Als
?Anschluss“ Osterreichs
oder kurz
?Anschluss“
werden seit 1938 vor allem die Vorgange bezeichnet, mit denen osterreichische und deutsche
Nationalsozialisten
im Marz 1938 die Eingliederung des
austrofaschistischen
Bundesstaates Osterreich
in das
nationalsozialistische Deutsche Reich
veranlassten. Die
NS-Propaganda
bezeichnete den Vorgang als
Wiedervereinigung Osterreichs mit dem Deutschen Reich
.
In der Nacht vom 11. auf den 12. Marz 1938 losten nach telefonischen Drohungen des Reichsministers und
Vierjahresplan
-Beauftragten
Hermann Goring
noch vor dem Einmarsch deutscher Truppen osterreichische Nationalsozialisten das
Standestaatsregime
ab. Vom 12. Marz an ubernahmen
Wehrmacht
-,
SS
- und
Polizeieinheiten
das Kommando uber die osterreichischen Machtinstrumente, am 14. Marz wurden die Offiziere der Streitkrafte auf
Adolf Hitler
vereidigt. Die vom Bundesprasidenten
Wilhelm Miklas
unter ultimativem Zwang in dieser Nacht bestellte
nationalsozialistische Bundesregierung
unter
Arthur Seyß-Inquart
fuhrte am 13. Marz 1938 im Auftrag Hitlers, der tags zuvor in Osterreich eingetroffen war, den ?Anschluss“ administrativ durch. Er bewirkte sukzessive das vollige Aufgehen Osterreichs im
Deutschen Reich
und die Beteiligung vieler Osterreicher an den
nationalsozialistischen Verbrechen
. Die Mehrheit der osterreichischen Bevolkerung begrußte den ?Anschluss“ mit Jubel, fur viele andere, insbesondere die
Juden Osterreichs
, bedeutete der ?Anschluss“ Entrechtung, Enteignung und
Terror
.
Durch das am 13. Marz durch die Bundesregierung beschlossene
Bundesverfassungsgesetz uber die Wiedervereinigung Osterreichs mit dem Deutschen Reich
[1]
endete die rechtliche Existenz des
diktatorischen osterreichischen Bundesstaates
und seine Bundesburger wurden ruckwirkend zu
deutschen Staatsangehorigen
.
[2]
Die 1945 wiedererrichtete Republik Osterreich halt den ?Anschluss“
ex tunc
(von Anfang an) fur nichtig. Ihre Staatlichkeit und die Folgen fur den Fortbestand Osterreichs in den Jahren 1938 bis 1945 sind umstritten.
Die
Herrschaft des Nationalsozialismus
wahrte in
Wien
und Umgebung bis zur
Eroberung Wiens
durch die
Rote Armee
Mitte April 1945. Der ?Anschluss“ wurde in der
Unabhangigkeitserklarung vom 27. April 1945
als ?null und nichtig“ erklart. In vielen anderen Landesteilen Osterreichs endete das NS-Regime erst mit dem
Ende des Zweiten Weltkrieges
im Mai 1945.
Durch
Napoleon
aufgefordert, akzeptierte
Franz II.
dessen Bedingungen und nahm 1804 ?fur Uns und Unsere Nachfolger […] den Titel und die Wurde eines erblichen
Kaisers von Osterreich
“ an. Das war das Ende des
Heiligen Romischen Reiches Deutscher Nation
, das 1806 formal bestatigt wurde. Mithin waren die deutschen (heute oft: deutschsprachigen)
Erblander
Osterreichs (sowie die
Lander der Bohmischen Krone
) und die ubrigen Staaten, die sie verbanden, geteilt: So entstand 1815 auf dem
Wiener Kongress
als neue politische Verbindung der
Deutsche Bund
. Dieser
lose Zusammenschluss
von 41 deutschen Einzelstaaten wurde jedoch den Bestrebungen nach einem einheitlichen Staat nur unzureichend gerecht.
Infolgedessen entstanden zur Erreichung dieses Zieles unterschiedliche Losungsansatze: einerseits die
Großdeutsche Losung
, ein neuer, stark foderalistischer deutscher Gesamtstaat unter Fuhrung des Hauses
Habsburg
, des historischen romisch-deutschen Kaiserhauses, einschließlich der deutschen Lander des
Kaisertums Osterreich
(was bedeutet hatte, dass die
Donaumonarchie
der Habsburger durch die deutsche Außengrenze geteilt worden ware) ? und andererseits die sogenannte
kleindeutsche Losung
unter der
Hegemonie
des
Konigreichs Preußen
.
Vom Einbezug des deutschen Teils von Osterreich in einen deutschen
Nationalstaat
war bereits in der
Frankfurter Nationalversammlung
1848/49 die Rede.
Die kleindeutsche Losung wurde nach den Siegen
Preußens
und seiner Verbundeten uber Osterreich und dessen Verbundete im
Deutschen Krieg von 1866
und uber das
Kaiserreich Frankreich
im
Deutsch-Franzosischen Krieg 1870/71
verwirklicht. 1871 wurde das
Deutsche Reich
im
Schloss von Versailles
bei
Paris
als Kaiserreich ausgerufen, der Zusammenschluss von deutschen Furstentumern und Konigreichen unter Fuhrung Preußens, aber ohne Osterreich.
Friedrich Heer
fuhrte Anschlusswunsche der deutschsprachigen Bevolkerung der ehemaligen
Habsburgischen Erblande
bereits auf die Zeit der
Gegenreformation
zuruck und sieht sie eng verknupft mit der jahrhundertelangen politischen und religiosen Konfrontation zwischen
protestantischem
Norddeutschland
und
katholisch
gepragtem, vielsprachigem Osterreich, die in der Folge durch die europaischen Großmachte
Preußen
und die
Habsburgermonarchie
getragen wurde. Die Protestanten sahen im evangelischen Norden des ?
deutschen Reiches
“ die Erlosung von der so empfundenen ?Einkerkerung“ durch
Papst
und
Kaiser
. Erstes Zentrum eines eigenstandigen osterreichischen Nationalbewusstseins war laut Heer
Wien
, das von aufstandischen Landern, von
Oberosterreich
,
Karnten
, der
Steiermark
, als die multikulturelle Residenz der ubernationalen
Habsburger
bekampft wurde.
[3]
Diese These wird empirisch gestutzt, indem nachgewiesen werden konnte, dass Oberosterreich zur Zeit der
Bauernkriege
ein Hauptwiderstandsgebiet war und Jahrhunderte spater zur Zeit des
NS-Putschversuchs in Wien
besonders viele illegale Nationalsozialisten aktiv waren.
[4]
Das Ende des
Ersten Weltkrieges
brachte den
Zerfall der Habsburgermonarchie
und zugleich das Auseinanderbrechen des uberwiegend katholischen
Vielvolkerstaates
Osterreich-Ungarn
. Nach
Kaiser
Karls I.
Volkermanifest
fur
Cisleithanien
wurde am 30. Oktober 1918 der neue Staat
Deutschosterreich
gegrundet, noch vor dem
Waffenstillstand von Villa Giusti
vom 3. November 1918, mit dessen Zustandekommen die Reprasentanten des neuen Staates nichts zu tun haben wollten: Vom Kaiser gefragt, nahmen sie dazu einfach nicht Stellung.
Am 22. November 1918 legte die Republik Deutschosterreich ihr (gewunschtes)
Staatsgebiet
fest, dessen Grenzen aber noch nicht in einem Friedensvertrag mit den Siegermachten oder von den Nachbarlandern anerkannt waren. Auch
Deutschbohmen
und die
Provinz Sudetenland
gehorten dazu, ebenso die deutschen Sprachinseln von
Brunn
,
Iglau
und
Olmutz
.
[5]
Die
Provisorische Nationalversammlung
und die provisorische Deutsch-Osterreichische Regierung, ein aus ihrer Mitte bestellter Vollzugsausschuss, der als
Staatsrat
bezeichnet wurde,
[6]
sahen in der
staatsrechtlichen Verbindung
mit dem nun ebenfalls
republikanischen Deutschen Reich
die einzige Moglichkeit der politischen Existenz, insbesondere, weil sich herausstellte, dass die anderen
Nachfolgestaaten
der Osterreichisch-Ungarischen Monarchie auch an einer losen
Konfoderation
nicht interessiert waren.
Schon am 9. November 1918, sechs Tage nach dem
Waffenstillstand
zwischen Osterreich-Ungarn und der
Ententemacht
Italien, wandte sich die provisorische Nationalversammlung an den deutschen
Reichskanzler
mit der Bitte, Deutschosterreich in die Neugestaltung des Deutschen Reiches einzubeziehen. Am nachsten Tag schloss sich der Landesausschuss fur Deutschbohmen dieser Bitte an. Am 12. November 1918 wurde das Gesetz uber
Staats-
und
Regierungsform
von der Provisorischen Nationalversammlung fur Deutschosterreich einstimmig unter Jubel angenommen. Sein zweiter Artikel lautete: ?Deutschosterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik“.
[7]
Die meisten aktiven Politiker hatten bis dahin in großeren Dimensionen (des bisherigen
Cisleithanien
) als denen eines Kleinstaates gedacht. Ihnen erschien ?Restosterreich“ angesichts des Umstandes, dass wirtschaftlich bedeutende Regionen fortan nicht mehr zum Staatsgebiet gehorten, als nicht lebensfahig. Die Hungerwinter 1918/19 und 1919/20 dramatisierten diese
Lebensfahigkeitsdebatte
.
Dabei spielten durchaus nicht nur
deutschnationale
Gesinnungen eine Rolle. So furchteten die
Sozialdemokraten
? wie sich spater zeigte zu Recht ?, im vorwiegend landlich-konservativ gepragten Deutschosterreich politisch in die Defensive gedrangt zu werden, und erhofften die Umsetzung des
Sozialismus
im Rahmen der deutschen
Republik
. Bei den
Christlichsozialen
spielte hingegen die Abneigung gegen den so empfundenen
Wiener Zentralismus
eine nicht unmaßgebliche Rolle. Befurwortet wurde vielfach kein einseitiger Anschluss, wie er schließlich 1938 vollzogen wurde, sondern ein Zusammenschluss gleichberechtigter Bundesstaaten.
[8]
Die
Deutschosterreicher
waren es jahrhundertelang gewohnt, in einem imperialen Reich zu leben, und konnten sich mit dem neuen Kleinstaat nicht identifizieren. In dieser Situation wurde, psychologisch geschickt, die Behauptung lanciert und standig genahrt, dass das verhaltnismaßig kleine Restosterreich wirtschaftlich nicht lebensfahig sei. Tatsachlich verblieben jedoch bedeutende Wirtschaftsbetriebe und -zweige im Land.
