
Empirismus
“ vermutet, wonach auch Mathematiker
Hypothesen
aufstellen und fur diese Bestatigungen suchen.
Die Mathematik hat methodische und inhaltliche Gemeinsamkeiten mit der
Philosophie
; beispielsweise ist die
Logik
ein Uberschneidungsbereich der beiden Wissenschaften. Damit konnte man die Mathematik zu den
Geisteswissenschaften
rechnen,
[2]
aber auch die Einordnung in die Philosophie ist umstritten.
Auch aus diesen Grunden kategorisieren einige die Mathematik ? neben anderen Disziplinen wie der
Informatik
? als
Strukturwissenschaft
bzw.
Formalwissenschaft
.
An deutschen
Universitaten
gehort die Mathematik meistens zur selben
Fakultat
wie die Naturwissenschaften, und so wird Mathematikern nach der
Promotion
in der Regel der
akademische Grad
eines Dr. rer. nat. (Doktor der Naturwissenschaft) verliehen. Im Gegensatz dazu erreicht im englischen Sprachraum der Hochschulabsolvent die Titel ?Bachelor of Arts“ bzw. ?Master of Arts“, die eigentlich an Geisteswissenschaftler vergeben werden.
Sonderrolle unter den Wissenschaften
Eine Sonderrolle unter den Wissenschaften nimmt die Mathematik bezuglich der Gultigkeit ihrer Erkenntnisse und der
Strenge
ihrer Methoden ein. Wahrend beispielsweise alle naturwissenschaftlichen Erkenntnisse durch neue Experimente
falsifiziert
werden konnen und daher prinzipiell vorlaufig sind, werden mathematische Aussagen durch reine Gedankenoperationen auseinander hervorgebracht oder aufeinander zuruckgefuhrt und brauchen nicht
empirisch
uberprufbar zu sein. Dafur muss aber fur mathematische Erkenntnisse ein streng logischer
Beweis
gefunden werden, bevor sie als
mathematischer Satz
anerkannt werden. In diesem Sinn sind mathematische Satze prinzipiell endgultige und allgemeingultige Wahrheiten, sodass die Mathematik als
die
exakte Wissenschaft betrachtet werden kann. Gerade diese Exaktheit ist fur viele Menschen das Faszinierende an der Mathematik. So sagte
David Hilbert
auf dem
Internationalen Mathematiker-Kongress
1900 in Paris:
?Wir erortern noch kurz, welche berechtigten allgemeinen Forderungen an die Losung eines mathematischen Problems zu stellen sind: ich meine vor allem die, daß es gelingt, die Richtigkeit der Antwort durch eine endliche Anzahl von Schlussen darzutun, und zwar auf Grund einer endlichen Anzahl von Voraussetzungen, welche in der Problemstellung liegen und die jedesmal genau zu formulieren sind. Diese Forderung der logischen Deduktion mittels einer endlichen Anzahl von Schlussen ist nichts anderes als die Forderung der Strenge in der Beweisfuhrung. In der Tat, die Forderung der Strenge, die in der Mathematik bekanntlich von sprichwortlicher Bedeutung geworden ist, entspricht einem allgemeinen philosophischen Bedurfnis unseres Verstandes, und andererseits kommt durch ihre Erfullung allein erst der gedankliche Inhalt und die Fruchtbarkeit des Problems zur vollen Geltung. Ein neues Problem, zumal, wenn es aus der außeren Erscheinungswelt stammt, ist wie ein junges Reis, welches nur gedeiht und Fruchte tragt, wenn es auf den alten Stamm, den sicheren Besitzstand unseres mathematischen Wissens, sorgfaltig und nach den strengen Kunstregeln des Gartners aufgepfropft wird.“
[3]
Joseph Weizenbaum
vom
Massachusetts Institute of Technology
bezeichnete die Mathematik als die Mutter aller Wissenschaften.
?Ich behaupte aber, daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden konne, als darin Mathematik anzutreffen ist.“
Die Mathematik ist daher auch eine kumulative Wissenschaft. Man kennt heute uber 2000 mathematische Fachzeitschriften. Dies birgt jedoch auch eine Gefahr: durch neuere mathematische Gebiete geraten altere Gebiete in den Hintergrund. Neben sehr allgemeinen Aussagen gibt es auch sehr spezielle Aussagen, fur die keine echte Verallgemeinerung bekannt ist.
