Sayfo
ist eine Weiterleitung auf diesen Artikel. Zum Titel in der gambischen Kommunalverwaltung siehe
Seyfo
.
Der
Volkermord an den syrischen Christen
bezeichnet Ereignisse von 1915 bis 1917 wahrend des
Ersten Weltkrieges
unter der Herrschaft der 1908 an die Macht gekommenen
Jungturken
im damaligen
Osmanischen Reich
und der
iranischen
Grenzregion, die gleichzeitig mit dem
Volkermord an den Armeniern
und den
Verfolgungen der Griechen
geschahen. Der
Volkermord
wird auf Aramaisch
Sayfo
oder
Seyfo
(?Schwert“,
Syrisch-Aramaisch
: ????) genannt.
Betroffen von den Massakern waren die
syrischen Christen
Nordmesopotamiens
. Die Begrifflichkeit ?Syrisch“ bezieht sich nicht auf die heutige Republik Syrien, sondern auf die syrische Tradition des Christentums.
[1]
Konkret wurden die Anhanger der folgenden
Orientalisch-orthodoxen Kirchen
Opfer der systematischen Verfolgung:
[2]
Westsyrische Kirchen (gehen auf das Patriarchat Antiochien zuruck, daher
antiochenischer Ritus
):
Ostsyrische Kirchen (gehen auf das Katholikat Seleukia-Ktesiphon zuruck, daher
ostsyrischer Ritus
):
Aber auch missionierte
evangelische
und
protestantische
Assyrer
/
Aramaer
wurden Opfer dieser Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Gemeinsam war diesen Gemeinschaften die
syrische
Kultsprache
, wahrend sie im Alltag heute als ?neoaramaisch“ bezeichnete Dialekte dieser Sprache,
Arabisch
oder
Kurdisch
sprachen. Gleichfalls betroffen waren die Gemeinden, die sich durch die Tatigkeit protestantischer Missionare unter diesen Gemeinschaften gebildet hatten, was insbesondere im Raum
Urmia
der Fall war. In der Gegenwart sind fur diese Gruppen die Bezeichnungen
Assyrer
bzw.
Aramaer
, auch uber die Konfessionsgrenzen hinweg in Gebrauch, wobei die Benennung in den Gruppen, besonders bei den Syrisch-Orthodoxen als großter Gruppe, heftig umstritten ist.
[3]
Ihre heutige Eigenbezeichnung lautet
Suryoye
, wahrend sie im Deutschen als syrische Christen bezeichnet werden.
Diese Volksgruppen waren religios und ethnisch heterogen, ohne einheitliche kulturelle und nationale Identitat. Die von der osmanischen Verwaltung geforderte religiose Vielfalt und Konkurrenz unter den orientalischen Kirchen verhinderte einen Erfolg
panassyrischer Bestrebungen
.
[4]
Schon bei den
Massakern an den Armeniern 1894?1896
waren auch andere christliche Bewohner im Osten des Reiches betroffen. Bei antichristlichen
Pogromen
in
Diyarbakır
oder
Urfa
starben bis zu 55.000 Aramaer/Assyrer, etwa 100.000 wurden gezwungen, zum Islam uberzutreten.
[5]
Schon am 26. Oktober 1914 ordnete Innenminister
Talat Bey
, besorgt wegen russischer Avancen an die orientalischen Christen, die
Deportation
der Nestorianer aus
Hakkari
in die osmanischen Westprovinzen an, wo sie unter Moslems verteilt werden sollten. Bereits drei Tage spater wurde mit der Begrundung, dass die erforderlichen Truppen fehlten, die Deportation verschoben und kurz danach, nach Intervention des Patriarchen, ganz abgesagt.
[6]
Die verheerende osmanische Niederlage an der
Kaukasusfront
gegen
Russland
in der
Schlacht von Sarıkamı?
um die Jahreswende loste letztlich ein Vorgehen der osmanischen Regierung gegen die Armenier aus, da diese als Verbundete und Unterstutzer des
christlich-orthodoxen
Zarenreiches betrachtet wurden. Im Gefolge dieser als Volkermord an den Armeniern bekannt gewordenen Vorgange kam es zur Verfolgung auch der syrischen Christen. Anders als im Fall der Armenier durften die Massaker an den syrisch-orthodoxen Christen nicht Teil einer zentralen Regierungspolitik gewesen sein, sondern waren von den Gouverneuren der Provinzen Van und Diyarbakır provoziert oder unterstutzt worden. Letzterer war vielmehr durch den Innenminister Talat Bey angewiesen, diese nicht wie die Armenier zu behandeln
[7]
? eine Anweisung, die jedoch folgenlos blieb.
Der Gouverneur von Van fuhrte nach der Schlacht bei Sarıkamı? mit kurdischen Stammeskriegern eine Invasion in dem benachbarten Iran durch. Das dortige Gebiet war von russischen Truppen besetzt gewesen, die Russen hatten aber ihre Truppen wegen der Schlacht bei Sarıkamı? weitgehend abgezogen. Im Gebiet von Urmia lebte eine großere Anzahl von Christen, die hauptsachlich dem in Hakkari residierenden nestorianischen Patriarchen
Mar Benyamin Shimun
unterstanden. Aus diesen Nestorianern hatten die Russen wahrend der Besatzung auch Hilfstruppen rekrutiert. Beim
Vorstoß der osmanischen Armee nach Urmia
wurden 1915 zehntausende dieser Christen vertrieben oder getotet.