Die deutsche Reaktion auf das Votum der provisorischen osterreichischen Nationalversammlung vom November 1918 fur den Anschluss war positiv. Der
Rat der Volksbeauftragten
kundigte unter seinem Vorsitzenden
Friedrich Ebert
am 30. November 1918 in der Verordnung zu den
Wahlen zu einer verfassungsgebenden Nationalversammlung
in Artikel 25 an, dass, wenn die deutsche Nationalversammlung beschlosse, Deutschosterreich seinem Wunsche entsprechend in das Deutsche Reich aufzunehmen, dessen Abgeordnete als gleichberechtigte Mitglieder der deutschen Nationalversammlung beitreten wurden. Staatsangehorige Deutschosterreichs erhielten das Recht, an diesen Wahlen teilzunehmen. Das
Gesetz uber die vorlaufige Reichsgewalt
, die von den Volksbeauftragten Ebert und Scheidemann vorgelegte Notverfassung, schlug bereits die ersten Maßnahmen zur Beteiligung Osterreichs an der deutschen Gesetzgebung vor. Nach § 2 sollte Osterreich mit beratender Stimme teilnehmen, bevor es sich dem Deutschen Reich anschließe.
Die
Deutsche Nationalversammlung
und ihr Verfassungsausschuss fassten im Februar und Marz 1919 den entsprechenden Entschluss. Eine vergleichbare Regelung wurde auch in Artikel 61 Abs. 2 der
Weimarer Verfassung
aufgenommen. Nach dem von den beiden Außenministern
Ulrich von Brockdorff-Rantzau
und
Otto Bauer
am 2. Marz 1919 unterzeichneten ?Anschlußprotokoll“ sollte ?Deutsch-Osterreich als selbstandiger
Gliedstaat
in das Reich eintreten“. Gebiete mit deutschsprachiger Bevolkerung wie Deutschbohmen und die Sudetenlander sollten ?an die angrenzenden
deutschen Bundesstaaten
angeschlossen werden“.
[9]
[10]
Die Siegermachte kritisierten das Anschlussprotokoll als Verletzung des vom Deutschen Reich am 28. Juni 1919 akzeptierten
Vertrags von Versailles
und verlangten die Anderung. Dem kamen die deutschen Vertreter in einer formlichen Erklarung vom 18. September 1919 nach: Die Verfassungsbestimmungen uber Deutsch-Osterreich, insbesondere betreffend ?die Zulassung osterreichischer Vertreter zum
Reichsrat
“, seien ungultig, bis ggf. der ?Volkerbundsrat einer entsprechenden Anderung der internationalen Lage Osterreichs zugestimmt haben wird“. Im
Vertrag von Saint-Germain
mit der darin statuierten Wahrung osterreichischer Eigenstaatlichkeit, der im September 1919 abgeschlossen wurde, wurde dem als
Nachfolger
(Alt-)Osterreichs anerkannten Deutschosterreich eine faktisch unuberwindbare Hurde errichtet, sich mit dem Deutschen Reich zu vereinen. Deutschland wurde im
Versailler Vertrag
gezwungen, den gerade beschlossenen Artikel 61 Abs. 2, der Osterreich eine Anschlussoption ermoglichte, fur nichtig zu erklaren (siehe ?
Anschlussverbot
“). Damit blockierten die Alliierten den Zusammenschluss Osterreichs mit Deutschland auf doppelte Weise. Auf Regierungsebene wurde nun der Anschluss vorerst nicht mehr aktiv weiterverfolgt. Mit der
Ratifikation
des Friedensvertrags im Oktober 1919 anderte der Staat Deutschosterreich seinen Namen wie vorgeschrieben auf
Republik Osterreich
.
Der Anschluss blieb aber aus verschiedenen Grunden weiterhin erklartes Fernziel, vor allem fur die
Großdeutsche Volkspartei
, die
Deutschnationale Bewegung
wie auch fur die Sozialdemokraten (?Anschluß an Deutschland ist Anschluß an den Sozialismus“, Parole der
Arbeiter-Zeitung
, Zentralorgan der Partei). Auch die Christlichsoziale Partei trat politisch dafur ein. Fur den Anschluss Osterreichs an das Deutsche Reich setzte sich der seit 1920 in Deutschland und seit 1925 auch in Osterreich existierende uberparteiliche
Osterreichisch-Deutsche Volksbund
ein, als dessen Vorsitzender auf deutscher Seite der
Reichstagsprasident
Paul Lobe
(
SPD
) fungierte.
[11]
Wahrend die Anschlussbewegung von 1918/19 noch stark von sozialistischen Politikern gepragt war, verlagerte sie sich in den folgenden Jahren in christlich-sozial und konservativ-monarchistisch dominierte Lander Osterreichs, die sich vom ?
Roten Wien
“ lossagen wollten.
Vorarlberg
sprach sich in einer
Volksabstimmung
fur den Anschluss an die
alemannische
Schweiz
aus, was sowohl vom
Schweizer Bundesrat
als auch von der
osterreichischen Staatsregierung
abgelehnt wurde.
Nach dem gescheiterten
Restaurationsversuch
des fruheren Kaisers
Karl I.
, der am 26. Marz 1921 als
apostolischer Konig von Ungarn
vom
Exil
in der Schweiz aus nach
Ungarn
gereist war und versucht hatte, die Regierung wieder zu ubernehmen, erstarkte vor allem in den noch monarchistisch-konservativ gepragten Bundeslandern Widerstand gegen die republikanische Regierung in Wien. Mit Unterstutzung aus dem benachbarten Bayern, wo die sozialistische
Munchner Raterepublik
zwei Jahre zuvor niedergekampft worden war, bildeten sich in
Salzburg
und
Tirol
die ersten osterreichischen
Heimwehren
. Diese setzten sich vehement fur eine
Fusion
mit dem inzwischen konservativ regierten
Deutschland
der
Weimarer Zeit
ein. Selbst Monarchisten, die den Zusammenschluss fruher als ?judische Erfindung“ abgelehnt hatten, strebten diesen gemeinsam mit den
Deutschnationalen
offen an.
Der
Tiroler Landtag
ließ im April 1921 eine Abstimmung durchfuhren, bei der sich eine Mehrheit von 98,8 % fur den Zusammenschluss aussprach. Eine am 29. Mai 1921 in Salzburg durchgefuhrte Abstimmung ergab eine Zustimmung von 99,3 % der abgegebenen Stimmen.
Weitere Abstimmungen wurden durch Proteste der Garantiemachte des Friedensvertrages, insbesondere der franzosischen Regierung, unterbunden. Fur den Fall, dass weitere Bundeslander folgen sollten, wurde mit der Verhinderung von Auslandskrediten an das wirtschaftlich geschwachte Osterreich gedroht.
Bundeskanzler
Michael Mayr
(CS), der die Einstellung aller noch geplanten diesbezuglichen Abstimmungen gefordert hatte, trat am 1. Juni zuruck, als der
Steiermarkische Landtag
ankundigte, dennoch abstimmen zu lassen. Sein Nachfolger wurde der deutschnational eingestellte, parteilose
Johann Schober
(zugleich Polizeiprasident von Wien), der weitere Abstimmungen verhinderte und jene, die den Zusammenschluss anstrebten, auf einen spateren, dafur gunstigeren Zeitpunkt verwies.
Erneut bekraftigt wurde das Anschlussverbot in den
Genfer Protokollen
vom 4. Oktober 1922 zwischen den Regierungen
Frankreichs
, des
Vereinigten Konigreichs
,
Italiens
, der
Tschechoslowakei
und Osterreichs ? Voraussetzung fur die Gewahrung von Anleihen des
Volkerbundes
an Osterreich in Hohe von 650 Millionen
Goldkronen
. Gegen den Widerstand der Sozialdemokraten nahm der
Nationalrat
die Genfer Protokolle an; sie waren Voraussetzung fur die Eindammung der
Inflation
und den 1925 erfolgten Wechsel von der
Kronenwahrung
zum
Schilling
.
Ein weiteres Mal war das Anschlussverbot 1932 im
Protokoll von Lausanne
Vertragsgegenstand, wo es eine der Bedingungen fur die Gewahrung einer weiteren Volkerbundanleihe war, die Osterreich zur Bewaltigung der Auswirkungen der
Weltwirtschaftskrise
aufnehmen musste.
Alle osterreichischen
Parteien
? einschließlich der
Kommunistischen Partei Osterreichs
, welche nach einer erfolgreichen Revolution einen Anschluss ?Sowjetosterreichs“ an ?Sowjetdeutschland“ forderte
[12]
? waren vor 1933 grundsatzlich fur die Vereinigung mit dem Deutschen Reich. Die
Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschosterreichs
(SDAPDO) zum Beispiel forderte noch 1926 im uberwiegend
marxistisch
ausgerichteten
Linzer Programm
den Anschluss ?mit friedlichen Mitteln“ an die
Deutsche Republik
.
[13]
Sie strich den entsprechenden Passus jedoch ?angesichts der durch den
Nationalsozialismus
im Deutschen Reich veranderten Lage“ auf ihrem Parteitag 1933. Die
Christlichsoziale Partei
(CS) wie auch die aus ihr hervorgegangene
Vaterlandische Front
traten ebenfalls gegen den Anschluss an das ?
Dritte Reich
“ auf.
Zur Frage des aktiven Eintretens der 1934 verbotenen osterreichischen Sozialdemokratie gegen die Bedrohung Osterreichs durch den Nationalsozialismus gab es im sogenannten
Sozialistenprozess
1936 klare Außerungen: Der Angeklagte
Roman Felleis
erklarte, die Arbeiter wurden ?in Zukunft nur dann fur diesen Staat einstehen, wenn er wieder zur Heimstatte fur ihre Rechte, fur ihre Freiheit geworden ist. […] Gebt uns Freiheit, dann konnt ihr unsere Fauste haben!“
[14]
Der Angeklagte
Bruno Kreisky
sagte im Prozess: ?Nur freie Burger werden gegen Knechtung kampfen.“
[15]
Mit der
Machtubernahme
der
Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei
(NSDAP) in Deutschland anderten sich die Rahmenbedingungen 1933 grundlegend.
Adolf Hitler
, der als geburtiger Oberosterreicher 1925 seine
osterreichische Staatsburgerschaft
abgelegt hatte und 1932 im Alter von 43 Jahren die
deutsche Staatsangehorigkeit
bekam, hielt sich trotz der schon 1924/25 in seinem Buch
Mein Kampf
niedergeschriebenen Forderung ?Deutschosterreich muß wieder zuruck zum großen deutschen Mutterlande“ dahingehend außenpolitisch zunachst zuruck. Er wollte
Benito Mussolini
nicht verargern, da er ein Bundnis mit ihm anstrebte.
Im Wesentlichen von Deutschland aus organisiert, versuchten am 25. Juli 1934
osterreichische Nationalsozialisten
unter Fuhrung der
SS-Standarte
89 den spater so genannten
Juliputsch
gegen den diktatorischen
Standestaat
, der jedoch scheiterte. Einigen Putschisten gelang es, bis in das Wiener
Bundeskanzleramt
vorzudringen, wo Bundeskanzler
Engelbert Dollfuß
durch Schusse so schwer verletzt wurde, dass er, ohne arztliche Hilfe gelassen, wenig spater den Verletzungen erlag. Hitler bestritt die Beteiligung von deutscher Seite an dem Putschversuch. Es ist inzwischen belegt, dass er die Vorbereitung steuerte und wenige Tage vor dem Losbrechen der Aktion, trotz warnender Stimmen seine entscheidende Zustimmung gab.
