Gender-Symbol
fur Intergeschlechtlichkeit
Flagge
fur Intergeschlechtlichkeit (Morgan Carpenter, 2013)
Intergeschlechtlichkeit
oder
Intersexualitat
, auch
Zwischengeschlechtlichkeit
, bezeichnet die biologische Besonderheit von Menschen, deren
korperliche Geschlechtsmerkmale
nicht
eindeutig
als
weiblich
oder
mannlich
einzuordnen sind.
[1]
[2]
[3]
[4]
Intergeschlechtliche bzw. intersexuelle Menschen werden wegen dieser Abweichung haufig
pathologisiert
, obwohl sie meist gesund sind,
[5]
[6]
und bereits Kinder werden
genitalverandernden Operationen
unterzogen, um sie der
Norm
anzupassen.
[7]
[8]
Sie erleben haufig
Diskriminierung
, weshalb viele ihre Intergeschlechtlichkeit bzw. Intersexualitat verstecken.
[5]
[9]
Geschlechtliche korperliche Besonderheiten konnen etwa auf der
chromosomalen
,
gonadalen
,
hormonellen
oder
anatomischen
Ebene auftreten. Medizinisch wird Intergeschlechtlichkeit den sogenannten ?Varianten der Geschlechtsentwicklung“
[10]
zugerechnet (
englisch
disorders of sex development
: DSD). Die medizinische Klassifikation wandelt sich stetig und wird innerhalb und außerhalb der Wissenschaft immer wieder kontrovers diskutiert.
[11]
Schatzungen der Haufigkeit sind schwierig und zwischen verschiedenen Forschern umstritten, weil die jeweils verwendeten Definitionen stark voneinander abweichen. Angegeben werden Großenordnungen zwischen einem Fall bei ca. 4500 bis 5500 Neugeborenen bis hin zu einem Fall bei 1200 bis 1300 Neugeborenen.
[3]
[12]
Fur manche gilt aber auch das
PCO-Syndrom
, das alleine etwa 4 % bis 12 % aller nach der Geburt als weiblich eingeordneten Menschen betrifft, als intergeschlechtlich.
[13]
Dies zeigt, dass Schatzungen davon abhangen, was genau als intergeschlechtlich definiert wird und was als ?normale“ weibliche bzw. mannliche Biologie gilt.
[14]
Fur die Definierung solcher Normen wird dem medizinischen Bereich viel Geltungshoheit eingeraumt.
[15]
In Deutschland ist es seit 2018 moglich, ?
divers
“ als Geschlecht in das
Personenstandsregister
einzutragen. Zuvor war es seit 2013 bereits moglich, auf einen Geschlechts-Eintrag zu verzichten. ?Intergeschlechtlichkeit“ ist keine
Geschlechtsidentitat
und je nach individuellem Geschlechtsempfinden nehmen sich intergeschlechtliche Menschen als
weiblich
,
mannlich
oder
nicht-binar
wahr.
[16]
Im
deutschen Sprachraum
bevorzugen viele Personen den Begriff ?Intergeschlechtlichkeit“ anstatt dem veralteten medizinischen Fachbegriff ?Intersexualitat“, da dieser das potentielle Missverstandnis vermeide, es handele sich um eine
sexuelle Orientierung
, und den Bezug zum
biologischen Geschlecht
betone.
[17]
[18]
[19]
Als Gegenbegriff zu ?intergeschlechtlich“ bzw. ?intersexuell“ wurde der Begriff ?endogeschlechtlich“ bzw. ?endosexuell“ gepragt.
[20]
Wie die Begriffe ?intersex“ / ?Intersexualitat“ gepragt wurden
[21]
Die Bezeichnung
Intersexualitat
pragte 1915 der Genetiker
Richard Goldschmidt
.
[22]
[23]
Er setzt sich zusammen aus dem
lateinischen Prafix
inter-
fur ?zwischen‘ und dem
lateinischen
sexus
fur ?Geschlecht‘ und bedeutet (korperliche) ?Zwischengeschlechtlichkeit‘, ein spatestens seit den 1920/1930er Jahren verwendeter Begriff. Goldschmidt verwies damit auf geschlechtliche Erscheinungsformen, die er als Mischungen zwischen idealtypischen mannlichen und weiblichen Phanotypen betrachtete. Diese erklarte er durch eine spezielle genetische Theorie, die von einer prekaren Balance zwischen
Mannlichkeits-
und
Weiblichkeitsbestimmern
ausgeht.
[24]
Goldschmidts Theorie wurde bis in die 1950er Jahre hinein in der deutschen medizinischen Literatur zitiert, wenn auch der Terminus
Intersexualitat
in unterschiedlicher Bedeutung Verwendung fand.
[25]
[23]
Spatere medizinische Nomenklaturen vermischten eine Einteilung anhand der Chromosomen mit der alteren Klassifikation anhand der
Keimdrusen
, die auf drei Kategorien beruhte:
Hermaphroditismus
, weiblicher
und
mannlicher
Pseudohermaphroditismus
. Im Oktober 2005 fand in
Chicago
, USA, eine Konsensuskonferenz der Lawson Wilkins Pediatric Endocrine Society (LWPES) und der European Society for Paediatric Endocrinology (ESPE) statt, auf der ein
Consensus Statement on management of intersex disorders
verabschiedet wurde. Dieses empfahl, anstelle der bisherigen Begriffe
Intersexualitat
oder
Hermaphroditismus
die Bezeichnung
?Disorders of sex development“ (DSD)
zu verwenden.
[26]
In fruheren Leitlinien wurde dies zunachst wortlich ubersetzt als ?Storungen der Geschlechtsentwicklung“ ins Deutsche ubernommen.
[27]
Jedoch kritisierten intergeschlechtliche Menschen, dass Intergeschlechtlichkeit damit als Storung oder Krankheit bezeichnet wurde. Die Bundesarztekammer fuhrte daraufhin begleitend den Begriff ?Varianten“ ein.
[28]
[27]
In der aktuellen medizinischen Leitlinie der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (
AWMF
) wird nur noch der Begriff ?Varianten der Geschlechtsentwicklung“ verwendet, ?da der Begriff ?disorders‘ (Storung) eine Pathologie impliziert“, wie auch in der Leitlinie festgestellt wird.
[10]
Im bundesdeutschen
Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung
von 2021 wird ebenfalls nur noch der Begriff ?Varianten“ verwendet.
[29]
Aktuelle Forschungsprojekte zu Intergeschlechtlichkeit in Deutschland (Stand 2023) wurden von der Universitat Hamburg, der Ruhr-Universitat Bochum sowie vom Studienzentrum der EKD fur Genderfragen in Kirche und Theologie durchgefuhrt.
[30]
Aus dem Projekt der Ruhr-Universitat Bochum ist das Online-Portal Inter-NRW hervorgegangen, welches ein umfangreiches Glossar zum Thema veroffentlicht hat.
[31]
Auf der Webseite zum Forschungsprojekt der Universitat Hamburg heißt es: ?Inzwischen wird
Intersexualtitat
vom Begriff
Intergeschlechtlichkeit
abgelost. Im Englischen findet der Begriff
Intersex
Verwendung“.
[32]
In aktuellen wissenschaftlichen Arbeiten wie dem Abschlussbericht ?Intersexualitat In NRW“ oder dem ?Handbuch Interdisziplinare Geschlechterforschung“ wird in der Begrundung der verwendeten Terminologie auf Veroffentlichungen von Selbstvertretungs-Verbanden wie die Broschure ?Inter* und Sprache“ des TransInterQueer-Projekts ?Antidiskriminierungsarbeit & Empowerment fur Inter*“ verwiesen.
[33]
[34]
Organisationen wie die Internationale Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen (IVIM) (deutsche Sektion des weltweiten Netzwerks
Organization Intersex International
OII) und der Verein Intergeschlechtliche Menschen kritisieren die Bezeichnung ?DSD“ (s. o.) als pathologisierend und sexistisch.
[35]
Auch die
Bundesarztekammer
spricht seit 2015 von ?Varianten/Storungen der Geschlechtsentwicklung“, um eine aus Sicht der Betroffenen diskriminierende Pathologisierung zu vermeiden.
[36]
[37]
Menschen, deren korperliche Geschlechtsmerkmale nicht der weiblichen oder mannlichen Norm entsprechen, bezeichnen sich selbst zum Beispiel als
intergeschlechtliche Menschen
, als
intergeschlechtliche Frau
oder
intergeschlechtlicher Mann
, als
diverse Person
oder auch als
intergeschlechtlich geborene Person
.
[38]
Verwendet wird auch die Schreibweise
inter*
, wobei das
Sternchen *
fur die genannten und weitere mogliche Selbstbezeichnungen steht.
[39]
Das
Sternchen
soll auch Raum fur weitere Selbstbezeichnungen bieten sowie eine Alternative zu pathologisierender Sprache darstellen.
