Julian Jaynes
(*
27. Februar
1920
in
Newton (Massachusetts)
; †
21. November
1997
in
Charlottetown
,
Prince Edward Island
) war ein US-amerikanischer
Psychologe
. Weltweit bekannt wurde er durch sein Buch ?Der Ursprung des Bewusstseins durch den Zusammenbruch der
bikameralen Psyche
“.
Jaynes war das erste von drei Kindern eines
unitarischen
Geistlichen, der 37 Jahre lang in seiner Geburtsstadt Newton wirkte. Fruh fasziniert von den Fragen nach Art und Herkunft des menschlichen
Bewusstseins
begann Jaynes 1940 an der benachbarten
Bostoner
Harvard University
Philosophie und Literatur zu studieren.
1943 wechselte er an die
McGill University
nach
Montreal
,
Kanada
, wo er, enttauscht von der traditionellen
Philosophie
, sich der Psychologie zuwandte. Nach einer kurzen Dozententatigkeit Ende 1944 an der Universitat von
Toronto
, setzte er 1945 seine Studien an der
Yale University
fort. Hier erwarb er 1948 seinen
Master
-Titel und arbeitete anschließend als Forschungsassistent. Karriere machte er ab 1964 an der
Princeton University
, an der er von 1966 bis 1990 Psychologie lehrte.
Vor der Publikation seines Hauptwerks, das die Ergebnisse von drei Jahrzehnten vielseitiger Forschungen prasentiert, veroffentlichte Jaynes nur wenige verhaltens- und neuropsychologische sowie historische Studien. Selbst seine Magisterarbeit uber
Pragungslernen in der Interaktion zwischen gelerntem und angeborenem Verhalten
arbeitete er erst nach Erscheinen seines Buches und nur auf Drangen von Kollegen zu einer formalen Dissertation aus, so dass er schließlich im Jahre 1978 und damit zwolf Jahre nach Aufnahme seiner Professur in Princeton von Yale seinen
Doctor of Philosophy
verliehen bekam.
Seine spateren Arbeiten galten der Erlauterung und Diskussion seiner Uberlegungen und Thesen zur evolutionaren Entwicklung des menschlichen Bewusstseins, die er in einem
Nachwort
zu dem 1990 erschienenen Nachdruck seines Buches noch einmal zusammenfasste. Sie waren fur die bis dahin entwickelten akademisch akzeptierten Ansichten zu diesem Thema derart provokant, dass nur wenige Wissenschaftler sie nachvollziehen mochten oder konnten. Jaynes geriet dadurch auch personlich in zunehmende Isolation. Sie hat ihn offenbar stark belastet: In den vierzehn Jahren bis zu seinem Herzinfarkt hat er ein bis zuletzt angekundigtes weiteres Buch mit dem Titel
The Consequences of Consciousness
allem Anschein nach nicht einmal als Manuskript fertiggestellt. Hier wollte Jaynes die Folgen des allgemeinen Bewusstseinswandels, der nach seinen Ergebnissen in unserem Kulturraum erst vor gut 3000 Jahren eingesetzt haben soll, diskutieren.
1976 veroffentlichte Jaynes sein Hauptwerk
The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind
. Er unternimmt darin den Versuch, Ursprung und Entwicklung des menschlichen Bewusstseins im Verlauf der Menschheitsgeschichte anhand einer zentralen, im Titel angezeigten These zu rekonstruieren: Die Entstehung des Bewusstseins aus einer Struktur, die er die
bikamerale Psyche
nennt. Spuren dieser Vorstufe des heutigen Bewusstseins findet er dabei u. a. bei
Homer
und im
Alten Testament
, aber auch in Phanomenen wie
Hypnose
oder
Schizophrenie
.
Die Hauptthese von Julian Jaynes, die er selbst
preposterous
(?absonderlich“) nennt, besagt:
Bewusstsein
hat sich in historisch nachweisbarem Ausmaß erst in dem Jahrtausend vor der
klassisch-griechischen Hochkultur
entwickelt, etwa zwischen 1300 und 700 v. Chr. Die Menschen vor dieser Zeit hatten kein Bewusstsein, das heißt im Sinne Jaynes’ kein
autonomes
Selbst
im heutigen Sinn.
Der intellektuelle Reiz von Jaynes’ Thesen zur Bewusstseinsentwicklung liegt u. a. darin, dass seine Deutung historischer Texte einen originellen Blick auf solche psychische Erscheinungen ermoglicht, die heute als psychische Storungen aufgefasst werden: Stimmen-Horen als Symptom einer
Schizophrenie
wird so von ihm als Relikt, wenn nicht Ruckfall auf eine fruhere Stufe der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins gedeutet.