[16]
Bewaffnete Einheiten standen seit Marz 1934 zur militarischen Unterstutzung in Deutschland bereit. Das entscheidende Kommando kam dann aus Munchen. Die Beweise dafur legten osterreichische Diplomaten im November 1934 dem Auswartigen Amt und dem
Reichswehrministerium
in Berlin vor. Auf eine Anklage vor dem Volkerbund wurde jedoch, um die bestehenden Spannungen nicht noch mehr anzuheizen, verzichtet.
[17]
Die seit 1933 verbotene osterreichische Landesorganisation der NSDAP wurde nach dem Putschversuch zwar weiterhin heimlich
[18]
aus dem Deutschen Reich unterstutzt, aber das deutsche Regime ging nun verstarkt dazu uber, das politische System in Osterreich mit Vertrauensleuten zu unterwandern. Dazu zahlten, neben anderen,
Edmund Glaise-Horstenau
,
Taras Borodajkewycz
und
Arthur Seyß-Inquart
.
Nach Beginn der
italienischen Aggression gegen Abessinien
forderte
Großbritannien
im Oktober 1935 vor dem Volkerbund Sanktionen gegen Italien und betrieb in der Folge die Auflosung der
Stresa-Front
und der
Vertrage von Locarno
. Mussolini wurde damit international isoliert und an die Seite Hitlers gedrangt. Fur die in Osterreich regierende Vaterlandische Front bedeutete das den Verlust eines wichtigen Schutzherrn, da Italien der Garant fur Osterreichs
staatliche Unabhangigkeit
war.
Bundeskanzler
Kurt Schuschnigg
, Nachfolger des ermordeten Dollfuß, musste nun nach Wegen suchen, das Verhaltnis zum Deutschen Reich zu verbessern. Am 11. Juli 1936 schloss er mit Hitler das
Juliabkommen
. Das Deutsche Reich hob die infolge des Verbots der
NSDAP
in Osterreich 1933 verhangte
Tausend-Mark-Sperre
auf, in Osterreich wurden inhaftierte Nationalsozialisten amnestiert und nationalsozialistische Zeitungen wieder zugelassen.
Daruber hinaus nahm Schuschnigg Vertrauensleute der Nationalsozialisten in
sein Kabinett
auf. Glaise-Horstenau wurde Bundesminister fur nationale Angelegenheiten,
Guido Schmidt
Staatssekretar im
Außenministerium
, und Seyß-Inquart wurde in den
Staatsrat
aufgenommen. 1937 folgte die Offnung der Vaterlandischen Front fur Nationalsozialisten. In neu eingerichteten ?Volkspolitischen Referaten“, die meist unter der Leitung von Nationalsozialisten standen, konnte die NSDAP sich neu organisieren.
Nach Festigung seines Bundnisses mit Mussolini, der
Achse Berlin?Rom
im Oktober 1936 und Italiens Beitritt zum
Antikominternpakt
im November 1937 wurde zunehmend deutlich, dass Osterreichs Unabhangigkeit kein Konfliktgegenstand zwischen beiden Machten mehr sein wurde. Gleichwohl konnte sich Hitler nicht ganzlich sicher sein, dass Rom den Anschluss Osterreichs hinnehmen werde.
[19]
Als Hitler am 5. November 1937 der
Wehrmachtfuhrung
seine militarischen Plane erlauterte, was in der so genannten
Hoßbach-Niederschrift
protokolliert wurde, nannte er als spatesten Zeitpunkt fur die Annexion der Tschechoslowakei (→
Zerschlagung der Tschechoslowakei
) und Osterreichs das Jahr 1943, unter gunstigen Umstanden konne dies schon 1938 erfolgen. Zu diesem Zeitpunkt plante Hitler also noch, Osterreich militarisch zu erobern. Gleichzeitig scheute er aber vor einem
Krieg
noch zuruck. So erklarte er wenige Wochen nach der von
Friedrich Hoßbach
festgehaltenen Besprechung am 16. Dezember 1937, er wolle keine ?Brachiallosung“ der Anschlussfrage, ?solange dies aus europaischen Grunden unerwunscht ist“. Anscheinend hoffte er auf eine
Machtergreifung
der osterreichischen Nationalsozialisten ohne Hilfe von außen, wie sie auch ihm gelungen war.
[20]
[21]
Von
Berlin
aus wurde die nationalsozialistische Untergrundbewegung in Osterreich daher ermutigt, und seit dem Juliabkommen wuchs ihr Einfluss. Die Bemuhungen von Bundeskanzler Schuschnigg um eine britische Garantieerklarung scheiterten im Fruhsommer 1937. Aber auch bei Hitler lief der Plan nicht glatt ab, weshalb er am 4. Februar 1938 die
Blomberg-Fritsch-Krise
inszenierte, um zwei wesentliche Kontrahenten auszuschalten, die sein Vorgehen hatten storen konnen. Der deutsche Botschafter in Wien,
Franz von Papen
, riet Schuschnigg Anfang Februar 1938 zu einem Treffen mit Hitler, dem dieser nach einigem Zogern zustimmte. Mit Seyß-Inquart arbeitete er eine Reihe von Zugestandnissen aus, die er Hitler vorlegen wollte. Ohne Schuschniggs Wissen spielte Seyß-Inquart die geplanten Zugestandnisse Hitler zu.
Am Morgen des 12. Februar traf Schuschnigg auf dem
Berghof
in
Bayern
ein. Hitler empfing ihn auf der Treppe des Berghofs und fuhrte ihn in sein Arbeitszimmer. Nachdem er kurz auf Schuschniggs Hinweis auf die schone Aussicht eingegangen war, kam er unvermittelt auf die osterreichische Politik zu sprechen: Osterreichs Geschichte sei ein ununterbrochener Volksverrat. Dieser geschichtliche Widersinn musse endlich sein Ende finden. Er, Hitler, sei fest entschlossen, dem allen ein Ende zu machen, seine Geduld sei erschopft. Osterreich stehe allein, weder Frankreich noch Großbritannien noch Italien wurden zu seiner Rettung auch nur einen Finger ruhren. Schuschnigg habe nur noch bis zum Nachmittag Zeit. Beim Mittagessen zeigte sich Hitler als aufmerksamer Gastgeber, doch auch die drei Generale, die eine mogliche Operation gegen Osterreich kommandieren sollten, saßen an der Tafel.
Ribbentrop
und Papen legten Schuschnigg am Nachmittag ein Dokument mit Forderungen vor, die deutlich uber Schuschniggs geplante Zugestandnisse hinausgingen. Hitler drohte mit dem Einmarsch der Wehrmacht, sollte Schuschnigg nicht die Forderungsliste unterschreiben. Forderungen waren unter anderem die Aufhebung des Parteiverbots fur die osterreichischen Nationalsozialisten und deren volle Agitationsfreiheit sowie die Einbindung von Vertrauensleuten des NS-Regimes in Schlusselstellen der Regierung:
Seyß-Inquart
sollte zum Innenminister,
Glaise-Horstenau
zum Kriegsminister und
Hans Fischbock
zum Finanzminister ernannt werden. Es war ein Ultimatum, Hitler lehnte es ab, uber den Text zu verhandeln. Als Schuschnigg erklarte, er sei zwar zur Unterzeichnung bereit, konne aber die Ratifizierung nicht garantieren, rief Hitler General
Keitel
herbei. Hitler erklarte sich jetzt bereit, den Osterreichern drei Tage Frist bis zur Unterzeichnung des Dokumentes zu geben. Schuschnigg unterschrieb und lehnte die Einladung Hitlers zum
Souper
ab. In Begleitung Papens fuhr er zur Grenze und erreichte in
Salzburg
wieder Osterreich. Schuschnigg beugte sich den Drohungen und glaubte, mit dem
Berchtesgadener Abkommen
die Selbstandigkeit Osterreichs sichern zu konnen. Wie von Hitler gefordert, wurde Seyß-Inquart am 16. Februar zum Innenminister ernannt und erlangte damit die Kontrolle uber die
osterreichische Polizei
.
Auch Hitler war zunachst mit dem Resultat zufrieden: Nach Einschatzung des Historikers
Henning Kohler
hatte er die Krise nur aus innenpolitischen Grunden eskalieren lassen, um von der Blomberg-Fritsch-Krise abzulenken, und ein besseres Ergebnis erzielt als erwartet.
[22]
Das Berchtesgadener Abkommen fuhrte am 14. Februar 1938 zu Proteststreiks in Wiener Betrieben. Am 16. Februar ersuchten Vertrauensmanner dieser Betriebe um ein personliches Gesprach mit Schuschnigg, um die Bereitschaft der Arbeiter zum Kampf fur ein freies Osterreich zu erklaren. Schuschnigg ging erst am 4. Marz darauf ein. Am 7. Marz kam es in der Folge zu einer Vertrauensleutekonferenz im sozialdemokratischen Arbeiterheim
Floridsdorf
; das einzige Treffen seiner Art, das aufgrund des Parteiverbots der
SDAPO
nicht konspirativ abgehalten werden musste. Die Regierung ging aber auf die Forderung nach Wahlen im von der Diktatur errichteten Gewerkschaftsbund nicht ein.
Fur die von Schuschnigg angekundigte Volksabstimmung wurden von den
Revolutionaren Sozialisten
200.000 Flugblatter gedruckt, die nach der Absage der Abstimmung verbrannt wurden.
[23]
Durch militarische Vorbereitungen gegen Osterreich wurde der Druck beibehalten.
Seit 1936 war
Hermann Goring
mit der Verwirklichung der wirtschaftlichen
Autarkie
Deutschlands betraut, wobei ? von offizieller Seite rein volkisch ? sein Interesse am ?Zusammenschluß“ mit dem Nachbarstaat Osterreich und dessen begehrenswerten Rohstoff- und Devisenvorraten aber nicht nur wirtschaftlich, sondern auch personlich motiviert war.
[24]
Von Goring um eine Stellungnahme gebeten, erklarte der britische Botschafter
Nevile Henderson
, der schon im Mai 1937 gegenuber seinem osterreichischen Amtskollegen
Stephan Tauschitz
deutlich gemacht hatte, dass er ?die Selbstandigkeitsbestrebungen des Landes, ?das doch genauso deutsch sei wie Deutschland‘, nie recht begriffen habe“,
[25]
im Sinn der
Appeasement-Politik
am 3. Marz 1938 gegenuber Hitler, dass Großbritannien die Anspruche Deutschlands gegenuber Osterreich prinzipiell fur berechtigt halte. Die osterreichischen Nationalsozialisten erhielten durch die Berchtesgadener Geschehnisse großen Auftrieb.
Schuschnigg erkannte, dass seine neuen Regierungspartner ihm innerhalb weniger Wochen den Boden unter den Fußen wegzogen und dabei waren, die
Macht
zu ubernehmen. Am 24. Februar 1938 beschwor er in einer offentlichen Rede die Unabhangigkeit Osterreichs: ?Bis in den Tod! Rot-Weiß-Rot! Osterreich!“
[26]
Inhalt und Ton von Schuschniggs Rede losten bei Hitler erste Irritationen aus, die sich noch steigerten, als Schuschnigg am 9. Marz bekanntgab, bereits am folgenden Sonntag, dem 13. Marz, eine
Volksabstimmung
zur Unabhangigkeit Osterreichs abhalten zu wollen.