[40]
Manchmal findet sich auch die Bezeichnung
drittes Geschlecht
, die jedoch nicht von allen akzeptiert wird. Es lasst sich beobachten, dass intergeschlechtliche Menschen als Eigenbezeichnung verstarkt ? gerade auch als Antwort auf die aufgezwungene ?Storung“ ? wieder den historischen Begriff ?
hermaphrodite
“ benutzen.
[41]
Als politische Selbstbezeichnung (
Geusenwort
) ist teilweise auch
Herm
und
Zwitter
gebrauchlich.
[38]
Manche intergeschlechtlichen Menschen bezeichnen sich ebenso wie manche
trans
Menschen als zwischengeschlechtlich.
[42]
Der Begriff
sex
in Intersex leitet sich wie auch
Sexualitat
vom lateinischen Geschlechtsbegriff
sexus
ab (siehe oben). Sexualitat bedeutet hingegen nicht nur das biologische Erscheinungsbild (Geschlechtlichkeit), sondern kann unter anderem auch fur korperliche Aktionen, Handlungen oder Praktiken (
Sex
) stehen (
Sexualitat des Menschen
).
[43]
Die Ahnlichkeit der Begriffe ist also rein sprachlich bedingt, da sich Intersexualitat nur auf Aspekte des biologischen Geschlechts bezieht.
Durch den eventuell irrefuhrenden Bezug auf die
Sexualitat
, aber auch weil Intersexualitat (und sein englisches Pendant
intersex
) als Begriff medizinisch konnotiert sind, wird der Begriff von einigen als problematisch gesehen. Gruppierungen wie der Verein Intergeschlechtliche Menschen Landesverband Niedersachsen e. V. und der Intergeschlechtliche Menschen e. V. haben sich daher in den letzten Jahren umbenannt und die Endung -sexuell durch -geschlechtlich ersetzt.
[17]
[18]
[44]
Auch in vom Bund herausgegebenen Materialien wird mittlerweile zunehmend als deutsche Bezeichnung nur noch
intergeschlechtlich
und
inter*
genutzt.
[45]
[46]
[47]
[48]
Laut
Dan Christian Ghattas
werde ?[i]nnerhalb des menschenrechtskonformen, entpathologisierenden Diskurses […] Intergeschlechtlichkeit mittlerweile ubergreifend verwendet“.
[5]
Der Unterschied zwischen Inter- und Transgeschlechtlichkeit. Erklarvideo (41 sec)
Abzugrenzen ist die Intergeschlechtlichkeit von der
Transgeschlechtlichkeit
:
Bis vor Kurzem schlossen sich im medizinischen Bereich die Diagnose fur Intergeschlechtlichkeit bzw. ?Varianten der Geschlechtsentwicklung“ und ?Transsexualitat“ aus. Der Begriff Transsexualitat stammt aus der Mitte des 20. Jahrhunderts und entstammt insbesondere der medizinischen Debatte. Er wurde in den 1970er Jahren als Abgrenzung zu
Transvestismus
genutzt und definierte den Drang, das korperliche Geschlecht zu verandern.
[49]
Transsexuelle Menschen fuhlen sich einem anderen Geschlecht als dem bei der Geburt zugewiesenen zugehorig. Fur die medizinische
Diagnose
?Transsexualitat“ war Intergeschlechtlichkeit im inzwischen uberholten Diagnosehandbuch
ICD-10
daher formal ein Ausschlusskriterium.
Auch in der inzwischen abgelosten vierten Auflage des Diagnosehandbuchs
DSM
der
American Psychiatric Association
(
DSM-IV
), das in den USA, aber auch in weiteren Landern sowie international in der Forschung eingesetzt wird, schlossen sich Intergeschlechtlichkeit und ?Geschlechtsidentatsstorung“, welche hier bereits 1994 die Diagnose ?Transsexualitat“ abgelost hatte, gegenseitig aus. Dies wurde damit begrundet, dass die
Stigmatisierung
intergeschlechtlicher Menschen durch die Zuschreibung einer psychischen Storung zu vermeiden sei.
[50]
Eine solche Stigmatisierung von Trans wird inzwischen sowohl im
DSM-5
als auch in der
ICD-11
starker als zuvor vermieden. ?Transsexualitat“ wurde inzwischen auch im ICD abgelost und ist somit keine medizinische Diagnose mehr.
In der ICD-11 ist stattdessen nun die Diagnose ?
Geschlechtsinkongruenz
“ in Gebrauch, welche statt zuvor als Verhaltensstorung nun als eine
Condition related to Sexual Health
(dt. Zustand mit Bezug zur sexuellen Gesundheit) eingeordnet wird.
[51]
Das bereits 2013 veroffentlichte DSM-5 hatte mit ?
Genderdysphorie
“ ebenfalls eine Diagnose eingefuhrt, welche die bisherige Pathologisierung von trans Menschen verringern sollte
[52]
[53]
und neben binaren auch weitere Geschlechtsidentitaten einschließt.
[54]
Im DSM-5 schließen sich die Diagnosen ?Storung der Geschlechtsentwicklung“ (fur intergeschlechtliche Menschen) und ?Genderdysphorie“ erstmals nicht mehr aus.
[50]
Die Diagnose Genderdysphorie bezeichnet nun eine mit Leiden oder Beeintrachtigung einhergehende Unstimmigkeit zwischen dem nach der Geburt zugewiesenen Geschlecht und dem von einem
transgeschlechtlichen
oder intergeschlechtlichen Menschen als richtig empfundenen Geschlecht. Kritisiert wird aber weiterhin, dass intergeschlechtlichen Menschen mit ?Storung der Geschlechtsentwicklung“ uberhaupt eine Storung diagnostiziert wird, was als medizinisch nicht notwendige
Pathologisierung
gesehen wird.
[55]
[50]
[56]
Zunachst außerhalb des medizinischen Bereichs wurde der Begriff Transsexualitat zunachst vom Begriff
Transgender
bzw. Transgeschlechtlichkeit abgelost, der seit den 1990er Jahren gebrauchlich ist und auch Einzug in die klinische Praxis gefunden hat.
[54]
[57]
Er wurde unter anderem deshalb stark gemacht, um die Definitionsmacht von Staat und Medizin uber
queere
Menschen zu schwachen. Mit dem medizinischen Modell wurde auch der Anspruch, sich an ?normale“ Manner und Frauen angleichen zu mussen, kritisiert.
[49]
Seit 2010 wird zunehmend der Begriff Trans* verwendet. Das Spektrum von transgender sollte hiermit erweitert werden, etwa um Menschen einzuschließen, die eine streng binare Geschlechtszuweisung oder -kategorisierung bei sich ablehnen (vergleiche
Nichtbinare Geschlechtsidentitaten
).
[49]
Intergeschlechtliche Menschen konnen grundsatzlich auch trans sein. Die Existenz intergeschlechtlicher Menschen mit trans Empfindungen stellt allerdings die medizinische Diagnose ?Geschlechtsinkongruenz“ eventuell in Frage: Zum einen ist es schwierig, im Verhaltnis zum biologischen Geschlecht eine
Inkongruenz
festzustellen, wenn sich dieses biologische Geschlecht selbst nicht einfach in weiblich oder mannlich einordnen lasst. Geschlechtsinkongruenz konnte alternativ allerdings auch im Verhaltnis zum bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht bestimmt werden. In dem Fall stellt sich die Frage, ob man nicht die Geburtszuweisung hinterfragen mochte und somit statt von einer Inkongruenz eher von der Korrektur einer falschlichen Geburtszuweisung ausgehen sollte.
[50]
Die Diagnose kann Aspekte vernachlassigen, wie etwa die Tatsache, dass bei einer im Kindesalter durchgefuhrten
medizinischen Geschlechtsangleichung
die Inkongruenz
iatrogen
sein kann. Zudem konne Geschlechtsdysphorie auch als Ergebnis der starken Ablehnung, die intergeschlechtliche Menschen im Laufe ihres Lebens erfahren konnen, auftreten. Insofern sei es wichtig, Diagnosen wie Gender-Dysphorie nicht als psychische Erkrankung einzuordnen, sondern etwa als
Minority Stress
.
[58]
Wahrend es Uberschneidungen innerhalb der
LGBT
- und I-Bevolkerung gibt, identifizieren sich viele intergeschlechtliche Menschen aber auch mit dem Geschlechtseintrag nach der Geburt und sind somit
cisgender
.
[59]
Fur viele ist die Frage nach der geschlechtlichen Identitat aber auch komplex, weil sie mit der binaren gesellschaftlichen Geschlechterordnung in Konflikt steht.
