Laurent Schwartz
(*
5. Marz
1915
in
Paris
; †
4. Juli
2002
ebenda) war ein franzosischer
Mathematiker
und Trager der
Fields-Medaille
. Er gilt als Begrunder der Theorie der
Distributionen
.
Laurent Schwartz war der Sohn des Chirurgen Anselme Schwartz, der nach der Annexion des
Elsass
durch das Deutsche Reich nach Paris zog und dort der erste offiziell angestellte judische Chirurg an einem Pariser Hospital wurde. Der Onkel von Laurent Schwartz,
Robert Debre
, war Grunder von
UNICEF
und
Jacques Hadamard
sein Großonkel.
Schwartz gewann die allgemeinen Zulassungsprufungen (Concours Generale) zu den Grand Ecoles in Latein, studierte dann aber ab 1934 an der
Ecole normale superieure
Mathematik (Agregation de Mathematiques 1937). 1938 heiratete er
Marie-Helene Levy
, Tochter des Mathematikers
Paul Levy
. Nachdem die deutsche
Wehrmacht
Frankreich 1940 erobert hatte, war Schwartz als
Trotzkist
und Jude in Lebensgefahr. Er benutzte Aliasnamen (u. a. Laurent-Marie Selimartin). Seine Frau nannte sich Lenge. 1943 erhielt Schwartz seinen
Doktor
von der
Universitat Straßburg
, die damals nach
Clermont-Ferrand
evakuiert war, wo er in der Nahe halb untergetaucht lebte.
In Clermont-Ferrand kam Schwartz unter den Einfluss von Mitgliedern der Mathematikergruppe
Bourbaki
(unter anderem
Jean Dieudonne
,
Jean Delsarte
,
Henri Cartan
). 1944/45 war er an der Universitat (Faculte de Science) in
Grenoble
und nach dem Krieg zuerst Professor an der
Universitat Nancy
, die Dieudonne und Delsarte zu einem mathematischen Zentrum der Bourbakisten machten, zu denen auch Schwartz gehorte. Ab 1952 lehrte er in Paris an der
Sorbonne
und ab 1959 an der
Ecole polytechnique
, an der er bis 1980 war und den Unterricht und die Ausrichtung in Richtung auf wissenschaftliche Forschung reformierte ? davor war es in erster Linie eine (dem Militar unterstehende) Ingenieursschule und Karrieresprungbrett fur die franzosische Elite. In einem weiteren Anliegen, die Aufnahmekriterien fur franzosische Universitaten zu verscharfen, war er weniger erfolgreich. Danach war er bis zu seiner Emeritierung 1983 an der
Universitat Paris VII
.
Zu Schwartz' Doktoranden zahlen
Alexander Grothendieck
,
Louis Boutet de Monvel
,
Jacques-Louis Lions
,
Bernard Malgrange
,
Andre Martineau
,
Francois Treves
,
Gilles Pisier
.
Schwartz' Ehefrau
Marie-Helene Schwartz
war ebenfalls Mathematikerin und eine der ersten Frauen, die an der Ecole Normale Superieure studierten. Ihre gemeinsame Tochter Claudine Robert ist Professorin fur Statistik in
Grenoble
. Schwartz bezeichnete sich selbst als Atheisten.
[1]
Schwartz besaß eine der großten privaten Schmetterlingssammlungen, die er großtenteils Museen stiftete. Mehrere Schmetterlingsarten sind nach ihm benannt.
In den Jahren nach dem Krieg entwickelte Schwartz seine Theorie der
Distributionen
, verallgemeinerten Funktionen, die er noch wahrend des Krieges entdeckte (November 1944).
[2]
Fur diese Arbeit erhielt er 1950 die
Fields-Medaille
auf dem
Internationalen Mathematikerkongress
in
Cambridge (Massachusetts)
, wo er auch einen Plenarvortrag hielt (
Theorie des Noyaux
).