[26]
Die Frage sollte lauten, ob das Volk ein ?freies und deutsches, unabhangiges und soziales, ein christliches und einiges Osterreich“ wolle oder nicht. Schuschnigg unterließ es, dazu das Kabinett zu befragen, wie es in der Verfassung anlasslich einer Volksabstimmung vorgeschrieben war. Die Stimmauszahlung sollte allein von der
Vaterlandischen Front
vorgenommen werden. Die Angehorigen des Offentlichen Dienstes sollten am Tage vor der Wahl in ihren Abteilungen geschlossen unter Aufsicht zur Wahl gehen und ihre ausgefullten Wahlzettel ihren Vorgesetzten offen ubergeben. Außerdem sollten in den Wahllokalen nur Stimmzettel mit dem Aufdruck ?JA“ ausgegeben werden, was ein ?Ja“ zur Unabhangigkeit bedeutet hatte. Innenminister Seyß-Inquart und Minister Glaise-Horstenau erklarten ihrem
Bundeskanzler
unverzuglich, dass die Abstimmung in dieser Form verfassungswidrig sei.
Ob das
Plebiszit
nun eine ?Flucht nach vorn“ des osterreichischen Kanzlers war
[27]
oder ein ?schwerer Fehler“,
[22]
damit sah Hitler jedoch seinen Plan zur Einnahme Osterreichs in Gefahr und anderte erneut seine Strategie. Nunmehr ging er daran, sein Ziel sofort zu erreichen: Er befahl unmittelbar die
Mobilmachung
der fur den Einmarsch vorgesehenen 8. Armee und wies Seyß-Inquart am 10. Marz an, ein Ultimatum zu stellen und die osterreichischen Parteianhanger zu mobilisieren. Die
Reichsregierung
forderte die Verschiebung beziehungsweise die Absage der Volksbefragung.
Joseph Goebbels
notierte in sein Tagebuch:
?Noch bis 5h nachts mit dem Fuhrer allein beraten. Er glaubt, die Stunde ist gekommen. Will nur noch die Nacht daruber schlafen. Italien und England werden nichts machen. Vielleicht Frankreich, aber wahrscheinlich nicht. Risiko nicht so groß wie bei der
Rheinlandbesetzung
.“
[28]
Am folgenden Tag, dem 11. Marz 1938, ubernahm Goring per Telefon und Telegraf die Regie bei der Vorbereitung zum ?Anschluss“ Osterreichs. Er verlangte daraufhin ultimativ Schuschniggs Rucktritt und die Ernennung Seyß-Inquarts zum Bundeskanzler. Der deutsche Militarattache
Wolfgang Muff
uberbrachte in Wien das Ultimatum Hitlers, das von Goring zusatzlich in Telefonaten mit Seyß-Inquart und Schuschnigg bekraftigt wurde. Einer Weisung aus Berlin folgend, stromten die osterreichischen Nationalsozialisten in das Bundeskanzleramt und besetzten Stiegen, Gange und Amter. Am Nachmittag des 11. Marz willigte Schuschnigg ein, die Volksabstimmung um drei Wochen zu verschieben. Am Abend erzwang Goring mit einem Ultimatum mit Frist von zwei Stunden, sofort in Osterreich einzumarschieren, dessen Rucktritt zugunsten Seyß-Inquarts; der christlichsoziale Bundesprasident
Wilhelm Miklas
hatte zuvor mehrere Nicht-Nationalsozialisten vergeblich dazu zu bewegen versucht, die Kanzlerschaft zu ubernehmen. Das gesetzte Ultimatum war auf 19:30 Uhr bestimmt worden.
Schuschnigg erklarte seinen Rucktritt im Rundfunk (?Gott schutze Osterreich!“) und wies das osterreichische
Bundesheer
an, sich beim Einmarsch deutscher Truppen ohne Gegenwehr zuruckzuziehen.
[29]
Gleichzeitig begann in Wien und allen
Landeshauptstadten
die Machtubernahme durch osterreichische Nationalsozialisten, die noch am Abend des 11. Marz an zahlreichen offentlichen Gebauden Hakenkreuzfahnen hissten, lang bevor der Einmarsch der deutschen Wehrmacht begann.
[23]
Das
Bundeskanzleramt
in Wien, wo auch Bundesprasident Miklas amtierte, wurde ? angeblich zu seinem Schutz ? von Bewaffneten umstellt. Am 12. Marz 1938 amtierten vielerorts in der Nacht vom 11. auf den 12. Marz bestellte NS-Amtstrager.
Zur offentlichen Bemantelung hatte Goring angeblich infolgedessen, mit dem Einverstandnis Hitlers, ein Telegramm mit der Bitte um die Entsendung von Truppen des Reiches aufsetzen lassen. Das entspricht jedoch nicht den Tatsachen, da der Einmarsch bereits vor diesem Sachstand fur den 12. Marz geplant war. Die Bitte um Rucknahme der Entscheidung des Einmarsches, da kurz vor Mitternacht der Rucktritt von Miklas erklart wurde, lehnte Hitler ab, da nun schon alles eingeleitet worden sei. Um diese Entscheidung Hitlers bekraftigen zu lassen, war dieser sogar in der Nacht vom 11. zum 12. Marz geweckt und ihm vorgeschlagen worden, den Einsatzbefehl zuruckzunehmen, was er aber verweigerte.
[30]
Angeblich soll sich der Neuernannte das Telegramm im Namen des neuen Bundeskanzlers Seyß-Inquart selbst zugesandt haben. Letzterer wurde uber die ?dringende Bitte“ der ?provisorischen osterreichischen Regierung“ erst nachtraglich informiert.
Wie die Entschlussbildung innerhalb der nationalsozialistischen
Polykratie
im Marz 1938 konkret verlief, ist in der Forschung strittig:
Der Goring-Biograph Alfred Kube glaubt, dass es in erster Linie auf Gorings Initiative zuruckzufuhren gewesen sei, dass Schuschniggs Plan eines Plebiszits nicht nur vereitelt, sondern gleich das ganze Nachbarland annektiert wurde. Hitler sei dabei zunachst eher zogerlich gewesen.
[31]
Diese These, die auf Gorings Aussagen im
Nurnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher
zuruckgeht, wird von einem großen Teil der
Geschichtswissenschaftler
geteilt.
[32]
Dem widerspricht der Heidelberger Historiker
Georg Christoph Berger Waldenegg
: Nach seiner Analyse habe man Hitler durchaus nicht ?zu seinem Gluck drangen“ mussen: Nach Schuschniggs provokantem Plebiszit-Vorschlag sei er so erzurnt gewesen, dass, wie Botschafter Henderson erfuhr, die Gemaßigten in der Fuhrung des Reiches ihn nicht mehr hatten zuruckhalten konnen.
[33]
Auch nach Einschatzung Henning Kohlers lag die Initiative zum Anschluss bei Hitler. Er deutet die Anschlusskrise
funktionalistisch
als ein Indiz fur den sprunghaften Charakter der
NS-Außenpolitik
, die nicht nach einem vorab festgelegten Programm vorging, sondern von Fall zu Fall improvisierte und pragmatisch Gelegenheiten nutzte, wo sie sich gerade boten.
[22]
Nachdem Hitler am 11. Marz 1938 die militarische Weisung fur den Einmarsch in Osterreich unter dem Decknamen ?
Unternehmen Otto
“ erteilt hatte, ruckten am 12. Marz 1938 Soldaten der Wehrmacht, Einheiten der
SS-Verfugungstruppe
und Polizisten ? insgesamt rund 65.000 Mann mit teils schwerer Bewaffnung ? unter dem Jubel großer Teile der osterreichischen Bevolkerung ein.
[34]
In einer deutschen
Proklamation
wurde verkundet, Hitler habe sich entschlossen, sein Heimatland zu befreien und den notleidenden Brudern zu Hilfe zu kommen. Somit stand er als Vollender der großdeutschen Sehnsucht da, die viele Osterreicher in der
Zwischenkriegszeit
empfanden.
[35]
Gegenwehr gab es nirgends, obwohl die chaotischen Verhaltnisse, die die hastig improvisierte Vorbereitung des Einmarsches vielerorts verursacht hatte, dazu Gelegenheit geboten hatten.
[36]
In Wien traf am 12. Marz um 4:30 Uhr auf dem
Flughafen Aspern
der
Reichsfuhrer SS
Heinrich Himmler
in Begleitung von SS-Leuten und Polizeibeamten ein, um die Ubernahme der osterreichischen Polizei durchzufuhren; er wurde von
Ernst Kaltenbrunner
und
Michael Skubl
erwartet. Unter Glockengelaut uberschritt Hitler am Nachmittag des 12. Marz bei seiner Geburtsstadt
Braunau
die Grenze und erreichte vier Stunden spater
Linz
, wo er vom Balkon des Rathauses aus eine kurze Ansprache hielt und erklarte, er habe den Auftrag, seine teure Heimat dem Reich wiederzugeben. Seyß-Inquart bildete fur zwei Tage (12. und 13. Marz) eine von Miklas angelobte nationalsozialistische Bundesregierung. Noch am selben Abend trafen in Linz Hitler und Seyß-Inquart zusammen und vereinbarten die sofortige Durchfuhrung der ?Wiedervereinigung“ ohne die fruher geplanten Ubergangsfristen.
Basisdaten
|
Titel:
|
Gesetz uber die Wiedervereinigung Osterreichs mit dem Deutschen Reich
|
Abkurzung:
|
(inoffiziell: Anschlussgesetz 1938)
|
Geltungsbereich:
|
Deutsches Reich
,
Bundesstaat Osterreich
(damit: Land Osterreich)
|
Rechtsmaterie:
|
Volkerrecht
/
Staatsrecht
/
Verfassungsrecht
|
Fundstelle:
|
BGBl. Nr. 75/1938
fur Osterreich,
RGBl. 1938 I S. 237
fur das Deutsche Reich
|
Datum des Gesetzes:
|
13. Marz 1938
|
Datum der Verordnung:
|
16. Marz 1938 (
RGBl. 1938 I S. 249
)
|
Inkrafttretensdatum:
|
13. Marz 1938
|
Außerkrafttretensdatum:
|
1. Mai 1945 ([1.]
Verfassungs-Uberleitungsgesetz
StGBl. Nr. 4/1945
)
[37]
|
Gesetzestext:
|
Ubersicht (ns-quellen.at)
|
Bitte beachte den
Hinweis zur geltenden Gesetzesfassung
!
|
Das
Gesetz uber die Wiedervereinigung Osterreichs mit dem Deutschen Reich
[38]
wurde am folgenden Tag, dem 13. Marz, im
Hotel Weinzinger
in Linz von Hitler fur das Reich (
RGBl.
I 1938, S. 237) und von Seyß-Inquart fur Osterreich (
BGBl.
Nr. 75/1938) vereinbart. Es wurde gemaß Art. III Abs. 2 des von der
Diktatur Dollfuß
erlassenen
Bundesverfassungsgesetzes vom 30. April 1934 uber außerordentliche Maßnahmen im Bereich der Verfassung
, des sogenannten ?Ermachtigungsgesetzes 1934“
[39]
, in der zweiten Kabinettssitzung der Regierung Seyß-Inquart in Wien beschlossen.