Bei einer Kundgebung im Jahr 2018 fur die Schaffung eines dritten Geschlechtseintrags sind die
Flaggen
fur intergeschlechtliche, nichtbinare, genderqueere und transgeschlechtliche Menschen nebeneinander zu sehen
Wahrend in einigen Organisationen und Bundnissen trans- und intergeschlechtliche Menschen zusammenarbeiten, weil viele Gemeinsamkeiten gesehen werden, betonen andere intergeschlechtliche Menschen die Unterschiede fur ihre effektive
Interessenvertretung
. Gemein haben intergeschlechtliche und trans Interessengruppen die Forderung nach
Selbstbestimmung
:
[60]
Trans Menschen und Gutachter betonen, dass die Geschlechtsidentat eines Menschen nicht ?objektiv“ von außen, sondern nur durch die Person selbst bestimmt werden kann und dass daher Gatekeeping-Verfahren wie das
Transsexuellengesetz
uberflussig seien.
[61]
Intergeschlechtlichen Menschen ist wichtig, nicht-konsensuelle medizinische Eingriffe, insbesondere genitalverandernde Operationen im Kindesalter, zu beenden.
[50]
Sowohl inter* als auch trans* Menschen erleben zudem aufgrund ihrer Abweichung von ublichen Normalitatsvorstellungen Diskriminierung,
Anpassungsdruck an heterosexuelle Normen
, und eine Unterdruckung ihrer Trans- oder Intergeschlechtlichkeit.
[60]
Uneindeutigkeiten des Korpergeschlechts sind biologisch moglich, weil die
Geschlechtsorgane
beim weiblichen und mannlichen Embryo aus denselben
Anlagen
(Geschlechtsorgan) entstehen.
[62]
Bei der korperlichen Entwicklung kann es zu folgenden Variationen kommen:
- Chromosomale
Variationen: Statt der durchschnittlich am haufigsten vorzufindenden
Karyotypen
46,XX (?
weiblich“
) und 46,XY (?
mannlich“
) gibt es unter anderem auch die Varianten 45,X, bekannt als
Turner-Syndrom
mit einem weiblichen
Phanotyp
, und 47,XXY, das
Klinefelter-Syndrom
mit mannlichem Phanotyp, sowie
Mosaike
mos45,X/46,XX, mos45,X/46,XY und den
Chimarismus
chi46,XX/46,XY. Das chromosomale Geschlecht ist die Basis aller weiteren Geschlechtsauspragungen.
- Gonadale
Variationen: fehlende Entwicklung (
Agonadismus
); Ausbildung ganz oder partiell zu sog.
Streifengonaden
(nicht oder nur teilweise ausgebildete
Gonadendysgenesien
); ovarielle und testikulare Gewebeanteile in entweder denselben (
Ovotestes
) oder getrennten Keimdrusen
(echter Hermaphroditismus/Hermaphroditismus verus)
.
- Hormonelle
Variationen: Auffallige Serumspiegel bei
Geschlechtshormonen
und deren Vorlaufern, teils mit Folgen wie
Gynakomastie
(Brustentwicklung bei nach der Geburt als mannlich eingeordneten Menschen) oder
Hirsutismus
(sehr starke Korperbehaarung bei nach der Geburt als weiblich eingeordneten Menschen), teils aber auch die sexuelle Differenzierung insgesamt betreffend. Diese kann unterschiedliche Ursachen (chromosomale, gonadale und nephrologisch bedingte Varianten, Enzymdefekte) haben.
- Anatomische
Variationen: Von geschlechtlichen Besonderheiten mit unspezifischen Ursachen bis zu eher kulturell bedingten Einschatzungen (Grundlage des sozialen Geschlechts) wie ?zu kleiner“ Penis oder ?zu große“ Klitoris sind sehr viele Variationen bekannt.
Viele intergeschlechtliche
Syndrome
bestehen nicht nur aus einer einzigen nachweisbaren Variation, sondern entstehen im Zusammenspiel mehrerer Faktoren, so zum Beispiel beim
Androgenrezeptor
-Defekt (AIS,
Androgenresistenz
). Hier sind
komplette Androgenresistenz
bzw. vollstandiger AIS (CAIS, von
complete
AIS),
partielle Androgenresistenz
bzw. partieller AIS (PAIS) und
minimale Androgenresistenz
bzw. minimaler AIS (MAIS) zu unterscheiden. Bei kompletter Androgenresistenz (CAIS) entwickeln sich zum Beispiel bei einem Fotus mit XY-Chromosomen Hoden, die im Korper verbleiben konnen. Die Rezeptoren fur
Testosteron
fehlen jedoch, so dass sich ein ?weiblich aussehendes“ außeres Genital (allerdings ohne weibliche innere Organe) entwickelt; das Erziehungsgeschlecht ist dann meist weiblich. Intergeschlechtliche Menschen mit CAIS werden ? anders als bei PAIS ? oft erst in der Pubertat erkannt. Bei weniger ausgepragter Resistenz kommt es laut dem medizinischen Worterbuch
Pschyrembel
Worterbuch Sexualitat
zu unterschiedlichen Ausbildungen der mannlichen Sexualorgane (
Hypospadie
,
Kryptorchismus
,
Azoospermie
) und korperlicher Feminisierung (z. B. Gynakomastie, siehe
Reifenstein-Syndrom
).
Bei einem XY-chromosomalen Menschen mit
Swyer-Syndrom
aufgrund der Deletion des
SRY-Gens
sind auch Vagina und Uterus ausgebildet, in Gewebeproben findet sich allerdings kein Barrkorperchen (
Geschlechts-Chromatin
), das bei jedem XX-chromosomalen Menschen zu finden ist. Auch das Swyer-Syndrom fallt oft erst mit (fehlendem) Pubertatsbeginn auf.
Bei einem XY-chromosomalen Kind mit genetisch bedingtem
5α-Reduktase-Mangel
ist eine Umformung von Testosteron in die biologisch wesentlich aktivere Form des
Dihydrotestosterons
in den Zeilzellen des
urogenital sinus
und
genital tubercle
nicht in ausreichendem Maße moglich. Deshalb findet in diesem Falle die vollstandige Geschlechtsdifferenzierung des mannlichen Embryos nicht statt. Dieses Kind sieht bei seiner Geburt wie ein Madchen aus, da die primaren Geschlechtsmerkmale eher wie eine
Vulva
wirken. Mit Beginn der Pubertat produziert der Korper eine deutlich gesteigerte Menge an Testosteron und manchmal auch etwas Dihydrotestosteron. Dadurch bildet sich aus der bislang uneindeutigen bis leicht vergroßerten
Klitoris
ein eher kleiner mannlicher
Penis
, wobei eine Fehlbildung der
Harnrohre
, die sogenannte
Hypospadie
, haufiger auftritt. Die schwach ausgebildete
Prostata
vergroßert nunmehr in der Regel ihr Volumen, bleibt jedoch unterentwickelt. Die bisher im Bauchraum befindlichen
Hoden
steigen oft in den sich bildenden
Hodensack
herab. Diese Entwicklung kann manchmal auch ohne medizinische Hilfe bis zur vollstandigen Fortpflanzungsfahigkeit fuhren.
[63]
[64]
Zu berucksichtigen ist auch das Vorhandensein einer Prostata bei fast allen XY-chromosomalen Menschen mit intergeschlechtlichen Syndromen.
Um Intergeschlechtlichkeit auszuschließen, ist eine ausfuhrliche korperliche Untersuchung einschließlich Chromosomenanalyse notwendig (
Karyogramm
).
[65]
[66]
Der Sozialwissenschaftler
Heinz-Jurgen Voß
kritisiert, dass sich viele Faktoren auf die Geschlechtsentwicklung auswirkten und sich das Geschlecht individuell und vielgestaltig ausprage. Zuordnungen zu Intersexualitat und ?Disorders of Sex Development“ (DSD) wurden aus der Position der normativen Zweigeschlechterordnung
pathologisiert
.
[67]
Intergeschlechtlichkeit ist keine medizinische Diagnose, sondern eine zusammenfassende Bezeichnung fur sehr unterschiedliche korperliche Phanomene mit unterschiedlichen Ursachen, so beispielsweise Abweichungen der Geschlechtschromosomen, genetisch oder medikamentos bedingte hormonelle Varianten der Entwicklung, die nicht geschlechtschromosomal bedingt sind, und Unfalle. Genaue
epidemiologische
Daten uber intergeschlechtliche Kinder und Erwachsene in Deutschland existieren zurzeit nicht, es gibt lediglich Schatzungen. Das Fehlbildungsmonitoring Sachsen-Anhalt gibt eine Großenordnung von 0,5 bis 1 je 1000 Kinder an. Das
Bundesverfassungsgericht
fuhrt in einem Beschluss aus dem Jahr 2017 als Beispiel die Schatzung 1:500 aus dem
Klinischen Worterbuch von Pschyrembel
(Auflage von 2014) an.
[68]
Eine große Gruppe umfasst die Menschen mit einem
Adrenogenitalen Syndrom
(AGS, im englischen Sprachgebrauch CAH fur Congenital Adrenal Hyperplasia) mit einer
Inzidenz
von etwa 1:4000 bis 1:9000 Geburten. Die hormonelle geschlechtliche Variante
PCO-Syndrom
betrifft etwa 5?10 % aller bei der Geburt als weiblich eingeordneten Menschen.