Donald E. Knuth
schreibt dazu im Vorwort seines Buches
Concrete Mathematics:
“The course title ‘Concrete Mathematics’ was originally intended as an antidote to ‘Abstract Mathematics’, since concrete classical results were rapidly being swept out of the modern mathematical curriculum by a new wave of abstract ideas popularly called the ‘New Math’. Abstract mathematics is a wonderful subject, and there’s nothing wrong with it: It’s beautiful, general and useful. But its adherents had become deluded that the rest of mathematics was inferior and no longer worthy of attention. The goal of generalization had become so fashionable that a generation of mathematicians had become unable to relish beauty in the particular, to enjoy the challenge of solving quantitative problems, or to appreciate the value of technique. Abstract mathematics was becoming inbred and losing touch with reality; mathematical education needed a concrete counterweight in order to restore a healthy balance.”
?Der Veranstaltungstitel ?Konkrete Mathematik‘ war ursprunglich als Gegenpol zur ?Abstrakten Mathematik‘ gedacht, denn konkrete, klassische Errungenschaften wurden von einer neuen Welle abstrakter Vorstellungen ? gemeinhin ?New Math‘ (?neue Mathematik‘) genannt ? in rasantem Tempo aus den Lehrplanen gespult. Abstrakte Mathematik ist eine wunderbare Sache, an der nichts auszusetzen ist: Sie ist schon, allgemeingultig und nutzlich. Aber ihre Anhanger gelangten zu der irrigen Ansicht, dass die ubrige Mathematik minderwertig und nicht mehr beachtenswert sei. Das Ziel der Verallgemeinerung kam dermaßen in Mode, dass eine ganze Generation von Mathematikern nicht mehr im Stande war, Schonheit im Speziellen zu erkennen, die Losung von quantitativen Problemen als Herausforderung zu begreifen oder den Wert mathematischer Techniken zu schatzen. Die abstrakte Mathematik drehte sich nur noch um sich selbst und verlor den Kontakt zur Realitat; in der mathematischen Ausbildung war ein konkretes Gegengewicht notwendig, um wieder ein stabiles Gleichgewicht herzustellen.“
Es kommt somit der alteren mathematischen Literatur eine besondere Bedeutung zu.
Der Mathematiker
Claus Peter Ortlieb
kritisiert die ? seiner Ansicht nach ? zu wenig reflektierte Anwendung der modernen Mathematik:
?Man muss sich bewusst machen, dass die Erfassung der Welt durch Mathematik Grenzen hat. Die Annahme, sie funktioniere allein nach mathematischen Gesetzen, fuhrt dazu, dass man nur noch nach diesen Gesetzen Ausschau halt. Naturlich werde ich sie in den Naturwissenschaften auch finden, doch ich muss mir im Klaren daruber sein, dass ich die Welt durch eine Brille hindurch betrachte, die von vornherein große Teile ausblendet. […] Die mathematische Methode ist langst von Wissenschaftlern fast aller Disziplinen ubernommen worden und wird in allen moglichen Bereichen angewandt, wo sie eigentlich nichts zu suchen hat. […] Bedenklich sind Zahlen immer dann, wenn sie zu Normierungen fuhren, obwohl niemand mehr nachvollziehen kann, wie die Zahlen zustande gekommen sind.“
[4]
Mathematik in der Gesellschaft
Mathematik im ?Wissenschaftsjahr 2008“
Das vom
Bundesministerium fur Bildung und Forschung
(BMBF) seit dem Jahr 2000 jahrlich ausgerichtete
Wissenschaftsjahr
war 2008 das
Jahr der Mathematik
.
Mathematik in der Schule
Mathematik spielt in der Schule eine wichtige Rolle als
Pflichtfach
.
Mathematikdidaktik
ist die Wissenschaft, die sich mit dem Lehren und Lernen von Mathematik beschaftigt. In den Klassen 5?10 geht es vor allem um das Erlernen von Rechenfertigkeiten. In deutschen Gymnasien werden in der Oberstufe, also ab Klasse 11, dann Differential- und Integralrechnung sowie Analytische Geometrie / Lineare Algebra eingefuhrt und dazu Stochastik weitergefuhrt.
Große Verbreitung an Schulen hat der Wettbewerb
Kanguru der Mathematik
gefunden: Von 200 Teilnehmern im Jahr 1995 stieg die Anzahl auf 968.000 im Jahr 2019. Es ist ein Multiple-Choice-Wettbewerb mit Aufgaben zum Knobeln, zum Rechnen und zum Schatzen, der vor allem Freude an der Beschaftigung mit Mathematik wecken soll. Die Aufgaben erfordern keine schriftliche Begrundung.
