Vorgezogene Neuwahl

aus Wikipedia, der freien Enzyklopadie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Vorgezogene Neuwahlen sind Wahlen nach der Auflosung eines Parlaments im Zuge der vorzeitigen Beendigung der Legislaturperiode .

Deutschland [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Bundestag [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Das Grundgesetz sieht zwei Moglichkeiten vor, die zu vorgezogenen Neuwahlen fuhren konnen. Nach Art. 68 Abs. 1 kann der Bundesprasident den Bundestag auf Vorschlag des Bundeskanzlers innerhalb von 21 Tagen auflosen , sofern dieser bei einer Vertrauensfrage keine Mehrheit im Parlament gefunden hat. Im Falle eines erfolgreichen konstruktiven Misstrauensvotums erlischt das Recht zur Auflosung des Bundestages. Wird ein Bundeskanzler gemaß Art. 63 Abs. 4 mit relativer , aber nicht mit absoluter Mehrheit der Mitglieder des Bundestages gewahlt, so kann der Bundesprasident den Bundestag ebenfalls auflosen. Ein Selbstauflosungsrecht des Bundestages gibt es nicht, wird aber diskutiert . Lost der Bundesprasident den Bundestag auf, so mussen nach Art. 39 Abs. 1 Neuwahlen innerhalb von 60 Tagen stattfinden.

Die erste vorgezogene Bundestagswahl in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland war die Bundestagswahl 1972 . Vorausgegangen war ein Misstrauensvotum gegen Willy Brandt im April 1972, bei dem, falls es konstruktiv ausgegangen ware, Rainer Barzel (CDU) zum Bundeskanzler gewahlt worden ware. Es scheiterte an zwei fehlenden Stimmen. Dabei war mindestens die Stimme gegen Barzel von Julius Steiner (CDU) durch das Ministerium fur Staatssicherheit (MfS) gekauft worden ( Steiner-Wienand-Affare ). Trotz der erfolgreichen Abstimmung besaß die Koalition keine handlungsfahige Mehrheit mehr, sodass Bundesprasident Gustav Heinemann nach einer negativ beantworteten Vertrauensfrage Brandts den Bundestag aufloste.

1982 loste sich mitten in der Legislaturperiode die FDP aus der sozialliberalen Koalition , um eine Regierung mit der CDU zu bilden. Helmut Kohl wurde zum Bundeskanzler gewahlt. Eine Neuwahl des Bundestages sollte die neue Koalition legitimieren. Die Koalition wahlte die gescheiterte Vertrauensfrage zur Herbeifuhrung der Neuwahlen. Uber die Vertrauensfrage stimmte das Parlament am 17. Dezember 1982 ab. Obwohl erst am Tag zuvor der gemeinsame Bundeshaushalt fur 1983 beschlossen worden war, sprach das Parlament dem Kanzler das Vertrauen nicht aus. Nach heftigen Diskussionen uber die Verfassungsmaßigkeit dieses Vorganges entschied sich der Bundesprasident Karl Carstens dafur, die Auflosung des Bundestages anzuordnen und Neuwahlen fur den 6. Marz 1983 auszuschreiben. Die Bundestagswahl vom 6. Marz 1983 konnte die CDU/CSU klar fur sich entscheiden, die FDP blieb trotz innerparteilicher Auseinandersetzungen und schwerer Verluste Koalitionspartner.

Unmittelbar nach der Wahlniederlage der SPD bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 2005 kundigte der Bundes- und Fraktionsvorsitzende Franz Muntefering eine Neuwahl an. Er begrundete dies damit, dass das Vertrauen der Bevolkerung in die rot-grune Bundesregierung nicht mehr erkennbar sei. Bundeskanzler Gerhard Schroder richtete die Vertrauensfrage an das Parlament, das ihm mit dem Votum vom 1. Juli 2005 das Vertrauen vorenthielt. Anschließend schlug der Kanzler Bundesprasident Horst Kohler die Auflosung des Bundestags vor. Dieser loste am 21. Juli 2005 den 15. Deutschen Bundestag auf und ordnete die Neuwahl an. Die Verfassungsmaßigkeit dieses Verfahrens wurde wie 1982 in Frage gestellt, wurde aber vom Bundesverfassungsgericht als verfassungskonform bestatigt . Bei der Bundestagswahl 2005 am 18. September 2005 verlor die rot-grune Koalition ihre Mehrheit.