[69]
?They should never be told…“
[70]
(deutsch: ?Es sollte ihnen niemals erzahlt werden…“)
International veroffentlichte Behandlungsempfehlungen bei
Androgenresistenz
aus der Schweiz, 1963.
Seit den 1960er Jahren werden bei Kindern mit nicht eindeutig bestimmbarem Geschlecht haufig bereits im Neugeborenenalter
geschlechtsangleichende Operationen
durchgefuhrt. Dazu gehorten zum Beispiel die Anlage einer
Neovagina
, die Verkleinerung des Genitals auf eine eindeutige, meist weibliche Große (insbesondere
Klitoris
verkleinerung) und die Entfernung eventuell vorhandener Hoden, letztere in der Regel mit anschließender contra-
chromosomaler
Hormon
ersatztherapie.
Diese Eingriffe wurden zumeist ohne wirksame Einwilligung der Eltern, insbesondere ohne hinreichende Aufklarung uber die mit diesen Eingriffen einhergehenden Risiken und medizinisch notwendigen Folgebehandlungen durchgefuhrt sowie oftmals auch ohne zwingende medizinische Indikation. Dies stand im Widerspruch zu der Bedeutung dieser Maßnahmen als irreversible Eingriffe in den Kernbereich der personlichen Identitat und der
korperlichen Unversehrtheit
. Anderen, deren Intergeschlechtlichkeit erst im Erwachsenenalter erkannt wurde ? so etwa bei
Lucie Veith
?, wurde die neu entdeckte Vielfalt durch eine Operation genommen. Sie prangern spater die Verletzungen an, die ihnen zugefugt wurden, nur um die weiblich-mannliche
Dichotomie
aufrechtzuerhalten, und sehen sich als zwangsweise transsexualisiert oder kastriert.
[71]
In einer Stellungnahme fuhrte der
Deutsche Ethikrat
2012 aus,
[72]
dass die Situation von intergeschlechtlichen Menschen in starkem Maße durch Leidenserfahrungen, Missachtung seitens der Medizin, mangelnder Sensibilitat des gesellschaftlichen Umfelds, administrativen und burokratischen Hemmnissen und verbreiteter gesellschaftlicher Unkenntnis der Lebenswirklichkeit gekennzeichnet ist. Zur rechtlichen Bewertung stellt er dar, dass Eltern nach dem
Preußischen Allgemeinen Landrecht
von 1794 bei Nichteindeutigkeit zunachst das Geschlecht des Kindes festlegten. Im Alter von 18 Jahren hatte jedoch ein Zwitter das Recht, sein Geschlecht selbst frei zu wahlen
[73]
(sogenannter
Zwitterparagraf
). Mit der Einfuhrung des Personenstandsrechts Ende des 19. Jahrhunderts wurde aus dem Wahlrecht eine Zuweisung von Amts wegen in die Kategorien ?mannlich“ und ?weiblich“. Der Grund: Weil bewiesen war, dass ?Selbstbefruchtung ausgeschlossen ist […] wurde von den meisten Forschern bis jetzt das Vorkommen wahrer Zwitter beim Menschen direkt geleugnet, und demgemass wurden in der deutschen Gesetzgebung vom Jahre 1900 an die fruher fur Fragen betreffend Zwitter eingesetzten Gesetzesparagraphen ganz gestrichen.“
[74]
[75]
Im Ausland lassen mehrere Staaten eine weitere Geschlechtskategorie zu (zum Beispiel in Indien, Brasilien, Kosovo, Nordamerika und Indonesien). In Australien wurde 2011 eine dritte Kategorie fur Geschlecht (X fur ?unbestimmt“) im Pass eingefuhrt. In Belgien kann das Geschlecht nach der Geburt eines Kindes als unbestimmbar eingetragen werden. In Deutschland kann seit der Neuregelung des
Personenstandsgesetzes
2009 auf Verlangen darauf verzichtet werden, in die Geburtsurkunde das Geschlecht aufzunehmen (§ 59 Absatz 2 PStG).
[76]
In der Folge sah eine Beschlussempfehlung des
Innenausschusses
des Deutschen Bundestages eine weitere Anderung des Personenstandsrechts vor, die sich der Problemstellungen zum Thema Intergeschlechtlichkeit annahm und klarstellte, dass die Geschlechtsangabe im Geburtseintrag offenbleiben kann, wenn diese nicht zweifelsfrei feststeht.
[77]
Eine entsprechende Neuregelung in § 22 Abs. 3 PStG ist seit dem 1. November 2013 in Kraft.
[78]
Seit dem 22. Dezember 2018 kann neben dem Offenlassen des Geschlechtseintrags auch die Angabe ?
divers
“ gewahlt werden.
Abhangig von der konkreten Behandlungsbedurftigkeit im Einzelfall soll eine Therapie erfolgen, die nicht nur anatomische und physiologische, sondern auch psychische, psychosoziale und rechtliche Gesichtspunkte integriert. Indikationsstellung und Therapie bedurfen eines interdisziplinaren Teams. Eine Leitlinie der Gesellschaft fur Kinderheilkunde und Jugendmedizin aus dem Jahr 2011 tragt dem Rechnung, indem sie operative Eingriffe bei Sauglingen mit mehr Zuruckhaltung beurteilt.
[79]
Trotzdem gab es in den darauffolgenden Jahren keinen signifikanten Ruckgang von geschlechtsnormierenden Operationen an Neugeborenen.
[80]
Am 22. Mai 2021 trat in Deutschland ein grundsatzliches Verbot von geschlechtsangleichenden Eingriffen bei nicht einwilligungsfahigen intergeschlechtlichen Kindern in Kraft, das allerdings viele Ausnahmen zulasst (
siehe unten
).
Seit Ende des 19. Jahrhunderts ist bekannt, dass Menschen praktisch niemals Zwitter sind.
[81]
Laut medizinischer Definition von
Hugh H. Young
ist fur Zwitter der
mikroskopische
Nachweis von sowohl
Eierstockgewebe
als auch
Hodengewebe
im selben Korper erforderlich.
[82]
Bis 1959 wurden aber nur 90 solcher Falle in der wissenschaftlichen Literatur gezahlt.
[83]
Gangig war damals die Bezeichnung
Pseudohermaphrodit
(?Scheinzwitter“). Goldschmidt sah 1916 in der Vorsilbe
Schein-
ein Vorurteil, weshalb er den neutraleren Begriff ?Intersexualitat“ schuf.
[84]
Goldschmidt teilte die Auffassung von
Magnus Hirschfeld
, dass ?atypische Sexualitat“ biologisch begrundet sei.
[85]
Der folgende Text ist nicht hinreichend mit
Belegen
(beispielsweise
Einzelnachweisen
) ausgestattet. Angaben ohne ausreichenden Beleg konnten demnachst entfernt werden. Bitte hilf Wikipedia, indem du die Angaben recherchierst und
gute Belege einfugst.
Daneben bestand und besteht die Annahme, dass es im Interesse des intergeschlechtlichen Menschen liege, seinen Korper einem ?wirklichen“ Geschlecht anzupassen; begrundet wird das meist mit der geschlechtlichen Zuordnung sowie sonst fehlender sozialer Akzeptanz. In der Praxis wird eine Geschlechtsfestlegung auch in vielen Alltagssituationen (Formulare fur Geschaftsabschlusse, Mitgliedschaften usw.) oder aus burokratischen Grunden gefordert (
Personenstand
, manifestiert etwa in Ausweisen).
Aufgrund der von ihnen befurworteten Geschlechtsfestlegung uben auch Eltern auf ihre intergeschlechtlichen Kinder in der Regel bewusst besonders starken Druck aus, sich dem zugewiesenen Geschlecht entsprechend zu verhalten. Die Diagnosen der haufigen medizinischen Untersuchungen werden den Kindern oft routinemaßig verschwiegen, aus Schamgrunden zum Teil bis ins Erwachsenenalter hinein.
Viele intergeschlechtliche Menschen,
Transmenschen
sowie einige kritische Wissenschaftler argumentieren hingegen, dass die Vorstellung von genau zwei sauber unterscheidbaren Geschlechtern (siehe
Heteronormativitat
) falsch sei. Sie sind der Ansicht, dass die Festlegung auf eines der beiden gegenpoligen Geschlechter oft zweifelhaft sei und zu starken physischen und psychischen Beeintrachtigungen fuhren konne. In der Regel handele es sich bei einer Festlegung um einen durch sozialen Druck entstandenen Wunsch des Umfeldes und nicht um ein Bedurfnis der Betroffenen selbst. Die entsprechenden padagogischen Maßnahmen werden abgelehnt, da sie bei den Kindern zu unmaßigem Druck fuhrten und durch das Verschweigen der Hintergrunde die psychische Verwirrung noch verstarkten.