Bundesprasident Miklas trat daraufhin zuruck, da er das sogenannte Wiedervereinigungsgesetz nicht beurkunden wollte; als Staatsoberhaupt fur wenige Minuten nahm Seyß-Inquart die Beurkundung vor. Im Reich kam das Gesetz am gleichen Tag durch Beschluss der deutschen Reichsregierung zustande. Der 13. Marz 1938 gilt daher juristisch als Datum des ?Anschlusses“. Osterreich war nun als
Land Osterreich
volkerrechtlich
Teil des Deutschen Reiches, die Bundesregierung Seyß-Inquart amtierte als
Osterreichische Landesregierung
unter der Aufsicht der Reichsregierung weiter. Nach dem Anschluss an das Deutsche Reich wurde Osterreich aus der Liste der
Volkerbundmitglieder
gestrichen, weil es sich um den Untergang eines
Mitgliedstaates
handelte.
[40]
Am 15. Marz verkundete Hitler auf dem
Heldenplatz
in Wien unter dem Jubel von ca. 250.000 Menschen ?den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich“. (Die exakte Zahl der Zuhorer ist nicht ermittelt. Uberwiegend werden 250.000 angenommen.
[41]
) Er bezeichnete Osterreich als ?alteste Ostmark des Deutschen Volkes“ und ?jungstes Bollwerk der Deutschen Nation und damit des Deutschen Reiches“, vermied aber, den Namen Osterreich zu nennen. In zahlreichen Wiener Betrieben war die Belegschaft dazu verpflichtet worden, an dieser Kundgebung geschlossen teilzunehmen. Der Jubel auf dem Heldenplatz spiegelte die begeisterte Stimmung in einem großen Teil der Bevolkerung wider.
Bereits in den ersten Tagen nach der Machtubernahme inhaftierten die neuen Machthaber unter Mithilfe osterreichischer Anhanger rund 70.000 Menschen, insbesondere in Wien. Darunter waren viele
Politiker
und
Intellektuelle
der
Ersten Republik
und des Standestaates sowie vor allem Juden. Der Terror hatte aber bereits vor dem Einmarsch der Wehrmacht begonnen: In einer ?Orgie der Gewalt ohnegleichen“ (
Hans Mommsen
) wurden gleich am 12. Marz Tausende judische Einrichtungen und Geschafte geplundert, Juden offentlich misshandelt und gedemutigt. So wurden sie unter anderem gezwungen, in so genannten
Reibpartien
Burgersteige von anti-nationalsozialistischen Slogans zu reinigen. Dieser Ausbruch
antisemitischen
Hasses erfolgte spontan und war von keiner Seite vorhergesehen worden. Insgesamt gingen uber 8000 judische Einzelhandelsgeschafte in ?
arischen
“ Besitz uber oder mussten ganz schließen. Insbesondere Angehorige der osterreichischen NSDAP und ihrer angeschlossenen Organisationen bereicherten sich schamlos. Gauleiter
Josef Burckel
versuchte im April 1939 vergeblich, von ihnen eine
Arisierungsabgabe
einzutreiben. Der osterreichische
Pogrom
vom Marz 1938 ubertraf in Ausmaß und Brutalitat die Verhaltnisse in Deutschland bei weitem. Er gab der antijudischen Politik im ?Altreich“ neuen Schub, die im selben Jahr in den
Novemberpogromen
einen neuen Hohepunkt erreichte.
[42]
In der
Schweiz
trafen zehntausende Fluchtlinge ein, die meisten auf der Durchreise, wahrend man die Anzahl der Fluchtlinge aus Osterreich in der Schweiz am Vorabend des ?Anschlusses“ auf 5000 geschatzt hatte.
[43]
Vor dem Ubertritt der Grenze war es den Ausreisenden nach Gepackkontrolle und Leibesvisitation nur erlaubt, 10 Mark oder 20 Schilling mitzunehmen, Juden mussten auch Wertgegenstande abgeben.
Der am 11. Marz zuruckgetretene Bundeskanzler Schuschnigg wurde zunachst in seiner Dienstwohnung im
Belvedere
unter Hausarrest gestellt, dann monatelang im Wiener
Gestapo
-Hauptquartier, dem ehemaligen
Hotel Metropole
, inhaftiert und spater wie die meisten anderen Haftlinge in das
KZ Dachau
deportiert
, wo er allerdings wesentlich besser behandelt wurde als die anderen Haftlinge (Hitler uberlegte, ihn fur einen spater geplanten Schauprozess bereitzuhalten).
Die Polizei, die jetzt Himmler unterstellt war, unterband jeden Widerstand. Die Grenzen wurden abgeriegelt, um Regimegegnern die Flucht unmoglich zu machen. Am
Brenner
trafen schließlich deutsche und italienische Truppeneinheiten zu freundschaftlichen Zeremonien zusammen.
Carl Zuckmayer
beschrieb den Vorgang 1966 in seiner Autobiografie
Als war’s ein Stuck von mir
.
Hitler ließ die Vereinigung Osterreichs mit dem Deutschen Reich durch eine
Volksabstimmung am 10. April 1938
nachtraglich billigen und verband die Entscheidung uber den ?Anschluss“ auch mit einem Zustimmungsvotum zu sich selbst. Fur die Organisation war Josef Burckel verantwortlich, der 1935 schon die fur die Nationalsozialisten sehr erfolgreiche
Volksabstimmung im Saargebiet
organisiert hatte.
[44]
Die dem Volk vorgelegte Fragestellung lautete:
[45]
?Bist Du mit der am 13. Marz 1938 vollzogenen Wiedervereinigung Osterreichs mit dem Deutschen Reich einverstanden und stimmst Du fur die Liste unseres Fuhrers Adolf Hitler?“
Im Vorfeld waren prominente osterreichische Personlichkeiten offentlich fur das Ja eingetreten, so der Wiener Kardinal
Theodor Innitzer
, der bereits am 18. Marz eine affirmative ?Feierliche Erklarung“
[46]
der Bischofe freiwillig mit ?und Heil Hitler“ unterzeichnete,
[47]
wie auch der Prasident des evangelischen Oberkirchenrates
Robert Kauer
. Auch der ehemalige Staatskanzler
Karl Renner
riet im
Neuen Wiener Tagblatt
, mit Ja zu stimmen;
[48]
er nannte die Erste Republik (1918?1938), fur deren Grundung die Sozialdemokratie sich starkgemacht hatte, eine ?zwanzigjahrige Irrfahrt des osterreichischen Volkes“.
[49]
Unterstutzer waren auch der fruhere Bundesprasident
Michael Hainisch
sowie Kunstler wie
Paula Wessely
,
Paul Horbiger
,
Hilde Wagener
,
Friedl Czepa
,
Ferdinand Exl
,
Erwin Kerber
, Rolf Jahn,
Josef Weinheber
und
Karl Bohm
(?Wer dieser Tat unseres
Fuhrers
nicht mit einem hundertprozentigen Ja zustimmt, verdient nicht, den Ehrennamen Deutscher zu tragen“).
[50]
In mehreren Stadten Osterreichs fanden vor der Abstimmung penibel inszenierte Auftritte hoher Funktionare der NSDAP statt, so von Goebbels, Goring,
Heß
und anderen. Hitler selbst hielt am 9. April in der
Nordwestbahnhalle in Wien
eine Ansprache.
Die
nationalsozialistische Propaganda
durchdrang alle Lebensbereiche: Fahnen, Banner und Plakate mit Parolen und dem Hakenkreuzsymbol wurden in allen Stadten, an Straßenbahnen, an Wanden und eigens errichteten Plakatstandern und Saulen angebracht. Allein in Wien fanden sich rund 200.000 Hitler-Portrats an offentlichen Orten. Selbst auf Poststempeln war zu lesen:
Am 10. April dem Fuhrer Dein ?Ja“
.
Presse und Rundfunk waren fest in der Hand der neuen Machthaber, hatten kein anderes Thema als das
Ja
, so dass es keine offentlichen Gegenstimmen geben konnte. Die Satirezeitschrift
Kladderadatsch
etwa brachte am Tag der Abstimmung eine Zeichnung
Otto von Bismarcks
auf dem Titelbild, der mit einem Wahlzettel ?Dem Schopfer Großdeutschlands“ seine Reverenz erwies.
[51]
Rund acht Prozent der eigentlich Wahl- und Stimmberechtigten waren von der Abstimmung ausgeschlossen worden: etwa 200.000
Juden
, rund 177.000 ?
Mischlinge
“ und die bereits zuvor aus politischen oder
rassischen
Grunden Verhafteten.
Bei der Abstimmung selbst machten viele Wahler offentlich vor den Wahlhelfern ihr Kreuz bei
Ja
und nicht in der
Wahlzelle
, um den Verdacht zu vermeiden, gegen den ?Anschluss“ gestimmt zu haben und um nicht als ?Systemgegner“ moglichen
Repressalien
ausgesetzt zu sein.
[52]
Das Wahlgeheimnis wurde praktisch nicht gewahrt,
[53]
es gab meist keine Alternative zu einer offenen Abstimmung, ohne sich und seine Familie moglicher politischer Verfolgung auszusetzen.
[54]
Zusatzlich ließen die Nationalsozialisten verbreiten, das Wahlgeheimnis sei nicht gewahrleistet, es fanden geheime Kontrollen statt.
[55]
Personen, die sich kritisch uber die Volksabstimmung außerten oder ein ?Nein“ empfahlen, wurden angezeigt und mussten mit harten Strafen rechnen.
[56]
Schon am 8. April wurde das
Kreuzfahrtschiff
Wilhelm Gustloff
genutzt, um 2000 in England lebende Deutsche und Osterreicher an Bord zu nehmen, um ihnen dann am 10. April drei Meilen vor der englischen Kuste die Moglichkeit zur Abstimmung im ?schwimmenden Wahllokal“ zu geben.
[57]
Am Abend des 10. April berichtete Gauleiter Josef Burckel aus dem
Wiener Konzerthaus
das Ergebnis der Abstimmung nach Berlin. Laut amtlichen Angaben hatten 99,73 % der Abstimmenden zugestimmt.
[58]
Im bisherigen Reichsgebiet, nunmehr als
Altreich
bezeichnet, stimmten angeblich 99,08 % fur den ?Anschluss“. Laut Statistik des Deutschen Reiches gab es in Osterreich 4,474 Millionen Stimmberechtigte,
[59]
die Wahlbeteiligung in Osterreich lag bei 99,71 %, im Altreich bei 99,59 %.
[60]
Die Einstellung der osterreichischen Bevolkerung gegenuber einem Anschluss und die hierfur verantwortlichen Motive sind Gegenstand einer historischen und politischen Debatte. Zahlen daruber, wie viele Osterreicher fur den ?Anschluss“ waren, sind auch nicht annahernd zu liefern. Erstens fehlen entsprechende Umfragen, zweitens hat Schuschnigg seine Volksbefragung abgesagt und drittens kann die am 10. April durchgefuhrte Volksabstimmung nicht als frei bezeichnet werden.