Das gravierende intellektuelle Problem im Umgang mit seinen Thesen zum Bewusstsein hat Jaynes selbst treffend so formuliert: ?Fur uns mit unserer Subjektivitat ist es unmoglich nachzuempfinden, wie das ist.“
Julian Jaynes ist es trotz oder vielleicht sogar wegen des publizistischen Erfolges seines Buches offenbar nicht gelungen, dass seine Thesen und Uberlegungen fachlich genugend ernst genommen und wissenschaftlich diskutiert und uberpruft wurden. Dazu mag beigetragen haben, dass er sich bei seinen psychologischen Herleitungen weit uberwiegend auf Dokumente verschiedenster historischer Wissenschaften stutzte, dagegen kaum Erkenntnisse aus der
Entwicklungspsychologie
fur seine Thesen nutzbar zu machen versuchte.
Die Radikalitat seiner Erkenntnisse war Jaynes durchaus bewusst, legte er doch nahe, dass er sie auf einer Ebene mit der
Evolutionstheorie
und der
Relativitatstheorie
ansiedelte. In Tieren und Kindern bloße Automaten zu sehen, war seit
Descartes
keine populare Ansicht mehr. Jaynes selbst bezeichnete sich auch als ?
Neo-Behaviouristen
“. Schmerz, zum Beispiel, reduziert sich auf Schmerzverhalten, nur dass beim bewussten Menschen das Schmerzverhalten mit dem analogen Ich noch einmal wahrgenommen wird.
1984 trug Jaynes seine Thesen auf einem
Wittgenstein
-Symposium vor, in der Annahme, dort auf Geistesverwandte zu treffen. (Wittgenstein fragte zum Beispiel ironisch, ob ein Hund zu ehrlich sei, weil er nicht heuchelt.) Allerdings erzielte er keine große positive Resonanz. Der einzige bedeutende Philosoph, der Jaynes ernst genommen hat, durfte
Daniel Dennett
[1]
sein. Der Medienwissenschaftler
Norbert Bolz
bezeichnet Julian Jaynes als einen ?zu Unrecht vergessenen“ Denker.
[2]
Einige Ausdrucksweisen konnten weitere Hurden darstellen, wenn dadurch etwa
Grazisten
zu der Auffassung gekommen waren, Jaynes habe die Helden der antiken
Epen
zu psychisch gestorten Individuen erklart.
Gelitten haben seine Thesen vielleicht auch unter einigen spekulativen Uberlegungen zu der einst angeblich andersartigen Zusammenarbeit der
Hirnhemispharen
, mit denen Jaynes seine These von der Bikameralitat der vorbewussten oder vorreflexiven Bewusstseinsstruktur zu untermauern suchte. Mit diesen Ansatzen zu einer
Neurophysiologie
des archaischen Menschen wollte Jaynes begrunden, dass und wie Menschen Erfahrungen verarbeiten konnten, die noch kein Wissen oder Bewusstsein davon ausgebildet hatten, dass es sich auch bei spontan auftauchenden Erinnerungen, Einfallen und Traumen um Vorstellungen handelt, die sich zwar automatisch und nach speziellen Gesetzen der Assoziation bilden und insofern autonom entstehen, die aber gleichwohl selbstproduziert sind. Allerdings hat Jaynes auch die einschlagige psychologische Literatur uber unbewusste psychische Ablaufe kaum verwertet. So wurde er weder in der
Hirnforschung
in nennenswertem Umfang rezipiert, noch in der
Psychiatrie
, der
Psychologie
, oder der
Philosophie
.
In der Bibliographie von
Raoul Schrotts
Die Erfindung der Poesie
(1997) wird Jaynes’ Hauptwerk an prominenter Stelle erwahnt.
- The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind.
Houghton Mifflin, Boston/New York 1976,
ISBN 0-395-20729-0
; mit umfangreichen Nachwort als
A Mariner Book,
ebd. seit 1990; 2000,
ISBN 978-0618057078
.
- Marcel Kuijsten (Ed.):
Reflections on the Dawn of Consciousness.
Julian Jaynes’s Bicameral Mind Theory Revisited. Julian Jaynes Society, Henderson 2007,
ISBN 978-0979074400
,
Erlauterungen des Verlags.
- Marcel Kuijsten (Ed.):
The Julian Jaynes Collection.
Julian Jaynes Society, Henderson 2012.
- Stimmen von rechts Julian Jaynes: Der Ursprung des Bewußtseins
. In:
Der Spiegel
.
Nr.
51
, 1988 (
online
).
- ↑
Julian Jaynes’s Software Archeology.
In: Daniel Dennett:
Brainchildren: essays on designing minds.
1998,
ISBN 0-262-04166-9
.
- ↑
Norbert Bolz:
Das richtige Leben.
SWR2 Essay, 18. November 2013,
abgerufen am 1. Juni 2022
(deutsch).