Kritisiert wird vom intergeschlechtlichen Standpunkt aus auch die Theorie des
Sexualwissenschaftlers
John Money
von 1955, dass Menschen mit einem ?angeborenen Defekt der Genitalien‘
(birth-defective genitals)
die soziale Rolle annehmen wurden, die ihnen zugewiesen wird. Zur Differenzierung gegenuber
Sex
fur die Einstufung anhand der korperlichen Ausbildung der Genitale pragte Money den Begriff
Gender
.
[86]
Die Geschlechtsfeststellung, eigentlich eine willkurliche Genderfestlegung, wurde sogar in Fachliteratur zum
medizinischen Notfall
(
clinical emergency
) erklart.
[87]
Da die entsprechenden medizinischen Eingriffe oft im Sauglings- und Kleinkindalter vorgenommen wurden, werde der fur die Betreffenden wichtigste Faktor, namlich ihr psychosoziales ?Identitatsgeschlecht“, nicht berucksichtigt. Stattdessen reiche die Entscheidungsfindung, so die Kritiker, oft von subjektiver Willkur (Eltern wunschten oft in selbst
unplausibelsten
Fallen eine mannliche Zuweisung, nur wegen des uneindeutigen Genitals wird allerdings seit funfzig Jahren meist weiblich zugewiesen) uber medizinische Machbarkeit (John P. Gearharts zynisches: ?Es ist einfacher, ein Loch zu machen als einen Pfahl zu bauen“
[88]
) bis zu Ehrgeiz der Mediziner (?Urologen basteln gerne Jungen“). Beleg fur den kulturhistorisch bedingten Einfluss bei der Geschlechtsfestlegung sei, dass mannliche Zuweisungen in drei Viertel aller Falle in der zweiten Halfte des 20. Jahrhunderts festgestellt wurden.
Schweizer Entwicklung
Die Schweizer Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (NEK-CNE) hatte sich bereits 2012 dafur ausgesprochen, die Bezeichnungen
Zwitter, Intersexuelle
oder ahnliches durch ?Varianten der Geschlechtsentwicklung“ oder ?Geschlechtsvarianten“ zu ersetzen. Dieser Vorschlag erfolgte mit der Begrundung der Ent
sexualisierung
des Themas im Interesse eines ungezwungenen und normalisierten Umgangs mit Menschen, die mit
Geschlechtsvarianten
geboren werden.
[89]
Im Jahr 2020 gab die NEK-CNE eine Stellungnahme ab zur
Ethischen Erwagung zum Umgang mit dem Geschlechtseintrag im Personenstandsregister
, die zusammenfasst:
[90]
?Die NEK-CNE vertritt die Auffassung, dass die heutige Regelung und Praxis der amtlichen Registrierung des Geschlechts unbefriedigend ist. Sie tragt der Vielfalt von
Geschlechtsidentitaten
ungenugend Rechnung und lasst fundamentale Interessen von Menschen mit
nichtbinarer Geschlechtsidentitat
sowie von
transidenten
und intergeschlechtlichen Menschen ausser Acht. Daraus resultieren fur die Betroffenen schwerwiegende Einschrankungen, die ihre Selbstbestimmung, die freie Wahl von Lebensvollzugen, aber auch den Schutz vor
Diskriminierung
betreffen.
Die Kommission kommt zum Schluss, dass jede der diskutierten Moglichkeiten der aktuellen Regelung vorzuziehen ist […]“
[91]
Diskutiert werden die Moglichkeiten des Offenlassens des Geschlechtseintrags (vergleiche
Dritte Geschlechtsoption im deutschen Personenstandsgesetz ab 2013
), der ganzliche Verzicht auf jegliche amtliche Registrierung des Geschlechts (vergleiche
Postgenderismus
), die Moglichkeit eines Eintrags ≪X≫ oder ein dem in Deutschland eingefuhrten ≪
divers
≫ entsprechender. Abzusehen sei von jeglichen medizinischen Voraussetzungen zur Wahl des eigenen Geschlechtseintrags. Der
Bund
solle eine dritte Eintragungsmoglichkeit einfuhren und mittelfristig sogar den vollstandigen Verzicht auf einen Geschlechtseintrag prufen.
[91]
Ende 2020 entschieden der
Nationalrat
und der
Standerat
, dass zur Anderung des Geschlechtseintrags mannlich/weiblich ein Gang zum
Zivilstandsamt
ausreichen soll, wo die Anderung sofort eingetragen wird (75
Franken
Gebuhr).
[90]
Dieser Artikel oder Absatz stellt die
Situation in Deutschland
dar. Bitte hilf uns dabei, die Situation in anderen Staaten zu schildern.
Lander, in denen intergeschlechtliche Kinder vor nicht einvernehmlichen medizinischen Eingriffen geschutzt sind
Seit Ende des 19. Jahrhunderts konnte in Deutschland in das Geburtsregister nur ?mannlich“ oder ?weiblich“ eingetragen werden. Es gab zunehmend Kritik, dieser Zwang
diskriminiere
die intergeschlechtliche
Minderheit
. Der
Deutsche Ethikrat
schlug im Februar 2012 dem
Deutschen Bundestag
vor, ?dass intergeschlechtliche Menschen auch den Eintrag ?andere‘ wahlen konnen“.
[92]
Einen Zwang zur Festlegung auf ?mannlich“ oder ?weiblich“ wertete der Rat als einen ?nicht zu rechtfertigenden Eingriff in das
Personlichkeitsrecht
und das Recht auf Gleichbehandlung“.
Am 7. Mai 2013 verabschiedete der Bundestag eine Anderung des
Personenstandsgesetzes
. Seit dem 1. November 2013 lautete der neu eingefugte § 22 Abs. 3 PStG: ?Kann das Kind weder dem weiblichen noch dem mannlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personenstandsfall ohne eine solche Angabe in das Geburtenregister einzutragen.“
[93]
Die Eintragung eines intergeschlechtlichen Kindes im Geburtenregister als ?inter“ oder ?divers“ ließ das Gesetz hingegen nicht zu.
[94]
Am 10. Oktober 2017 entschied das
Bundesverfassungsgericht
, dass es gegen das Personlichkeitsrecht von intergeschlechtlichen Menschen verstoßt, wenn diese nicht mit ?inter“, ?divers“ oder durch eine andere positive Bezeichnung im Geburtenregister aufgefuhrt werden durfen. Es gab dem Gesetzgeber bis Ende 2018 Zeit, eine Neuregelung zu schaffen, die eine solche Eintragung ermoglicht.
[95]
[96]
[97]
Die Bundesregierung legte am 15. August 2018 einen dem Urteil entsprechenden Entwurf vor. ?Der Gesetzentwurf sieht hier vor, dass der Standesbeamte neben den bereits vorgesehenen Varianten die Angabe ?
divers
‘ eintragen kann.“
[98]
Gem.
§ 22
Abs. 3 PStG in der seit dem 22. Dezember 2018 geltenden Fassung kann der Personenstandsfall auch mit der Angabe ?divers“ in das Geburtenregister eingetragen werden, wenn das Kind weder dem weiblichen noch dem mannlichen Geschlecht zugeordnet werden kann.
Personen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung konnen gem.
§ 45b
PStG gegenuber dem Standesamt erklaren, dass die Angabe zu ihrem Geschlecht nachtraglich durch eine andere in
§ 22
Abs. 3 PStG vorgesehene Bezeichnung ersetzt oder gestrichen werden soll. Die dafur vorausgesetzte
Variante der Geschlechtsentwicklung
ist nach hochstrichterlicher Rechtsprechung nur dann gegeben, wenn das Geschlecht nicht eindeutig anhand angeborener korperlicher Merkmale als weiblich oder mannlich bestimmt werden kann. Eine lediglich empfundene Intergeschlechtlichkeit ist hierfur nicht ausreichend.
[99]
Von der 2018 eingefuhrten Moglichkeit, den Geschlechtseintrag zu ?
divers
“ eintragen zu lassen, wurde laut Fallzahlen bis Ende September 2020 in etwa 300 Fallen (0,00036 %) Gebrauch gemacht.
[100]
[101]
Bei Neugeborenen, fur die Eltern statt ?Junge“ oder ?Madchen“ eine dritte Option als Geschlechtseintrag wahlen konnen, gab es 2019 elf Falle bei bundesweit 780.000 Geburten. Zuvor waren es 15 im Jahr 2018 und 17 Kinder im Jahr 2017.
[101]
Menschen auf einer
Pride-Veranstaltung
in Berlin im Jahr 2020, also vor der Verabschiedung dieses Gesetzes, die ein Banner mit der Aufschrift ?End Intersex Surgery“ tragen (deutsch ?Beendet Intersex-Operationen“)
Ein Gesetzentwurf, der ein generelles Operationsverbot bei nicht einwilligungsfahigen Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung vorsieht, wurde im Wesentlichen unverandert am 25. Marz 2021 im Bundestag verabschiedet.