[5]
Mathematik als Studienfach und Beruf
Menschen, die sich beruflich mit der Entwicklung und der Anwendung der Mathematik beschaftigen, nennt man
Mathematiker
.
Neben dem Mathematikstudium, in dem man seine Schwerpunkte auf reine und/oder angewandte Mathematik setzen kann, sind in neuerer Zeit vermehrt interdisziplinare Studiengange wie
Technomathematik
,
Wirtschaftsmathematik
,
Computermathematik
oder
Biomathematik
eingerichtet worden. Ferner ist das
Lehramt
an weiterfuhrenden
Schulen
und
Hochschulen
ein wichtiger mathematischer Berufszweig. An deutschen Universitaten wurde im Rahmen des
Bologna-Prozesses
das Diplom auf
Bachelor
/
Master
-Studiengange umgestellt. Eine gewisse Anzahl an
Semesterwochenstunden
in Mathematik mussen auch angehende
Informatiker
,
Chemiker
,
Biologen
,
Physiker
,
Geologen
und
Ingenieure
belegen.
Die haufigsten Arbeitgeber fur Mathematiker sind
Versicherungen
,
Banken
und
Unternehmensberatungen
, insbesondere im Bereich mathematischer Finanzmodelle und Consulting, aber auch im IT-Bereich. Daruber hinaus werden Mathematiker in fast allen Branchen eingesetzt.
Mathematische Museen und Sammlungen
Mathematik ist eine der altesten Wissenschaften und auch eine experimentelle Wissenschaft. Diese beiden Aspekte lassen sich durch
Museen
und historische Sammlungen sehr gut verdeutlichen.
Die alteste Einrichtung dieser Art in Deutschland ist der 1728 gegrundete
Mathematisch-Physikalische Salon
in Dresden. Das
Arithmeum
in Bonn am dortigen Institut fur diskrete Mathematik geht in die 1970er Jahre zuruck und beruht auf der Sammlung von Rechengeraten des Mathematikers
Bernhard Korte
. Das
Heinz Nixdorf MuseumsForum
(Abkurzung ?HNF“) in Paderborn ist das großte deutsche Museum zur Entwicklung der Rechentechnik (insbesondere des Computers). Das
Mathematikum
in Gießen wurde 2002 von
Albrecht Beutelspacher
gegrundet und wird von ihm laufend weiterentwickelt. Im
Museumsquartier
in Wien befindet sich das von
Rudolf Taschner
geleitete
Math.space
, welches die Mathematik im Kontext zu Kultur und Zivilisation zeigt.
Daruber hinaus sind zahlreiche Spezialsammlungen an Universitaten untergebracht, aber auch in umfassenderen Sammlungen wie zum Beispiel im
Deutschen Museum
in Munchen oder im
Museum fur Technikgeschichte in Berlin
(Rechner von
Konrad Zuse
entwickelt und gebaut).
Aphorismen uber Mathematik und Mathematiker (Auswahl)
Folgende
Aphorismen
bekannter Personlichkeiten sind zu finden:
[6]
- Albert Einstein
:
Die Mathematik handelt ausschließlich von den Beziehungen der Begriffe zueinander ohne Rucksicht auf deren Bezug zur Erfahrung.
- Galileo Galilei
:
Mathematik ist das Alphabet, mit dessen Hilfe Gott das Universum beschrieben hat.
- Johann Wolfgang von Goethe
:
Die Mathematiker sind eine Art Franzosen: Redet man zu ihnen, so ubersetzen sie es in ihre Sprache, und dann ist es alsobald ganz etwas anderes.
- Godfrey Harold Hardy
:
Der Mathematiker ist ein Hersteller von Schemata.
- David Hilbert
:
Aus dem Paradies, das Cantor uns geschaffen, soll uns niemand vertreiben konnen.
- Novalis
:
Die ganze Mathematik ist eigentlich eine Gleichung im Großen fur die anderen Wissenschaften.
- Friedrich Nietzsche
:
Wir wollen die Feinheit und Strenge der Mathematik in alle Wissenschaften hineintreiben, so weit diess nur irgend moglich ist, nicht im Glauben, dass wir auf diesem Wege die Dinge erkennen werden, sondern um damit unsere menschliche Relation zu den Dingen
festzustellen
. Die Mathematik ist nur das Mittel der allgemeinen und letzten Menschenkenntniss.
[7]
- Bertrand Russell
:
Mathematik ist die Wissenschaft, bei der man nicht weiß, wovon man spricht, noch ob das, was man sagt, wahr ist.