[61]
Der deutsche Historiker
Hans-Ulrich Thamer
ruckt das Ergebnis der Volksabstimmung, das ?alle bisherigen totalitaren Traummarken“ ubertraf, in einen Zusammenhang mit dem Jubel, der Zustimmung und der verbreiteten Erleichterung, dass Kampfe vermieden werden konnten.
[62]
Der Politikwissenschaftler Otmar Jung zitiert die Einschatzung der
Deutschland-Berichte der Sopade
, wonach auch in einer freien Abstimmung etwa 80 % fur den ?Anschluss“ gestimmt hatten, was indes nicht gleichbedeutend mit einem Bekenntnis zum Nationalsozialismus sei.
[63]
Auch der Sozialhistoriker
Hans-Ulrich Wehler
vermutet, dass die Abstimmung bei freien Bedingungen unter internationaler Aufsicht nicht wesentlich anders ausgegangen ware.
[64]
Gordon Brook-Shepherd
war vor allem uberzeugt, eine vollstandig freie Abstimmung hatte eine Mehrheit dafur ergeben. Jene rund 40 % der Bevolkerung, die zwischen Gegnern und Befurwortern standen, die bei der von Schuschnigg geplanten Abstimmung noch fur Osterreich gestimmt hatten, waren entscheidend gewesen.
[65]
Der britische Historiker
Richard J. Evans
fuhrt das Ergebnis dagegen auf die ?massiven Manipulationen und Einschuchterungen“ zuruck, die es vor der Abstimmung gegeben habe: So sollen laut Berichten der
Gestapo
zum Beispiel in Wien nicht nahezu hundert Prozent, sondern nur ein Drittel der Bevolkerung fur die Vereinigung Osterreichs mit dem Deutschen Reich gewesen sein.
[44]
Der ?Anschluss“ wurde als weiterer personlicher Erfolg Hitlers angesehen, der dem
Fuhrermythos
erneute Nahrung gab und Hitlers
charismatische Herrschaft
weiter legitimierte. Hitlers Popularitat reichte nun an die Begeisterung heran, die
Otto von Bismarck
nach der
Reichseinigung
genossen hatte, die von dem Erfolg, alle deutschsprachigen Menschen in einem Staat versammelt zu haben, in den Schatten gestellt zu werden schien. Die
Deutschland-Berichte der
Sopade
berichteten, viele Deutsche seien nun zu der Uberzeugung gekommen, ?daß der Fuhrer alles kann, was er will“.
[66]
Selbst Renner lobte nach der Durchfuhrung des Anschlusses in dem bis 1939 verfassten, erst spater veroffentlichten Manuskript
Die Grundung der Republik Deutschosterreich, der Anschluß und die sudetendeutsche Frage
die ?beispiellose Beharrlichkeit und Tatkraft der deutschen Reichsfuhrung“ beziehungsweise stellte den Anschluss Osterreichs und der sudetendeutschen Gebiete wie auch die Handlungsweise Hitlers und seiner Regierung in diesem Zusammenhang sehr ausfuhrlich positiv dar.
[67]
Deutschland bediente sich sogleich bei den
Gold-
und Devisenreserven Osterreichs, die aufgrund der
deflationistischen
Wirtschaftspolitik der Regierungen in den 1930er Jahren beachtliche Bestande erreicht hatten; sie wurden nun in das devisenarme Altreich transferiert. So gerieten mehr als 2,7 Milliarden Schilling an Gold und Devisen unter NS-Kontrolle.
[68]
Im 1939 in
Ostmark
umbenannten Osterreich hatte die NSDAP großen Zulauf. 1943 erreichte die Mitgliederzahl ihren Hohepunkt: Fast 700.000 Osterreicher und somit mehr als zehn Prozent der Bevolkerung gehorten ihr an. Die Verteilung war regional hochst unterschiedlich: In
Tirol
wurde ein Spitzenwert von 15 % erreicht, im wirtschaftlich armen, auf Niederosterreich und die Steiermark aufgeteilten
Burgenland
waren es nur 6 %.
[69]
Nach dem Krieg wurden 536.000 Personen von der Registrierungspflicht der
Entnazifizierung
erfasst. Zum Vergleich: In
Westdeutschland
wurden rund 13 Millionen Nationalsozialisten von einer Gesamtbevolkerung von 58 Millionen Menschen, also prozentuell wesentlich mehr, zur Entnazifizierung registriert. Die Gestapo schatzte im Juni 1938, dass 30 % der Osterreicher Anhanger des Nationalsozialismus waren, wenn auch nicht nur aus ideellen Motiven. 30 bis 40 % der Osterreicher waren nach Einschatzung der Gestapo hingegen offene oder versteckte Gegner.
[70]
Der Anschluss verstieß gegen internationales Recht: Sowohl der
Friedensvertrag von Versailles
, den die Siegermachte des Ersten Weltkriegs mit dem Deutschen Reich geschlossen hatten, als auch der
Vertrag von Saint-Germain
zwischen ihnen und Osterreich verbot explizit einen Anschluss Osterreichs an das Reich. Dieses Verbot war in den
Genfer Protokollen von 1922
von der Republik Osterreich bekraftigt worden.
Frankreich
hatte in den 1920er Jahren mit der
Kleinen Entente
zwischen
Rumanien
, der
Tschechoslowakei
und
Jugoslawien
eine eigene Sicherheitsarchitektur in
Ostmitteleuropa
geschaffen, die auch dem Ziel diente, einen Anschluss zu verhindern. Gleichwohl nahmen sowohl Frankreich als auch Großbritannien den volkerrechtswidrigen Anschluss hin. Lediglich in zwei getrennten, wenngleich parallelen
Demarchen
protestierten die Botschafter beider Lander, Nevile Henderson und
Andre Francois-Poncet
, am Abend des 12. Marz in Berlin gegen das deutsche Vorgehen.
[71]
Wahrend der Krise, die dem Anschluss voranging, hatte der franzosische Außenminister
Yvon Delbos
am 11. Februar 1938 noch in London vorschlagen lassen, rechtzeitig und gemeinsam in Berlin klarzustellen, dass ?jeder Gewaltakt, der darauf abziele, den territorialen
Status quo
in
Mitteleuropa
in Frage zu stellen, auf den entschlossenen Widerstand der Westmachte“ stoßen wurde. Aus dieser Aktion wurde nichts, da wenige Tage darauf der britische Außenminister
Anthony Eden
zurucktrat. Sein Nachfolger
Lord Halifax
war ein entschiedener Vertreter der Appeasement-Politik und glaubte, wenn man Deutschland nur erlauben wurde, seine durchaus berechtigten Interessen durchzusetzen ? immerhin verstieß das Anschlussverbot ja gegen das
Selbstbestimmungsrecht der Volker
?, dann konnte es anschließend ein verlasslicher Partner in einem stabilen internationalen System sein. Aus ahnlichen Uberlegungen hatte das Vereinigte Konigreich mit Deutschland 1935 das
deutsch-britische Flottenabkommen
geschlossen, das die illegale deutsche Aufrustung teilweise legalisierte.
[72]
Somit stand Delbos in der Anschlusskrise ohne Partner da. Hinzu kam, dass die
Volksfrontregierung
unter
Camille Chautemps
, der er angehorte, am 10. Marz zurucktrat: Im Augenblick des Anschlusses hatte Frankreich keine handlungsfahige Regierung.
[73]
Zudem machte die Sicherheitsarchitektur, die Frankreich seit den 1920er Jahren errichtet hatte, ein militarisches Eingreifen unmoglich. Der
Vertrag von Locarno
von 1925 garantierte die deutsch-franzosische Grenze, Frankreich hatte sich bei einer
Militarintervention
ins Rheinland daher einer Vertragsverletzung schuldig gemacht. Sein lange Zeit wichtigster Verbundeter
Polen
hatte 1934 einen
Nichtangriffspakt mit Deutschland
geschlossen ? von dieser Seite war also auch kein militarischer Druck zu erwarten.
[72]
Insofern blieb nichts ubrig, als das deutsche
Fait accompli
zu akzeptieren. Fur
Neville Chamberlain
stand nun die Frage auf der Tagesordnung, ?wie wir ein Auftreten ahnlicher Ereignisse in der Tschechoslowakei verhindern“.
[74]
Die Londoner
Times
schrieb dazu, schließlich habe sich auch
Schottland
vor 200 Jahren an
England
angeschlossen. Italien, das noch 1934 als Huter der osterreichischen
Souveranitat
aufgetreten war, protestierte uberhaupt nicht: Hitler hatte Mussolini am 11. Marz brieflich von seinem ?Entschluß, nunmehr in meiner Heimat Ordnung und Ruhe wiederherzustellen“, informiert und dabei die innenpolitische Lage Osterreichs drastisch ausgemalt. Obwohl der Brief erst nach dem Marschbefehl fur die Wehrmacht verfasst worden war, konnte sich Mussolini somit vorab informiert fuhlen, wie es im Achsenbundnis versprochen worden war. Berger Waldenegg
spekuliert kontrafaktisch
, dass allein eine scharfe Protestnote Italiens den Anschluss hatte verhindern konnen: Dann waren auch die Westmachte scharfer aufgetreten und Hitler hatte vielleicht einen Ruckzieher gemacht. Doch Italien tolerierte den ?Anschluss“.
[75]
Am 18. Marz 1938 forderte die
sowjetische
Regierung die
Vereinigten Staaten von Amerika
, Großbritannien und Frankreich zu kollektiven Maßnahmen gegen Deutschland auf, jedoch ohne Erfolg.
[76]
Im September 1938 versuchte
Josef Stalin
nochmals, diesmal im Rahmen des Volkerbundes, zu einem konzertierten Vorgehen zu kommen, doch auch dieses Mal ohne Erfolg. Die USA und Frankreich akzeptierten den Anschluss
de jure
nicht, wohl aber de facto. Großbritannien erhob zwar formellen Protest, erkannte den Anschluss aber schließlich sogar de jure an.
[77]
In der Tschechoslowakei zog man aus dem Anschluss Osterreichs den Schluss, dass man sich auf eine militarische Auseinandersetzung vorbereitete: Eine kampflose Absorption des eigenen Staatsgebiets wollte die Regierung in
Prag
in keinem Falle hinnehmen.
[78]
Die Schweiz reagierte mit der Proklamation des
Bundesrates
und der Fraktionen betreffend die Neutralitat der Schweiz, welche im
Nationalrat
uber alle Parteigrenzen hinweg volle Zustimmung fand.
[79]
[80]
Mexiko
legte durch Ubermittlung einer
diplomatischen Note
?gegen die auslandische Aggression gegen Osterreich“ beim Volkerbund Protest ein und sein Außenminister
Eduardo Hay
forderte die Einberufung einer Ratstagung.
[81]
In Wurdigung der mexikanischen Protestnote wurde am 27. Juni 1956 der Erzherzog-Karl-Platz in Wien in
Mexikoplatz
umbenannt. Seit 1985 steht dort ein Gedenkstein mit folgender Inschrift: ?Mexiko war im Marz 1938 das einzige Land, das vor dem Volkerbund offiziellen Protest gegen den gewaltsamen Anschluss Osterreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich einlegte. Zum Gedenken an diesen Akt hat die Stadt Wien diesem Platz den Namen Mexikoplatz verliehen.“ Ein 1988 gestiftetes weiteres Denkmal steht in
Mexiko-Stadt
.