[102]
[103]
Das Gesetz soll laut einem Bericht im
Deutschen Arzteblatt
die selbstbestimmte Entscheidung von Kindern und Jugendlichen starken und mogliche Schaden fur deren Gesundheit vermeiden. Eine operative Veranderung von Geschlechtsmerkmalen durfte dann ? auch mit Zustimmung der Eltern ? nur durchgefuhrt werden, wenn der Eingriff nicht bis zu einer selbstbestimmten Entscheidung des Kindes aufgeschoben werden kann. Hinzugezogene Rechtswissenschaftler und Psychologen befurworten den Ansatz mehrheitlich. Die
Bundespsychotherapeutenkammer
fordert außerdem die verpflichtende Beteiligung einer intergeschlechtlichen Beratungsperson, bei der Begutachtung vor einem moglichen Eingriff.
[104]
Der Entwurf und das letztlich verabschiedete Gesetz wurden von der
Organization Intersex International
(OII) Germany sowie vom
Intergeschlechtliche Menschen e. V.
scharf kritisiert, da sie zu viele Ausnahmen vorsehen und intergeschlechtliche Kinder und Jugendliche nicht ausreichend vor geschlechtsangleichenden Eingriffen schutzen.
[105]
[106]
[107]
[108]
Mit dem
Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung
vom 12. Mai 2021 wurde
§ 1631e
BGB neu in das
Burgerliche Gesetzbuch
eingefugt.
[109]
Das Gesetz trat am 22. Mai 2021 in Kraft.
Der
Europaische Gerichtshof fur Menschenrechte
hat 2023 geurteilt, dass in Frankreich aus Grunden der Unveraußerlichkeit des Personenstandes und der Notwendigkeit eines zuverlassigen Personenstandsregisters ein intergeschlechtlicher Mensch keinen Anspruch darauf habe, dass statt
mannlich
oder
weiblich
in die Geburtsurkunde
intersexuell
oder
neutral
eingetragen wird. Bei der Anerkennung eines dritten Geschlechts handele es sich um eine Frage, die die nationale Gesellschaft zu entscheiden habe. Der Grundsatz des franzosischen Rechts, den Personenstand auf der Grundlage von zwei Geschlechtern zu organisieren, sei zu respektieren (Az. 76888/17).
[110]
Statue (zwischen 664 und 323 vor Christus) der agyptischen Gottheit
Hapi
, die meist mit Brusten und einem falschen Bart dargestellt und auch ?Vater der Gotter“ genannt wurde
Die Idee, dass eine strikte Aufteilung aller Menschen in zwei Geschlechter (z. B.
Adam und Eva
[111]
) den naturlich vorhandenen Gegebenheiten nicht gerecht werde, ist nicht neu. In einigen
Kulturen
und Religionen werden intergeschlechtliche Personen (oft zusammen mit transgeschlechtlichen Personen) als Angehorige eines
dritten Geschlechts
betrachtet, zum Beispiel die thailandischen
Kathoeys
.
Die indischen
Hijra
sind beruhmt geworden als erstes von Staats wegen juristisch anerkanntes ?drittes Geschlecht“. Hijra haben eine traditionell eigene Geschlechtsrolle (Gender), die von der mannlichen und der weiblichen verschieden sind, diese gilt traditionell als von Geburt an gegeben und unveranderlich. Allerdings sind nur wenige Hijra tatsachlich von Geburt an intergeschlechtlich, die meisten Hijra wurden als Manner geboren.
[112]
[113]
Die norwegische Anthropologin Unni Wikan beschrieb die
Chanith
(auch xanith, khanith,
arabisch
????
,
DMG
?an??
) aus dem Nordosten des Oman. Chanith waren abgeschatzt etwa zwei Prozent der mannlichen Bevolkerung in den 1970er Jahren. Es handelt sich um ein soziales Rollenmodell (gender), mit Verhaltensweisen und Kleidermoden zwischen den traditionell im Oman praktizierten Geschlechterrollen. Viele Chanith arbeiteten als Prostituierte. Nach Wikans Deutung setzt die mannliche Rolle in der omanischen Gesellschaft auch die ?mannliche“ Rolle im Geschlechtsverkehr voraus. Ein Rollenwechsel zwischen Chanith und Mann ist jederzeit moglich: sobald ?mannliche“ Sexualitat praktiziert wird, wird der Chanith zum (sozialen) Mann. Chanith sind damit ein Rollenmodell im Rahmen der praktizierten
Homosexualitat
.
[114]
[115]
Ein direkter Bezug zu Intergeschlechtlichkeit besteht nicht.
In indigenen nordamerikanischen Kulturen wurden Personen, die im Verhalten und in der Kleidung das Rollenmodell des jeweils anderen Geschlechts annahmen,
Nadlehee
(auch
Nadle
) oder
Berdache
genannt. Diese waren angesehen und hatten besondere Rollen in der Gesellschaft, besonders auch in der kultischen Praxis. Nach den meisten Forschern soll es sich uberwiegend um biologisch mannliche Personen gehandelt haben, genaue Aussagen sind schwierig, weil die Praxis untergegangen und verloren ist.
[116]
Nach einer Untersuchung des US-amerikanischen Anthropologen
Willard Williams Hill
in den 1930er Jahren sollen speziell beim Volk der
Navajo
die
Nadle
vor allem, aber nicht ausschließlich intergeschlechtliche Menschen gewesen sein; diese wurden von Geburt an auf ihre besondere Rolle vorbereitet.
[117]
Moderne Vertreter der
indigenen Volker
Nordamerikas lehnen den Begriff
Berdache
ab, da er von Europaern gepragt worden sei. 1990 wurde auf einer Konferenz in Winnipeg, Kanada, der moderne Ersatzbegriff
Two-Spirit
neu eingefuhrt.
[118]
Die Burnesha (auch
eingeschworene Jungfrauen
) des nordlichen Albaniens und angrenzenden Montenegro sind Frauen, die im Rahmen des
Kanun
genannten Rechtssystems die soziale Rolle von Mannern in der albanischen Gesellschaft einnehmen. Damit konnen sie in der strikt
patriarchalen
traditionellen albanischen Gesellschaft die Rolle des Familienoberhaupts antreten, die sonst Mannern vorbehalten war. Frauen konnen aus freiem Antrieb Burnesha werden und werden in dieser Rolle akzeptiert, ihnen ist aber dann die Heirat und jeder Geschlechtsverkehr verwehrt. Es besteht keine volle Einigkeit darin, ob Burneshe die volle mannliche Rolle ubernahmen oder doch in manchen Punkten eine eigene Rolle zwischen den traditionellen Geschlechtern zugewiesen bekamen.
[119]
Eine nahere Beziehung zu Intergeschlechtlichkeit ist damit aber nicht gegeben.
In den traditionellen Gesellschaften Polynesiens gibt es auf zahlreichen Inseln Minderheiten mit kulturell abweichenden Geschlechterrollen, diese werden in Samoa
Fa?afafine
, in Tonga
Fakaleiti
, in
Hawaii
und
Tahiti
maha
genannt.
[120]
In allen Fallen handelt es sich um biologisch mannliche Personen, die traditionelle Frauenrollen ubernehmen. Da in den Gesellschaften die Geschlechterrollen traditionell eher uber verschiedene Arbeiten in der Gemeinschaft als sexuell definiert waren, ist die Beziehung zu westlichen Konzepten wie Transgeschlechtlichkeit schwierig und zudem durch den Kontakt zu westlichen kulturellen Einflussen im Wandel begriffen,
[121]
zum Konzept der Intergeschlechtlichkeit gibt es keine Beruhrungspunkte. Fa?afafine haben mannliche korperliche Geschlechtsmerkmale, betrachten sich im Selbstbild aber als weiblich. Die sexuelle Orientierung ist fur das Selbstbild nicht zentral. Geschlechtliche Beziehungen zum selben biologischen Geschlecht werden von ihnen nicht als Homosexualitat definiert.
[122]
In der altgriechischen Mythologie war der Seher
Teiresias
erst Mann, dann Frau und dann wieder Mann.
Verkleidung als
Ardhanarishvara
, ein halb mannliches, halb weibliches gottliches Wesen aus der hinduistischen Mythologie
Intergeschlechtliche Gottheiten finden sich unter anderem in den buddhistischen und hinduistischen Hochkulturen. Im
Shivaismus
und
Shaktismus
(zwei spiegelbildliche Hauptkonfessionen des
Sanatana Dharma
) wird Gottlichkeit generell mannlich*weiblich/weiblich*mannlich gedacht.