- Friedrich Schlegel
:
Die Mathematik ist gleichsam eine sinnliche Logik, sie verhalt sich zur Philosophie wie die materiellen Kunste, Musik und Plastik, zur Poesie.
- James Joseph Sylvester
:
Mathematik ist die Musik der Vernunft.
- Ludwig Wittgenstein
:
Die Mathematik ist eine Methode der Logik.
Siehe auch
Literatur
- John D. Barrow
:
Ein Himmel voller Zahlen ? Auf den Spuren mathematischer Wahrheit
, aus dem Englischen von Anita Ehlers, Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 1999,
ISBN 3-499-19742-1
.
- Jurgen Brater:
Kuriose Welt der Zahlen
, Eichborn Verlag, Frankfurt/Main 2005,
ISBN 3-8218-4888-X
.
- Richard Courant
,
Herbert Robbins
:
Was ist Mathematik?
Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg 2000,
ISBN 3-540-63777-X
.
- Georg Glaeser
:
Der Mathematische Werkzeugkasten. Anwendungen in Natur und Technik
. 5. Auflage.
Springer Spektrum
, Berlin 2021,
ISBN 978-3-662-63260-4
,
doi
:
10.1007/978-3-662-63261-1
.
- Timothy Gowers
:
Mathematik.
Deutsche Erstausgabe, aus dem Englischen ubersetzt von Jurgen Schroder, Reclam-Verlag, Stuttgart 2011,
ISBN 978-3-15-018706-7
.
- Timothy Gowers (Hrsg.),
June Barrow-Green
(Hrsg.),
Imre Leader
(Hrsg.):
The Princeton Companion to Mathematics.
Princeton University Press 2008 (Enzyklopadisch auf einfuhrendem Niveau)
- David Hilbert
,
Paul Isaak Bernays
:
Grundlagen der Mathematik 1
. 2. Auflage.
Springer Verlag
, Berlin 1968.
- David Hilbert, Paul Isaak Bernays:
Grundlagen der Mathematik 2
. 2. Auflage. Springer Verlag, Berlin 1970.
- Hans Kaiser,
Wilfried Nobauer
:
Geschichte der Mathematik.
2. Auflage. Oldenbourg, Munchen 1999,
ISBN 3-486-11595-2
.
- Mario Livio
:
Ist Gott ein Mathematiker? Warum das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben ist.
C. H. Beck Verlag, Munchen 2010,
ISBN 978-3-406-60595-6
.
- Herbert Meschkowski
:
Denkweisen großer Mathematiker. Ein Weg zur Geschichte der Mathematik
. Vieweg Verlag, Braunschweig 1990,
ISBN 3-528-28179-0
.
- Ian Stewart
:
Die letzten Ratsel der Mathematik
. 2. Auflage.
Rowohlt Taschenbuch Verlag
, Reinbek bei Hamburg 2015,
ISBN 978-3-499-61694-5
.
- Hans Rademacher
,
Otto Toeplitz
:
Von Zahlen und Figuren. Proben mathematischen Denkens fur Liebhaber der Mathematik
(=
Heidelberger Taschenbucher
.
Band
50
). Springer Verlag, Berlin (u. a.) 1968.
- Dirk J. Struik
:
Abriß der Geschichte der Mathematik
. 7., erganzte Auflage.
VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften
, Berlin 1980.
Weblinks
- Portale und Wissensdatenbanken
- Schulmathematik
- Software
- Geschichtliches
Einzelnachweise
- ↑
Osterreichische Aussprachedatenbank.
- ↑
Helmut Hasse
:
Mathematik als Geisteswissenschaft und Denkmittel der exakten Naturwissenschaften
. In:
Studium generale
.
Band
6
, 1953,
S.
392?398
(
online
(
Memento
vom 25. April 2013 im
Internet Archive
)).
- ↑
David Hilbert
:
Mathematische Probleme.
(
Memento
vom 19. Januar 2012 im
Internet Archive
). Vortrag, gehalten auf dem internationalen Mathematiker-Kongreß zu Paris 1900.
- ↑
Oliver Link:
Die Welt lasst sich nicht berechnen.
Interview mit Claus Peter Ortlieb,
brand eins
11/2011, abgerufen am 1. Januar 2012.
- ↑
Kanguru der Mathematik.
Abgerufen am 15. Januar 2022
.
- ↑
Lothar Schmidt
:
Aphorismen von A?Z. Das große Handbuch geflugelter Definitionen
. Drei Lilien Verlag, Wiesbaden 1980,
S.
288?289
.
- ↑
Die frohliche Wissenschaft
, Aphorismus Nr. 246.