Bis auf Michael Skubl ? er trat am 13. Marz von seiner Funktion zuruck ? wirkte die Regierung Seyß-Inquart nun als
Landesregierung des Landes Osterreich
im Dritten Reich unter der Aufsicht der Reichsregierung weiter. Geleitet wurde sie von Seyß-Inquart, der am 15. Marz zum
Reichsstatthalter
ernannt wurde.
[82]
Sehr zugig wurden die Machtstrukturen und die entsprechenden Institutionen in Osterreich nach dem Vorbild Deutschlands ausgerichtet. Bereits wenige Tage danach erfolgte die Vereidigung der Offiziere auf Adolf Hitler, der Sicherheitsdienst der NSDAP und die Gestapo dehnten ihren Aktionsbereich auf das okkupierte Territorium aus. Am 15. Marz nahm die
Gestapoleitstelle Wien
ihre Tatigkeit auf und begann mit der Verfolgung von Systemfeinden.
Josef Burckel
war im April 1938 als ?Reichskommissar fur die Wiedervereinigung Osterreichs mit dem Deutschen Reich“ eingesetzt worden. Ihm folgte ab 1940
Baldur von Schirach
.
Ministerialdirektor
Erich Neumann
, dem in der
Vierjahresplanbehorde
die
Geschaftsgruppe Devisen
unterstand, maß im Mai 1938 der Angliederung Osterreichs eine erhebliche okonomische Bedeutung fur die Fortfuhrung und Aufrechterhaltung der deutschen Rohstoff- und Devisenwirtschaft nach der bestehenden Planung fur das Jahr 1938 bei.
[83]
Die Osterreicher wurden mit Verordnung vom 3. Juli 1938 zu Staatsburgern des Deutschen Reiches und teilten nun die
nationalsozialistische Geschichte
des Reiches bis zu dessen historischem Untergang 1945, wobei sich nicht wenige Osterreicher an der nationalsozialistischen Aggressions- und Vernichtungspolitik aktiv beteiligten.
In der
NS-Propaganda
wurde der Staat nun als
Großdeutsches Reich
bezeichnet; offiziell wurde diese Bezeichnung durch einen Erlass vom 26. Juni 1943.
[84]
In zahlreichen alltaglichen Details fanden nun Angleichungen statt: So wurden z. B. die Munzen zu zwei und einem
Groschen
seitens der
Reichsbank
den Munzen zu ein und zwei
Reichspfennig
gleichgestellt und galten im gesamten
Reichsgebiet
als Zahlungsmittel.
[85]
Am 1. Mai 1939 wurde das sogenannte
Ostmarkgesetz
verabschiedet, mit dem die Befugnisse vom Reichsstatthalter an den
Reichskommissar
ubergeben werden sollten. Die Umsetzung dieses Gesetzes war am 31. Marz 1940 beendet. Gleichzeitig mit der Machtubernahme wurde Wien als Hauptstadt entmachtet: Es verlor seine metropolitane Stellung, und die Beziehungen der Lander beziehungsweise Gaue zu Wien wurden abgeschnitten; Hauptstadt war ausschließlich Berlin. Die Landerstrukturen blieben (abgesehen von der Aufteilung des
Burgenlandes
und der Vereinigung von Vorarlberg mit Tirol) als Strukturen der
Reichsgaue
im Wesentlichen erhalten.
[86]
Das Gebiet des ehemaligen
Bundesstaates
Osterreich wurde in die Reichsgaue
Karnten
,
Niederdonau
,
Oberdonau
,
Salzburg
,
Steiermark
,
Tirol-Vorarlberg
und
Wien
gegliedert. Hitler ließ den von ihm ungeliebten Namen
Osterreich
anfangs durch
Ostmark
ersetzen, eine ab dem 19. Jahrhundert verbreitete Ubersetzung fur
marcha orientalis
, die auch fur jene zum Teil von
Polen
bewohnten, ostlichen Gebiete Deutschlands verwendet wurde (→
Deutscher Ostmarkenverein
). In der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft gab es daneben einen Gau
Bayerische Ostmark
.
[87]
Ab 1942 wurde die Benennung Ostmark durch
Donau- und Alpenreichsgaue
abgelost.
Karl Vocelka
, Professor fur osterreichische Geschichte an der
Universitat Wien
, sah darin einen weiteren Schritt im Bestreben der nationalsozialistischen Machthaber, jeden Hinweis auf die
(historische) Eigenstandigkeit Osterreichs
auszuloschen.
[88]
Moglicher Grund fur die Umbenennung ist auch, dass im Zuge der Eroberungen des Deutschen Reiches in Osteuropa das fruhere Osterreich keine ?ostliche Grenzmark“ mehr darstellte.
[89]
Am 9. September 1942 erklarte der britische Außenminister Eden vor dem
Unterhaus
, den (im Jahre 1938 hingenommenen) Anschluss Osterreichs an das Deutsche Reich nicht langer anzuerkennen und sich in Nachkriegsvereinbarungen an keine seit 1938 eingetretenen Veranderungen gebunden zu fuhlen.
[90]
Dennoch konne Osterreich nicht wie jedes andere Land unter deutscher
Okkupation
behandelt werden. Das zeigt die damalige vage Einstellung der Briten zum Thema Osterreich.
[91]
Die Zugehorigkeit Osterreichs zum Deutschen Reich ging im April/Mai 1945 mit dem Sieg der
Alliierten
Sowjetunion, USA, Großbritannien und Frankreich im
Zweiten Weltkrieg
zu Ende. Die
Rote Armee
errang in der ?
Wiener Operation
“ Anfang April 1945 einen opferreichen Sieg uber Wehrmacht,
Waffen-SS
und
Volkssturm
, so dass in Wien schon Mitte April 1945 demokratische Parteien wiedergegrundet werden konnten und am 27. April 1945, als
Ostosterreich
weitgehend von der Sowjetunion besetzt war, die
Staatsregierung unter dem Vorsitz Karl Renners
zu amtieren beginnen konnte. In
West-
und
Sudosterreich
ging die Kontrolle Anfang Mai 1945, zumeist ohne großere Kampfhandlungen, an Einheiten der Westalliierten uber.
Innsbruck
wurde als einzige großere Stadt im Dritten Reich nicht von den Siegermachten befreit, sondern von osterreichischen Widerstandskampfern.
Die drei Parteien
OVP
,
SPO
und
KPO
erließen in Wien am 27. April 1945 die
osterreichische Unabhangigkeitserklarung
, die den ?Anschluss“ fur null und nichtig erachtete. Sie wurde als
Proklamation uber die Selbstandigkeit Osterreichs
als Nr. 1 in das vom 1. Mai 1945 an publizierte
Staatsgesetzblatt fur die Republik Osterreich
aufgenommen und gilt als Grundungsdokument der
Zweiten Republik
.
Der
osterreichische Staatsvertrag
von 1955 verbietet eine politische oder wirtschaftliche Vereinigung zwischen Osterreich und Deutschland (
Anschlussverbot
).
Der ?Anschluss“ 1938 war kein freiwilliger
Beitritt
der Republik Osterreich zum
Deutschen Reich
, sondern erfolgte rechtswidrig und unter Androhung von Gewalt. Er war ein von langer Hand durch Hitler vorbereiteter Akt einer ?etwas sanften“ Okkupation eines selbstandigen Landes. In der
Moskauer Deklaration
der
alliierten
Staaten Großbritannien, USA und Sowjetunion vom 1. November 1943 erklarten deren Außenminister ihn fur
nichtig
.
[92]
Auf dieser Konferenz verwendeten sie zudem erstmals den Ausdruck ?
Deutschland in den Grenzen vom 31. Dezember 1937
“, um klarzumachen, dass sie samtliche spateren Gebietserweiterungen des Deutschen Reiches als nicht volkerrechtsgemaß qualifizierten.
[93]
In der am 27. April 1945 unterzeichneten und am 1. Mai 1945 kundgemachten Proklamation uber die Selbststandigkeit Osterreichs und der darin enthaltenen
Unabhangigkeitserklarung
wurde der Anschluss als ?abgelistet und abgepreßt“, ?aufgezwungen“ und ?mißbraucht“ beschrieben und somit fur ?null und nichtig“ erklart.
[94]
Im
Nurnberger Prozess
1946 wurden die Umstande, die zum Anschluss fuhrten, zwar nicht als
Angriffskrieg
gewertet, wohl aber als geplante Angriffshandlung, die in der Absicht verubt wurde, spatere Angriffskriege zu ermoglichen.
[95]
Uber den rechtswidrigen Charakter des Anschlusses und somit seine Nichtigkeit
ex tunc
herrscht mithin Einigkeit.
Sein rechtlicher Charakter ist indes umstritten. Die Moskauer Deklaration von 1943 weist namlich eine gewisse ?Widerspruchlichkeit und Ungenauigkeit“ insofern auf, als sie den Anschluss einerseits als ?
annexation
“ beschrieb, die deutsche Ubersetzung hingegen den Terminus ?
Besetzung
“ gebrauchte.
[96]
Die Beschreibung des ?Anschlusses“ als (volkerrechtswidrige) Annexion findet sich haufig in der Fachliteratur,
[97]
allerdings bewertete eine osterreichische Historikerkommission ihn 2003 als einmaligen ?Grenzfall zwischen Annexion, Fusion und Okkupation“.
[98]
[99]
In engem Zusammenhang damit steht die Frage nach der Existenz Osterreichs in den Jahren 1938 bis 1945. Befurworter der Annexionstheorie nehmen an, die Republik Osterreich sei durch den Anschluss untergegangen, wahrend Anhanger der Okkupationstheorie davon ausgehen, dass sie als
Volkerrechtssubjekt
auch in den Jahren 1938 bis 1945 fortexistierte.
[100]
[101]
Die polnische Volkerrechtlerin
Krystyna Marek
zieht aus dem Rechtsgrundsatz, wonach aus Unrecht kein neues Recht entstehen konne
(
ex iniuria ius non oritur
)
, konsequent die Auffassung, dass der osterreichische
Staat
durch das Unrecht der Nationalsozialisten nicht ausgeloscht worden sei, was in ihrem Ergebnis zur Kontinuitat des Staates fuhrt.
[102]
Auch in der osterreichischen Rechtswissenschaft und der
hochstrichterlichen Rechtsprechung
Osterreichs setzte sich nach 1945 die Kontinuitatsthese durch: Mithin sei die Republik Osterreich 1938 nicht annektiert gewesen, sondern nur besetzt und habe weiterbestanden. Diese Annahme wurde ?quasi zur offiziellen osterreichischen Staatsdoktrin“.
[103]
Deutsche Gerichte gingen dagegen davon aus, dass der Anschluss mit Einwilligung des osterreichischen
Staatsvolks
erfolgt sei. Da es keinen nennenswerten
Widerstand
gegen den Anschluss gab, gilt ihnen Osterreichs Staatlichkeit in den Jahren 1938?1945 als erloschen.