Die Theorie der Distributionen hatte Vorganger in den von
Oliver Heaviside
und
Paul Dirac
in der Physik eingefuhrten Funktionen und auch einige mathematische Vorlaufer zum Beispiel bei
Salomon Bochner
. Insbesondere wurde das Konzept auch in den 1930er Jahren in der Sowjetunion von
Sobolew
im Rahmen des Cauchy-Problems linearer hyperbolischer partieller Differentialgleichungen entwickelt. Schwartz selbst kannte Sobolews Arbeiten nicht und war in erster Linie durch Vorlesungen von
Jean Leray
[3]
1934/35 am
College de France
uber
schwache Losungen
partieller Differentialgleichungen und die Arbeiten
Andre Weils
uber Integration auf lokalkompakten topologischen Gruppen beeinflusst. Er baute die Theorie mit der besonders von den Bourbakisten entwickelten Theorie
topologischer Vektorraume
aus. Schwartz selbst wandte Distributionen zusammen mit
Georges de Rham
auf Differentialformen auf Mannigfaltigkeiten (de Rham's Konzept der Strome) und auch in der Quantenfeldtheorie an. Spater wandte Schwartz sich der Wahrscheinlichkeitstheorie, genauer der
stochastischen Analysis
, zu (zum Beispiel
Semimartingale
auf Mannigfaltigkeiten), fur die er sich schon fruh seit Gesprachen mit seinem Schwiegervater Paul Levy interessierte.
Neben der Fields-Medaille erhielt er mehrere Preise der franzosischen Akademie der Wissenschaften und war Ehrendoktor in Berlin, Brussel, Lund, Tel Aviv, Montreal und Athen. 1972 wurde er Mitglied der franzosischen
Academie des sciences
. 1962 war er Prasident der
Societe Mathematique de France
.
Schwartz war ein sehr politischer Mensch, der sich zum Beispiel in den 1930er und 1940er Jahren bei den Trotzkisten engagierte, da er seit den
Moskauer Schauprozessen
der 1930er Jahre ein bekennender Anti-Stalinist war. 1956 engagierte er sich offentlich wahrend des
Ungarischen Aufstands
gegen die sowjetische Besatzung. Sein politisches Engagement fuhrte 1962 zu einem einjahrigen
Exil
in
New York
:
[4]
Maurice Audin
, ein Mathematik-Doktorand an der Universitat Algier, algerischer Kommunist und Gegner der franzosischen Herrschaft in
Algerien
, wurde 1957 vom franzosischen Militar entfuhrt und zu Tode gefoltert.
[5]
Laurent Schwartz bemuhte sich vergeblich um eine genaue Untersuchung des Falls, sorgte fur eine posthume Promotion von Audin und wurde nach der Affare einer der Unterzeichner des
Manifest der 121
, einer Erklarung, die militarischen Ungehorsam in Algerien forderte. Er schrieb das Vorwort
[6]
zum Buch
L’Affaire Audin
(1958) von
Pierre Vidal-Naquet
. Daraufhin wurde er seiner Professur (die Ecole Polytechnique unterstand dem Armeeminister) enthoben, allerdings erhielt er sie nach zwei Jahren zuruck. Auch spater setzte er sein politisches Engagement fort, zum Beispiel fur politisch verfolgte Mathematiker in allen Teilen der Welt, gegen den
Vietnamkrieg
und die
Invasion der Sowjetunion in Afghanistan
.
- Un mathematicien aux prises avec le siecle
. Paris 1997, Autobiographie, englische Ubersetzung:
A mathematician grappling with his century
. Birkhauser, 2001,
ISBN 3-7643-6052-6
.
- Theorie des Distributions
. Hermann, 2 Bande, 1950/1951, Neuauflage 1966.
- Tenseurs
. Hermann, 1975.
- Analyse
. Hermann, 1998.
- Analyse hilbertienne
. Hermann, 1979.
- Cours d’Analyse
. Hermann, 1981.
- Analyse mathematiques
. 2 Bande, Hermann, 1967.
- Etude des sommes d’exponentielles
. Hermann, 1959.
- Mathematics for the physical sciences
. Hermann, 1966, deutsche Ubersetzung:
Mathematische Methoden der Physik
. BI Hochschultaschenbucher, 1974.
- Application of distributions to the theory of elementary particles in quantum mechanics
. Gordon and Breach, 1968, 1988.
- Semi-martingales and their stochastic calculus on manifolds
. Presse de l’Universitaire de Montreal, 1984.
- Semi-martingales sur des varietes et martingales conformes sur des varietes analytiques complexes
. Springer, 1980.
- Geometry and probability in Banach Spaces
. Springer, 1981.