[8]
Dabei kamen rund 47.000 Christen, Heinsohn bezeichnet sie als Assyro-Chaldaer, um.
[9]
Hakkari gehorte damals zur Provinz Van. Das Verhaltnis zwischen dem Gouverneur und dem nestorianischen Patriarchen verschlechterte sich infolge des Misstrauens und der Feindseligkeiten des Gouverneurs und als ungerechtfertigt empfundener Requirierungen immer mehr, bis im Juni 1915 der Patriarch dem Osmanischen Reich den Krieg erklarte. Der Patriarch war das Oberhaupt der sogenannten Bergnestorianer, die eine ihren kurdischen Nachbarn ahnlich soziale Stammesstruktur und Lebensweise aufwiesen. Bereits im September musste der Patriarch mit seinem Volk nach Persien fliehen. Dort wurde er im Marz 1918 in einem Hinterhalt des Kurdenfuhrers
Simko Schikak
ermordet. Sein Nachfolger fuhrte die ca. 60.000 Uberlebenden nach
Baquba
im Irak, von wo sie die Briten im Norden ihres Mandatsgebiets Mesopotamien ansiedelten. Sie rekrutierten aus ihnen wieder Hilfstruppen. Nach der Unabhangigkeit fiel ein großer Teil dieser nun so genannten Assyrer erneuten Massakern zum Opfer. Ein Teil der Uberlebenden ging nach Syrien, wo sie, nunmehr auch als
Chabur-Assyrer
bezeichnet, 36 Dorfer am
Chabur
grundeten.
[10]
In der Provinz Diyarbakır lag der
Tur Abdin
, ein Hauptsiedlungsgebiet der westsyrischen Christen, der Anhanger der
Syrisch-Orthodoxen Kirche
, deren Patriarch in
Mardin
residierte. Auch dort war die soziale Struktur und Lebensweise denen der benachbarten Kurden vergleichbar. Bis ins 19. Jahrhundert waren die dortigen, tribal organisierten Christen nahezu unabhangig und zahlten dem osmanischen Staat keine Steuern. Sie waren aber fortwahrenden Angriffen der kurdischen Emire von
Cizre
ausgesetzt, die sie zu unterwerfen trachteten. Kirchlich waren die Christen dort in zahlreiche Patriarchate und Gegenpatriarchate gespalten; die Errichtung eines einzigen von der osmanischen Regierung anerkannten Patriarchats markiert den Beginn der staatlichen Kontrolle uber das Gebiet.
[11]
Geduldet und aufgestachelt durch den Gouverneur kam es zu Ubergriffen, Plunderungen und Vertreibungen durch kurdische Milizen, zum Brechen des Widerstandes wurde auch die regulare Armee eingesetzt.
Weniger betroffen war die Gruppe der Angehorigen der
Chaldaisch-katholischen Kirche
. Der Sitz ihres Patriarchen und ihr Hauptsiedlungsgebiet lag in der Provinz
Mosul
.
Verlassliche Opferzahlen existieren nicht. Die Zahlenangaben zu den assyrisch-aramaischen Opfern schwanken ahnlich wie beim Armenier-Genozid stark und reichen von 100.000 bis 250.000.
[12]
[13]
Daruber hinausgehende Opferzahlen beruhen auf der unreflektierten Ubernahme von Angaben der Delegationen der betroffenen Volksgruppen bei den
Pariser Friedensverhandlungen
.
[14]
Die meisten Schatzungen aus den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg sprechen von einer Gesamtbevolkerung syrischer Christen von 500.000 bis 600.000.
[15]
Die Opferzahl unter assyrischen/aramaischen syrisch-orthodoxen Christen in Syrien wird fur den Gesamtzeitraum von 1914 bis 1918 auf 90.000 geschatzt, allein in
Midyat
wurden uber 25.000 Assyrer/Aramaer ermordet.
[16]
[13]
Viele der Opfer starben wie die Armenier bei Todesmarschen in die
Syrische Wuste
an Durst, Hunger, Erschopfung oder Misshandlungen.
[17]
Einige Christen konnten mithilfe auslandischer Missionare oder ihrer turkischen oder kurdischen Freunde und Nachbarn gerettet werden.
Der Volkermord an den Aramaern und Chaldaern ist einer der am wenigsten bekannten der modernen Geschichte.
[18]
Die Heterogenitat der betroffenen Volksgruppen in wirtschaftlich unbedeutendem Grenzland fuhrte zu einer Vielzahl an lokalen Erfahrungen und selektiven Erinnerungen. Das Gesamtgeschehen des Volkermords zersplitterte so in einzelne, regionale Narrative im Schatten des weit großeren Genozids an den Armeniern. Uberlebende berichteten oft nur von lokalen Konflikten mit Nomaden oder muslimischen Fanatikern. Die Grunde und Zusammenhange fur Vertreibung und Massaker blieben in dieser lokalen Dimension verborgen.
[4]
Die turkische Regierung leugnet den Volkermord,
wie im Falle der Armenier
.
[19]
Eine internationale Anerkennung des Geschehens, vergleichbar mit dem Genozid an den Armeniern, gibt es bislang nicht. Das liegt an mehreren Faktoren: an der geringeren Zahl und dem eher kleinen Einfluss der Gemeinschaft in der Welt, am Fehlen eines eigenen Staates, an der Repression in Irak, Iran, Syrien und der Turkei, aber auch an fehlenden Quellen uber die Geschehnisse, die sonst fast durchwegs turkischen oder armenischen Ursprungs sind.
[20]
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