[104]
Der Politikwissenschaftler Robert E. Clute schrieb 1962, die Okkupationsthese sei nicht uberzeugend und werde nur interessegeleitet vertreten, etwa weil man keine Mitverantwortung fur die Verbrechen des NS-Regimes ubernehmen oder das
Reichskonkordat
von 1933 loswerden wollte.
[105]
Deutsche Volkerrechtler vertreten daher die Ansicht, der 1945 ?wiederhergestellte“ Staat sei ?in Wahrheit
neu errichtet
“ worden. Die osterreichische Rechtsauffassung, die Republik sei ?nur vorubergehend okkupiert worden und seine
Staatsgewalt
suspendiert gewesen“, wird als
Fiktion
bezeichnet.
[106]
Der Rechtshistoriker
Rudolf Hoke
konstatiert, dass ?die rechtliche Natur des ?Anschlusses‘ von vielen Zeitgenossen, auch in Osterreich, und von den meisten auslandischen Regierungen“ als Untergang des osterreichischen Staates gewertet wurde, wonach es 1945 seiner Neugrundung bedurfte: Die auslandischen Regierungen hatten ihre Haltung zum Ausdruck gebracht, indem sie sogleich ihre Wiener
diplomatischen Vertretungen
in
Generalkonsulate
umwandelten.
[107]
Auch der Rechtswissenschaftler Oliver Dorr bezweifelt die Kontinuitatsthese, die eine ?Verdrangung des realen historischen Geschehens“ darstelle. Gleichwohl bestehe heute weitgehend Konsens uber eine fiktive Identitat Osterreichs nach 1945 mit dem osterreichischen Staat vor 1938, er sei einer der ?feststehenden Glaubenssatze der modernen Staatenwelt“. Denn der ?Anschluss“ 1938 wies trotz der ?Wiedererrichtungsthese“ zunachst alle Merkmale einer
volkerrechtlichen Inkorporation
auf.
[108]
Israel
sandte bereits 1948 einen Delegierten nach Osterreich. 1950 wurden
konsularische
Beziehungen aufgenommen, die in den folgenden Monaten zu vollen diplomatischen Beziehungen aufgewertet wurden. Verhandlungen uber eine ?Wiedergutmachung“ wurden mit Osterreich nie gefuhrt. Im Jahr 1952 verzichtete Israel offiziell auf Forderungen an die Republik Osterreich und erkannte damit an, dass Osterreich der Aggressionspolitik des NS-Reichs zum Opfer gefallen war.
[109]
Die anfanglich euphorische Stimmung in der Bevolkerung wich im Laufe des Krieges weitverbreiteter Ernuchterung. Nach Ende des Krieges wurde ein unabhangiges Osterreich wiederhergestellt. Dennoch waren die Geschehnisse im Jahre 1938 fur weite Teile der Bevolkerung ein Gesprachstabu. Der
Mythos
von Osterreich als ?erstem Opfer“ des nationalsozialistischen Deutschlands war weit akzeptiert und offizielle Position der Republik Osterreich. Er basierte unter anderem auf der Moskauer Deklaration von 1943. Darin hatten die Alliierten erklart:
?Die Regierungen des Vereinigten Konigreiches, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten von Amerika sind darin einer Meinung, dass Osterreich, das erste freie Land, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte, von deutscher Herrschaft befreit werden soll.“
Auf der Grundlage dieses Mythos verweigerte die Republik Osterreich jahrzehntelang, bei den Opfern des Nationalsozialismus offiziell um Entschuldigung zu bitten sowie sich um eine Entschadigung insbesondere der judischen Osterreicher zu bemuhen. Diese Haltung wurde damit begrundet, dass Osterreich nicht nur laut Eigenauffassung als Volkerrechtssubjekt mit Vollzug des ?Anschlusses“ nicht mehr existierte
[110]
und deshalb auch nicht zur Rechenschaft gezogen werden konnte. Auch seine Bevolkerung wurde von jeglicher Schuld exkulpiert, indem etwa Beamte in ihren Entwurfen und Schriftsatzen peinlich genau das Wort
Wiedergutmachung
vermieden, das ja implizierte, dass es tatsachlich etwas wiedergutzumachen gab.
[111]
Erst mit der kontroversen
Waldheim-Affare
1986 fing die kritische Vergangenheitsbeleuchtung der Rolle der Osterreicher wahrend des ?Anschlusses“ und des Zweiten Weltkriegs ernsthaft an. Die Wahl Waldheims trat eine große Debatte in Osterreich los; 1993 entschuldigte sich der damalige Bundeskanzler
Franz Vranitzky
in einer Rede vor der
Knesset
fur die Rolle der an den NS-Verbrechen beteiligten Osterreicher und bat um Vergebung. Auch auf massiven Druck der US-amerikanischen Regierung wurde unter anderem der
Nationalfonds
eingerichtet, um die Verfolgten symbolisch zu entschadigen und die
Restitution
anzugehen. Schulbucher und Unterricht wurden geandert, um herauszuarbeiten, in welchem Ausmaß Osterreicher daran mitgewirkt hatten, den ?Anschluss“ herbeizufuhren, und ihn genutzt hatten, wahrend andere Osterreicher Opfer wurden. Der 1992 eingerichtete
Gedenkdienst
fur junge Burger ist ein Netzwerk fur
Gedenkstatten fur die Opfer des Nationalsozialismus
und fur einschlagige Museen, die Mithilfe in ihren Archiven und Bibliotheken in Anspruch nehmen wollen.
Wenn vom ?Anschluss“ Osterreichs an das Deutsche Reich 1938 die Rede ist, wird der Begriff von Historikern zumeist unter
Anfuhrungszeichen
gesetzt.
Florian Wenninger
sieht darin den Ausdruck einer Distanzierung von einem Begriff, der von der
nationalsozialistischen Propaganda
ubernommen und neu aufgeladen wurde. Die Anfuhrungszeichen sollen die historische Unterscheidung zu den vorangegangenen Anschlussbestrebungen markieren.
[112]
Fur
Oliver Rathkolb
weisen die Anfuhrungsstriche auf den mittlerweile vielschichtigen Gebrauch des Begriffes hin. Wurden die Vorgange im Marz 1938 von den Nationalsozialisten als ?freiwilliger Anschluss“ dargestellt, wandelte sich die Verwendung des Begriffs 1945 ins Gegenteil, mit ?Anschluss“ war nun ganz im Sinne der Opferthese eine
Okkupation
gemeint. Erst in den 1980er Jahren und den Debatten im Rahmen der Waldheim-Affare, bei denen die Mittaterschaft vieler Osterreicher thematisiert wurde, entwickelte sich eine differenziertere Sichtweise auf die damaligen Vorgange.
[113]
Die Verwendung der Gansefußchen ist allerdings nicht von allen Seiten geteilter Konsens.
Kurt Bauer
etwa halt sie fur einen Ausdruck von
politischer Korrektheit
, die sich eingeburgert habe. In seinen Texten verzichtet er aus Grunden der Lesbarkeit auf die Anfuhrungszeichen, die historische Verortung des Begriffes ergebe sich aus dem Zusammenhang.
[112]
Der ?Anschluss“ Osterreichs ans Deutsche Reich ist im
Heeresgeschichtlichen Museum
, einem
Bundesmuseum
in Wien, in Saal VII ? ?Republik und Diktatur“ dokumentiert. Ausgestellt sind u. a. nationalsozialistische Werbeflugblatter, Stimmzettel sowie Objekte, die die Ubernahme des
Bundesheeres
in die Wehrmacht veranschaulichen.
[116]
Die Ausstellung wurde allerdings nach einer Evaluierung durch eine Expertenkommission 2020 scharf kritisiert: Die Exponate seien mangelhaft kontextualisiert,
[117]
wodurch problematische Interpretationsspielraume entstunden.
[118]
Die Stadt Wien erinnert in ihrem
Wien Museum
und im
Judischen Museum Wien
an die Geschehnisse von 1938 und danach. 1988 wurde auf Betreiben des damaligen Burgermeisters
Helmut Zilk
auf dem Wiener Albertinaplatz im Stadtzentrum das von
Alfred Hrdlicka
gestaltete
Mahnmal gegen Krieg und Faschismus
enthullt. Zur Erinnerung an die Schrecken der großten Gestapo-Leitstelle im Dritten Reich besteht an ihrem seinerzeitigen Standort
in der Salztorgasse ein Gedenkraum
.
[119]
Im Jahr 2000 wurde von der Stadtverwaltung auf dem Wiener
Judenplatz
das von
Rachel Whiteread
gestaltete
Mahnmal fur die osterreichischen judischen Opfer der Schoah
enthullt.
In Wien wurde am 24. Oktober 2014 von Bundesprasident
Heinz Fischer
und Burgermeister
Michael Haupl
das Deserteursdenkmal vorgestellt. Das von
Olaf Nicolai
entworfene Denkmal wurde im Auftrag der
Wiener Stadtverwaltung
auf dem
Ballhausplatz
gegenuber dem Bundeskanzleramt errichtet. Es dient dem Gedenken an die
Opfer der NS-Militarjustiz
.
[120]
[121]
Der Gefallenen des Zweiten Weltkriegs wird in vielen osterreichischen Gemeinden auf dem gleichen Denkmal gedacht wie der Gefallenen des Ersten Weltkriegs; die Verstrickung in den nach dem ?Anschluss“ begonnenen nationalsozialistischen Aggressions- und
Vernichtungskrieg
bleibt zumeist unerwahnt. In allen Bundeslandern Osterreichs bestehen aber auch
Gedenkstatten zu den morderischen Folgen des ?Anschlusses“
.
- Ich habe mich zwar hingegeben, doch nur weil ich gemußt.
- Geschrien habe ich nur aus Angst und nicht aus Liebe und Lust.
- Und daß der Hitler ein Nazi war ? das habe ich nicht gewußt!
[122]
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Bekundet schon in der
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): ?die demokratische Republik Osterreich ist wiederhergestellt und im Geiste der
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wieder zu errichten“ (Art. I)
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Siehe dazu mit weiteren Nachweisen Angela Hermann:
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Der Text des Stimmzettels war durch die Verordnung der Bundesregierung vom 15. Marz 1938 wie folgt festgelegt worden: ?Bekennst Du Dich zu unserem Fuhrer
Adolf Hitler
und damit zu der am 13. Marz 1938 vollzogenen Wiedervereinigung Osterreichs mit dem Deutschen Reich?“ (
Stimmzettel in der Anlage im Gesetzblatt fur das Land Osterreich zu Nr. 2/1938
).
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Bekennerschreiben der katholischen Bischofe Osterreichs zum ?Deutschen Reich“ im Vorfeld der Volksabstimmung am 10. April 1938
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Auch die Kirche bekennt sich zu Großdeutschland!
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Das
Dokumentationsarchiv des osterreichischen Widerstandes
hat viele Informationen uber die Volksabstimmung (Stimmzettel, Propagandaplakate, polizeiliche Anzeigen usw.) online gestellt, siehe
NS-?Volksabstimmung“, 10. April 1938. Propaganda und Bruchlinien ? Aus dem Archiv
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, The Wilhelm Gustloff Museum, Zugriff am 4. Dezember 2015.
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Heeresgeschichtliches Museum: Wie viel Hitler darf sein?
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