Shiva
&
Shakti
sind die untrennbaren Bestandteile des Universums und bilden zusammen ein Prinzip. Mindestens 500 Millionen Menschen folgen diesem Konzept. Unterschiedlich ist die Gewichtung des mannlichen/weiblichen: Die Shaivas beziehen sich etwas starker auf die korperlose Dynamik (Shiva), die Shaktas mehr auf die Bedeutung der Urmaterialitat (Shakti). Nach diesem Konzept sind beide Pole alleine machtlos. Shiva ist ohne Shakti korperlos, amateriell (Shava). Shakti hingegen ist ohne Shiva bewegungslos. Zusammen bilden sie den sich zyklisch transformierenden Kosmos. In der Gestalt der*des
Ardhanarishvara
finden sie eine besonders deutliche konzeptuelle Zusammenfuhrung. Graphisch wird diese im heiligen
Yantra
-Ikon des Shatkona dargestellt, das den Shiva- und Shaktiaspekt in zwei ineinander verschrankten Dreiecken (Trikonas) in einem
Hexagramm
(Shatkona) verbindet. Shiva und Shakti beinhalten sich generell gegenseitig. Bekannt ist ebenfalls
Bodhisattva
Avalokiteshvara
, Gottheit des Mitgefuhls (japanisch
Kannon
). Auch hier wird das Transzendieren der Geschlechtergrenzen als spirituelle Uberwindung der Dualitat interpretiert.
In christlichen, patriarchalisch gepragten Gesellschaften wird dagegen haufig auf die Bibel verwiesen. Gott habe laut Schopfungsgeschichte die Menschen ausschließlich als Mann und Frau geschaffen. Daher wurden intergeschlechtliche Menschen gerade hier immer wieder gezwungen, sich einem dieser beiden Geschlechter anzupassen. 1999 hat die intergeschlechtliche Theologin
Sally Gross
in Bezug auf zwei Bibelstellen (
Gen
1,27
GNB
und
Num
5,3
GNB
) darauf hingewiesen, dass ? dem Buchstaben nach ? die Grammatik dieser Texte auf mehr als zwei Geschlechter hinweisen konnte. Dabei berief sich Gross auch auf einige talmudische
Glossen
, die einen anekdotischen Charakter haben.
[123]
Von dem Mediziner
Nicolas Venette
im Jahr 1696 angefertigte Zeichnung intergeschlechtlicher Variationen
Die Bandbreite des historisch belegten Umgangs mit intergeschlechtlichen Menschen bis in die Fruhe Neuzeit reicht von Verehrung bis zu
Totungsdelikten
. Die Assimilierung von Hermaphroditen oder Zwittern, wie intergeschlechtliche Menschen vor der Einfuhrung dieses Begriffes meist genannt wurden, in die beiden Geschlechter ?Mann“ und ?Frau“ erhielt mit der modernen Medizin eine vollig neue Qualitat.
So stellte bis Ende des 19. Jahrhunderts in
Preußen das
Allgemeine Landrecht
Hermaphroditen noch frei, sich ab dem vollendeten 18. Lebensjahr entweder fur das mannliche oder fur das weibliche Geschlecht zu entscheiden. Bis dahin konnten die Eltern entscheiden, ?zu welchem Geschlecht sie erzogen werden sollen“.
[124]
Ein Dritter konnte jedoch, wenn seine Rechte vom Geschlecht eines ?vermeintlichen Zwitters“ abhangig waren (u. a. durch die unterschiedlichen Rechte der Geschlechter, beispielsweise bei Erbschaften), die Begutachtung durch einen Sachverstandigen beantragen, der auch gegen die Wahl des Zwitters oder seiner Eltern entscheiden konnte.
[125]
Seit der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts nahmen Mediziner jedoch zunehmend fur sich in Anspruch, anhand willkurlicher und sich uber die Zeit hinweg verandernder Kriterien das ?wahre“ Geschlecht von ?Pseudo“-Hermaphroditen unabhangig von deren Willen zu bestimmen ? mit oft traumatischen Folgen fur diejenigen, die plotzlich einem anderen Geschlecht zugewiesen wurden. Dies lasst sich unter anderem an der Autobiographie (Anfang des 19. Jahrhunderts) und dem
Suizid
von
Herculine Barbin
ablesen. In anderen ?Fallen“ nahmen allerdings auch zahlreiche Mediziner Abstand davon, anhand von Keimdrusen ein Geschlecht zuzuweisen. Auch wurde oftmals keine Operation vorgenommen, um im Korperinneren vermutetes Keimdrusengewebe zu bestimmen, da solche Operationen gefahrlich waren. Allerdings nahmen auch Patienten ab einem gewissen Alter selbst Einfluss auf die Diagnose.
[126]
Anfang des 20. Jahrhunderts wurden intergeschlechtliche Menschen daruber hinaus als ?missgebildet“ und ?krank“
klassifiziert
. Ihre
Geschlechtsorgane
wurden nicht selten von Arzten abfotografiert und offentlich zur Schau gestellt.
Ein etwas besseres Bild gab es nach der Einfuhrung des Begriffes ?Intergeschlechtlichkeit“ vorubergehend in der
Weimarer Republik
. Die deutsche Arzteschaft war, wie bei
Hans Naujoks
deutlich wird, intergeschlechtlichen Menschen gegenuber uberaus positiv eingestellt, und entwickelte bis 1930, selbstverstandlich entsprechend dem Stand der Forschung, relativ hochkomplizierte Operationstechniken, die auch
Hormontherapie
beinhalteten.
Im Gegensatz zur Nachkriegszeit war vor der NS-Zeit bei deutschen Arzten das psychosoziale Geschlecht der Patienten entscheidend. Insbesondere wurde aus Respekt vor dem Wohle des Kindes und nicht wegen fehlender Moglichkeiten bewusst davon abgesehen, Kindern einen Korper aufzuzwingen, in dem sie unglucklich wurden. Zwischen den Zeilen scheint Naujoks sogar zuzugeben, dass deutsche Arzte auch transgeschlechtliche Menschen behandelt und dem Amt gegenuber die
Diagnose
manipuliert haben.
[127]
Die
nationalsozialistische Diktatur
in Deutschland war fur intergeschlechtliche Menschen ein ganz besonders schwerer Ruckschlag, bis in die heutige Zeit. Der fuhrende
Rassenhygieniker
Fritz Lenz
forderte 1936 Intersex-Forschungen an
Zwillingen
,
[128]
und meinte damit Kinder. Der Deutsche Hugo Hollenreiner, der als ethnischer
Sinti
das Vernichtungslager
Auschwitz
uberlebt hat, berichtete, wie er 1943 von Lagerarzt und
Kriegsverbrecher
Josef Mengele
bei Versuchen zur operativen Geschlechtsumwandlung als neunjahriger Junge im Genitalbereich verletzt wurde.
[129]
Hollenreiners Beschreibung lasst brutale Versuche zur Schaffung einer
Neo-Vagina
am Kind vermuten.
Seit den 1950er Jahren machte die Medizin ihr ?Heilungsinteresse“ auch praktisch geltend. Zu diesem Zeitpunkt begann der amerikanische Arzt und Psychiater
John Money
mit fruhkindlichen Operationen an intergeschlechtlichen Menschen zu experimentieren. Ziel war damals, die fehlende Geschlechtseindeutigkeit spatestens bis zum zweiten Lebensjahr durch massive chirurgische und hormonelle Eingriffe zu beheben. Die Empfehlung Moneys, das kunftige Geschlecht des Kindes einfach nach Machbarkeit auszuwahlen, setzte sich schließlich vierzig Jahre lang als ein internationaler Standard durch. Dieser Standard wird jedoch seit Mitte der 1990er Jahre sowohl durch die Proteste intergeschlechtlicher Menschen als auch durch die Kritik renommierter Mediziner wie
Milton Diamond
zunehmend in Frage gestellt (vgl. auch der
John/Joan
-Fall
, bei dem John Money versuchte, einen endogeschlechtlichen Jungen nach einer gescheiterten
Zirkumzision
in ein Madchen zu verwandeln).
Trotz immer starker gewordener Kritik hat eine Studie der deutschen Vertretung der
Internationalen Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen
ergeben: ?Fur den Zeitraum 2005 bis 2014 ist also kein Ruckgang ?feminisierender“ und ?maskulinisierender“ Genitaloperationen in der Kindheit festzustellen.“
[130]
2008 und 2010 hat eine nationale Nichtregierungsorganisation die Nichterfullung ratifizierter Rechte intergeschlechtlicher Menschen in ?
Schattenberichten
“ bei den
Vereinten Nationen
in den
Ausschuss fur die Beseitigung der Diskriminierung der Frau
(CEDAW) und den
UN-Ausschuss fur wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
(CESCR) zur Verhandlung gebracht.
Ab 2010 beschaftigte sich der
Deutsche Ethikrat
mit der Situation intergeschlechtlicher Menschen und veroffentlichte 2012 eine Stellungnahme im Auftrag der Bundesregierung. Der Rat vertrat die Auffassung, dass intergeschlechtliche Menschen als ein Teil gesellschaftlicher Vielfalt den Respekt und die Unterstutzung der Gesellschaft erwarten durfen. Zugleich mussten sie vor medizinischen Fehlentwicklungen und Diskriminierungen geschutzt werden.