Lander [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Auf Landesebene ist, anders als auf Bundesebene, die Moglichkeit der Selbstauflosung des Parlaments verbreitet. So loste sich der Hessische Landtag am 19. November 2008 auf und ermoglichte somit die Neuwahl am 18. Januar 2009 . Fur vorgezogene Neuwahlen wird ein Beschluss des Landtages, des Landtagsprasidenten oder des Ministerprasidenten auf Auflosung des Landtages und vorzeitige Beendigung der Wahlperiode benotigt. Die Landtagswahl in Schleswig-Holstein am 6. Mai 2012 wurde nach Abbruch der Legislaturperiode durch das Landesverfassungsgericht vom 30. August 2010 notig.

Beispiele fur vorgezogene Neuwahlen auf Landesebene sind die Burgerschaftswahlen in Hamburg im Dezember 1982 , 1987 , 1993 , 2004 und 2011 , die Wahl zur Stadtverordnetenversammlung von Groß-Berlin 1948 , die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus 1950 , 1981 , 1990 und 2001 , die Landtagswahl in Hessen 2009 sowie die Landtagswahl in Niedersachsen 2017 . Die Landtagswahl in Schleswig-Holstein 2012 war die zweite vorgezogene Neuwahl in Folge, nachdem bereits fur die Landtagswahl 2009 aufgrund einer Vertrauensfrage des Ministerprasidenten der Landtag vor dem regularen Ablauf der Legislaturperiode aufgelost wurde. Auch die Landtagswahl 1988 war eine vorgezogene Neuwahl.

Osterreich [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Der Nationalrat kann sich durch einfaches Gesetz selbst auflosen oder vom Bundesprasidenten aufgelost werden. [1] Wahrend Selbstauflosungen durch einen Neuwahl-Beschluss ofters vorgekommen sind, hat der Bundesprasident erst einmal im Jahr 1930 von seinem Auflosungsrecht Gebrauch gemacht. [2] Auch die Landtage haben ein Selbstauflosungsrecht.

Schweiz [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Nach einer Totalrevision der Bundesverfassung mussen der Nationalrat und der Standerat neu gewahlt werden. [3] Ansonsten sind vorgezogene Wahlen nicht vorgesehen.

Vereinigtes Konigreich [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Im Vereinigten Konigreich lost der Konig das Unterhaus ( House of Commons ) auf Vorschlag des Premierministers auf, spatestens jedoch etwa 5 Jahre nach der vorherigen Wahl. Die Neuwahlen finden innerhalb von 25 Arbeitstagen nach der Auflosung des Parlaments statt, weshalb historisch gesehen vorgezogene Neuwahlen im Vereinigten Konigreich sehr haufig sind, da sie der Premierminister typischerweise dann in die Wege leitet, wenn es aufgrund der politischen Stimmung und Umfragen so erscheint, als konne seine Partei die Neuwahlen fur sich entscheiden.

Die folgenden Wahlen wurden durch eine freiwillige Entscheidung der Regierung weniger als vier Jahre nach der vorherigen Wahl anberaumt:

  • Dezember 1923 : Obwohl die Konservativen (Tories) nach dem Sieg von Bonar Law bei der Unterhauswahl am 15. November 1922 eine Mehrheit im Unterhaus gewonnen hatten, rief Stanley Baldwin ein Jahr spater eine Wahl aus. Die Tories erhielten 258 von 616 Mandaten (nach 344 bei der Wahl 1922). Baldwin trat 1924 zuruck. Ramsay MacDonald bildete toleriert von der Liberalen Partei die erste Labour-Minderheitsregierung des Landes und wurde Premierminister.
  • 1931 : Weil seine Regierung uber den Umgang mit der Weltwirtschaftskrise gespalten war, bot MacDonald dem Konig im August 1931 seinen Rucktritt an. Stattdessen wurde er uberredet, mit den Konservativen und Liberalen eine nationale Regierung zu bilden. Labour schloss ihn deshalb aus der Partei aus. Das Kabinett beschloss daraufhin eine vorgezogene Neuwahl. Die Tories erhielten 55 % der Stimmen und 470 von 615 Sitzen; Labour nur 46 Sitze (nach 287 Sitzen 1929).
  • Wahl am 25. Oktober 1951 : Clement Attlee bewirkte (nur 20 Monate nach der letzten Wahl) diese Wahl, um die Unterhaus-Mehrheit seiner Regierung zu erhohen, die bei der Unterhauswahl am 23. Februar 1950 auf nur funf Sitze reduziert worden war. Winston Churchill kehrte mit einer Mehrheit von 17 Unterhaus-Sitzen an die Regierung zuruck.
  • 1955: Nachdem Winston Churchill im April 1955 in den Ruhestand getreten war, ubernahm Anthony Eden das Amt und bewirkte sofort eine vorgezogene Nweuwahl, um ein Mandat fur seine Regierung zu erhalten.
  • 1966: Harold Wilson berief die Wahl siebzehn Monate nach dem knappen Sieg von Labour bei der Parlamentswahl von 1964. Die Regierung hatte eine kaum funktionierende Mehrheit von vier Sitzen gewonnen, die nach der Nachwahl von Leyton im Januar 1965 auf zwei reduziert worden war. Labour gewann 1966 eine Mehrheit von 98 Sitzen.
  • Februar 1974 : Premierminister Edward Heath bewirkte in einer wirtschaftlich schwierigen Situation (im Marz 1973 war das Bretton-Woods-System , ein System fast starrer Wechselkurse, zusammengebrochen und im Oktober hatte eine Olpreiskrise begonnen) eine vorgezogene Neuwahl. Labour erhielt vier Sitze mehr als die Konservativen. Harold Wilson wurde (wie schon 1964 bis 1970) Premierminister.
  • Oktober 1974 : Labour erhielt 319 von 635 Sitzen, eine knappe Mehrheit.
  • 3. Mai 1979 Premierminister James Callaghan (Labour) hatte am 28. Marz 1979 ein Misstrauensvotum im Unterhaus verloren.
  • Gordon Brown stand im Herbst 2007 kurz davor, eine vorgezogene Wahl zu bewirken. Spater sank seine Popularitat und Labour verlor die Unterhauswahl am 5. Mai 2010 .
  • 8. Juni 2017 : Premierminister Cameron war nach dem verlorenen Brexit-Referendum im Juli 2016 zuruckgetreten und Theresa May war seine Nachfolgerin geworden. May ließ im April 2017 das Unterhaus uber Neuwahlen abstimmen; dieses stimmte fast einstimmig zu. Die Tories erhielten 42,2 % der Stimmen und 318 von 650 Sitzen.
  • Auf Betreiben von Premierminister Boris Johnson stimmte das Unterhaus am 29. Oktober 2019 einer vorgezogenen Neuwahl zu. Diese fand am 12. Dezember 2019 statt .

Weitere Lander [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Die Auflosung des Parlaments ist in den meisten Staaten ein Recht des Staatsoberhauptes. In vielen Staaten kann das Staatsoberhaupt nur unter bestimmten Voraussetzungen eine vorgezogene Neuwahl veranlassen. Ein Selbstauflosungsrecht gibt es in Osterreich, Israel und in Polen. Polen und Osterreich kennen gleichzeitig ein Auflosungsrecht des Prasidenten. In Lettland kann das Parlament durch eine Volksabstimmung aufgelost werden, was 2011 geschehen ist. Keine Parlamentsauflosung kennen die Vereinigten Staaten und Norwegen.

In einigen Monarchien lost der Konig das Unterhaus auf Vorschlag des Premierministers auf, zum Beispiel in den Niederlanden, in Belgien und in Danemark.

Einzelnachweise [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

  1. Bundes-Verfassungsgesetz Art. 29. In: Rechtsinformationssystem der Republik Osterreich . 1. Januar 2004, abgerufen am 18. Mai 2019 .
  2. Christian Bohmer: Warum Thomas Klestil zuruckschreckte, das Parlament zu entlassen. In: kurier.at. 31. Marz 2016, abgerufen am 20. Mai 2019 .
  3. Art. 193 BV Totalrevision ? Bundesverfassung. In: Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft . Abgerufen am 18. Mai 2019 .

Weblinks [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]