- Radon measures on arbitrary topological spaces and cylindrical measures
. Oxford University Press, 1973 (Tata Lectures).
- Lectures on complex analytic manifolds
. Springer, 1986 (Vorlesungen am Tata Institut, Bombay 1955.)
- Pour sauver l’universite
. Editions du Seuil, 1983.
- Seminaire Schwartz in Paris 1953 bis 1961
. Online-Ausgabe:
numdam.org
- John J. O’Connor,
Edmund F. Robertson
:
Laurent Schwartz.
In:
MacTutor History of Mathematics archive
(englisch).
- Francois Treves, Gilles Pisier, Marc Yor:
Laurent Schwartz
, Notices AMS 2003, PDF
- K. Chandrasekharan, Besprechung der Autobiographie von Schwartz, Notices AMS, 1998, PDF
- Guichardet zu Laurent Schwartz und der Ecole Polytechnique, (franzosisch)
- ↑
Laurent Schwartz:
A Mathematician Grappling With His Century.
Birkhauser, Basel/Boston/Berlin 2000,
ISBN 978-3-7643-6052-8
, S. 193. Zitat: ?Meine Eltern waren Atheisten, ich war Atheist, ich fuhlte mich nie wirklich als Jude.“
- ↑
Laurent Schwartz:
Generalisation de la notion de fonction, de derivation, de transformation de Fourier et applications mathematiques et physiques.
In:
Annales de l'Universite de Grenoble.
Band 21, 1945, S. 57?74 (
PDF
; 1,4 MB), auf Archive.Numdam.org, abgerufen am 26. August 2019.
- ↑
der die Erfindung der Distributionen stets Sobolew zuschrieb
- ↑
Laurent Schwartz:
A Mathematician Grappling With His Century.
S. 355.
- ↑
Brigitte Vital-Durant:
L’affaire Audin, un mensonge d’Etat.
In:
Liberation
,
12. Juni 2001, abgerufen am 26. August 2019 (franzosisch).
- ↑
Redaktion:
Pierre Vidal-Naquet contre la torture
. In: Sylvie Anne Goldberg (Hrsg.):
Histoire juive de la France
. Editions Albin Michel/Centre national du livre/Fondation du Judaisme Francais, Paris 2023,
ISBN 978-2-226-44803-3
,
S.
776
.
1936:
Lars Valerian Ahlfors
,
Jesse Douglas
|
1950:
Laurent Schwartz
,
Atle Selberg
|
1954:
Kodaira Kunihiko
,
Jean-Pierre Serre
|
1958:
Klaus Friedrich Roth
,
Rene Thom
|
1962:
Lars Hormander
,
John Milnor
|
1966:
Michael Atiyah
,
Paul Cohen
,
Alexander Grothendieck
,
Stephen Smale
|
1970:
Alan Baker
,
Heisuke Hironaka
,
Sergei Nowikow
,
John G. Thompson
|
1974:
Enrico Bombieri
,
David Mumford
|
1978:
Pierre Deligne
,
Charles Fefferman
,
Grigori Margulis
,
Daniel Quillen
|
1982:
Alain Connes
,
William Thurston
,
Shing-Tung Yau
|
1986:
Simon Donaldson
,
Gerd Faltings
,
Michael Freedman
|
1990:
Vladimir Drinfeld
,
Vaughan F. R. Jones
,
Shigefumi Mori
,
Edward Witten
|
1994:
Jean Bourgain
,
Pierre-Louis Lions
,
Jean-Christophe Yoccoz
,
Efim Zelmanov
|
1998:
Richard Borcherds
,
Timothy Gowers
,
Maxim Konzewitsch
,
Curtis McMullen
|
2002:
Laurent Lafforgue
,
Wladimir Wojewodski
|
2006:
Andrei Okunkow
,
Grigori Perelman
,
Terence Tao
,
Wendelin Werner
|
2010:
Elon Lindenstrauss
,
Ngo B?o Chau
,
Stanislaw Smirnow
,
Cedric Villani
|
2014:
Artur Avila
,
Manjul Bhargava
,
Martin Hairer
,
Maryam Mirzakhani
|
2018:
Caucher Birkar
,
Alessio Figalli
,
Peter Scholze
,
Akshay Venkatesh
|
2022:
Hugo Duminil-Copin
,
June Huh
,
James Maynard
,
Maryna Viazovska