[131]
Das am 7. Mai 2021 im deutschen
Bundesrat
verabschiedete Gesetz zur Anderung des
Achten Sozialgesetzbuches
(SGB VIII) enthalt ? erstmals in einem Rechtstext dieser Bedeutung ? in § 9
Grundrichtung der Erziehung, Gleichberechtigung von jungen Menschen
im 3. Absatz die Erwahnung von ?transidenten, nichtbinaren und intergeschlechtlichen“ Personen:
?Bei der Ausgestaltung der Leistungen und der Erfullung der Aufgaben sind […]
- 3. die unterschiedlichen Lebenslagen von Madchen, Jungen sowie
transidenten
,
nichtbinaren
und intergeschlechtlichen jungen Menschen zu berucksichtigen, Benachteiligungen abzubauen und die
Gleichberechtigung der Geschlechter
zu fordern.“
Am
17. Mai
wird seit 2005 weltweit der
Internationaler Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie
(
International Day Against Homophobia, Biphobia, Interphobia and Transphobia:
IDAHOBIT) als Aktionstag begangen, um auf die Diskriminierung und Bestrafung von Menschen aufgrund ihrer
sexuellen Orientierung
oder
Geschlechtsidentitat
hinzuweisen.
[132]
Am
26. Oktober
findet der
Intersex Awareness Day
statt.
[133]
Er wurde von der Organisation Intersex International Australia 1996 anlasslich der Anerkennung einer
dritten Geschlechtsoption
eingefuhrt.
Am
8. November
wird der
Intersex Day of Remembrance
oder
Intersex Solidarity Day
begangen.
[134]
[135]
Er markiert den Geburtstag von
Abel Barbin
.
[136]
- 1915: Im Roman
Der Golem
von
Gustav Meyrink
spielt der Hermaphroditismus eine wichtige Rolle.
- 1950?1952: Im
Foundation
-Zyklus
von
Isaac Asimov
tritt ein Hermaphrodit namens Fallom auf, dessen Doppelgeschlechtlichkeit auf dem Planeten Solaria gezielt herbeigefuhrt wurde; dennoch wird Fallom zumindest in der Sprache wie eine Frau behandelt.
- 1991: Im
Barrayar
-Zyklus von
Lois McMaster Bujold
gibt es die hermaphroditen
Herm
vom Planeten Beta.
In der
Science-Fiction
-Literatur wird Hermaphrodismus oft als Kennzeichnung
außerirdischer Lebensformen
verwendet oder auch als (absichtlich hervorgerufener) ?fremdartiger“ Zustand zukunftiger Menschen(kulturen) eingefuhrt.
- 1993: Im historischen Azteken-Roman
Der Greif
von
Gary Jennings
ist die Hauptfigur ein Hermaphrodit.
- 2002: Der Roman
Middlesex
von
Jeffrey Eugenides
beschreibt die Lebensgeschichte der hermaphroditen Hauptfigur Calliope und die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens; das Buch erhielt 2003 den
Pulitzer-Preis
.
- 2003?2009: Der japanische
Manga
IS: Otoko demo Onna demo nai Sei
(IS 男でも女でもない性) beleuchtet das Leben mehrerer intergeschlechtlicher Figuren; 2011 folgte eine Umsetzung als Fernsehserie.
[137]
- 2005: Im Roman
Die Galerie der Lugen
von
Ralf Isau
sind gleich mehrere Figuren echte Hermaphroditen; der Autor behandelt nicht nur das ?Hin- und Hergestoßensein zwischen den Geschlechtern“, sondern geht auch auf unkonventionelle Weise der Frage nach, ob intergeschlechtliche Menschen der nachste Schritt der Evolution sind.
- 1919: Der deutsche Stummfilm
Aus eines Mannes Madchenjahren
von Julius Rode und
Paul Legband
war die Verfilmung der 1907 erschienenen Biografie der intergeschlechtlichen Person
Karl M. Baer
; der Film gilt als
verschollen
.
- 2007: Das deutsche ?dokumentarische Experiment/visuelle Horstuck“
Die Katze ware eher ein Vogel
bietet Einblicke in die Erfahrungswelten von vier intergeschlechtlichen Menschen.
[138]
- 2011: Die Munsteraner
Tatort
-Folge
Zwischen den Ohren
thematisiert Intergeschlechtlichkeit und die Akzeptanz- sowie Selbstfindungsprobleme, mit denen Menschen mit dieser
genetisch bedingten Variation
haufig zu kampfen haben.
- 2012: Im Luzerner Tatort
Skalpell
geht es um den Mord an einem auf intergeschlechtliche Kinder spezialisierten Chirurgen.
[139]
- 2014?2016: In der US-amerikanischen Fernsehserie
Faking It
ist die Figur der Lauren Cooper intergeschlechtlich (gespielt von
Bailey De Young
); thematisiert werden die Akzeptanz von außen und die eigene Akzeptanz der Betroffenen.
[140]
[141]
Publikationen intergeschlechtlicher Menschen
- N. O. Body (
Karl M. Baer
):
Aus eines Mannes Madchenjahren.
Reprint der Erstausgabe. 1. Auflage. Edition Hentrich, Berlin 1993,
ISBN 3-89468-086-5
(Originalausgabe: Riecke, Berlin 1907).
- AGGPG
(
Memento
vom 4. Juni 2001 im
Internet Archive
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- Michel Reiter:
Ein normales Leben ermoglichen.
In:
Neue Gesellschaft fur Bildende Kunst
(NGBK) (Hrsg.):
1-0-1 [one ’o one] intersex: Das Zwei-Geschlechter-System als Menschenrechtsverletzung.
Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 17. Juni bis zum 31. Juli 2005, NGBK, Berlin 2005,
ISBN 3-926796-95-2
, S. 136?141.
- Ins A. Kromminga:
Die Borniertheit der Toleranz. Die extraterrestrischen Strahlen meiner Jugend ? (Scotty, where ARE you?!)
In: Neue Gesellschaft fur Bildende Kunst (Hrsg.):
1-0-1 [one ’o one] intersex: Das Zwei-Geschlechter-System als Menschenrechtsverletzung.
NGBK, Berlin 2005,
ISBN 3-926796-95-2
, S. 27?31.
- Curtis E. Hinkle:
Sexistische Genetik und ambivalente Medizin.
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Band 9, 2009, S. 27?29.
- Internationale Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen (IVIM):
Intergeschlechtlichkeit ist kein medizinisches Problem!
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GID Spezial.
Band 9, 2009, S. 21?26.
- Verein Intersexuelle Menschen e. V.:
Vielfalt zulassen? Wir sind dafur! Stellungnahme des Vereins Intersexuelle Menschen e. V. zur Praimplantationsdiagnostik.
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- Elisa Barth, Ben Bottger, Dan Christian Ghattas, Ina Schneider (Hrsg.):
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ISBN 978-3-942471-03-9
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Was ist Intersexualitat? Biologische und psychische Aspekte.
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Mannlich ? Weiblich ? Menschlich. Zusammenleben in Berlin.
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Weitere
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Das verordnete Geschlecht
von
Oliver Tolmein
und Bertram Rotermund veranschaulicht Zwitter und
Geschlechterpolitik
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[142]
- 2006: Der osterreichische Dokumentarfilm
Tintenfischalarm
zeigt die Geschichte des intergeschlechtlichen
Alex Jurgen
, der geschlechtsuneindeutig geboren wurde, im Kindesalter geschlechtsangleichende Operationen und Hormonbehandlungen zur Verweiblichung erhalt und im Erwachsenenalter die Entscheidung zur operativen und hormonellen Veranderung zum Mann trifft; Alex Jurgen erstritt 2018 vor dem
osterreichischen Verfassungsgerichtshof
die rechtliche Einrichtung der dritten Geschlechtsoption ?
divers
“.
[143]
[144]
- 2007: Der argentinische Film
XXY
behandelt das Thema Intergeschlechtlichkeit und die damit verbundenen Probleme anhand der Geschichte der 15-jahrigen Alex.
[145]
[146]
- 2017: Die franzosische Dokumentation
Nicht Frau, nicht Mann!
von Regine Abadia begleitet zwei intergeschlechtliche Aktivisten/Aktivistinnen, die sich vor allem gegen chirurgische Eingriffe und Hormonbehandlungen bei Kindern nach ihrer Geburt einsetzen (produziert von
Arte France
).
[147]
- 2020: Die deutsche Dokumentation
Sex und Identitat ? Eine diverse Geschichte
von Olaf S. Muller veranschaulicht unter anderem die Vielfalt der biologischen Intergeschlechtlichkeiten (produziert vom
Mitteldeutschen Rundfunk
MDR;
Sex
steht hierbei fur ?biologisches Geschlecht“, vom englischen
sex
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[148]
- Video von
WDR-Doku
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Mannlich oder weiblich? Das dritte Geschlecht
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Intersexualitat: Warum es mehr als zwei Geschlechter gibt
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Video auf
Arte
von Olaf S. Muller:
Gesundheit und Medizin: Sex und Identitat: Eine diverse Geschichte.
In:
arte.tv.
24. April 2021, abgerufen am 24. Marz 2021 (51:36 Minuten; MDR 2020; verfugbar bis 22. Juli 2021).
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