Feudalismus

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Beeidigung Harald II von England als Vasall von Wilhelm I. (Teppich-Stickerei)

Feudalismus (wie ?feudal“ zu lateinisch feudum/feodum ? Lehen ‘), auch Feudalsystem oder Feudalitat genannt, bezeichnet in den Sozial- , Rechts- und Geschichtswissenschaften vor allem die Gesellschafts- und Wirtschaftsform des europaischen Mittelalters .

Begriffsgeschichte [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Der Begriff wurde in Frankreich im fruhen Zeitalter der Aufklarung gepragt, durch Montesquieu 1748 bekannt gemacht und insbesondere von Voltaire erlautert. In der Franzosischen Revolution 1789 spielte er als Kampfbegriff zur Charakterisierung der fruheren Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung eine große Rolle. Im deutschsprachigen Raum kam der Ausdruck Feudalismus Anfang des 19. Jahrhunderts auf. Spater klassifizierte Karl Marx den Feudalismus als notwendige Vorstufe des Kapitalismus .

Merkmale [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Eine idealtypische feudale Gesellschaft kann durch folgende Merkmale beschrieben werden:

  • Ein Landesherr uberlasst seinen militarischen Gefolgsleuten zu deren materieller Versorgung die Nutzung von Teilen seines Landes, einschließlich der darauf befindlichen Bewohner.
  • Das feodum ist ein zum Lehen (also ein im anfanglichen Grundprinzip nur zur Leihe) ubertragenes beneficium , also eine Wohltat im Sinne eines Liegenschaftsvermogens, welches nach seiner Bodenbeschaffenheit sowie personellen Ausstattung (samt der damit einhergehenden baulichen und geratschaftlichen Ausstattung) dazu geeignet und bestimmt ist, Ertrage zum Unterhalt des Lehnsinhabers zu erwirtschaften.
  • Im Anschluss an die Lehensguter entwickeln sich mit der Zeit herrschaftliche und wirtschaftliche Gegebenheiten, die verrechtlicht werden und die den Personenkreis, der zur Landbewirtschaftung bestimmt ist (Bauern), von der gesellschaftlichen Organisationsgestaltung im Sinne einer staatlich-politischen Willensbildung ausschließen, wahrend sie gleichzeitig nach oben hin, zum obersten Landesherrn, der Entstehung einer geschlossenen Staatsverwaltung entgegenwirken oder diese schwachen.

Streng genommen beinhaltet der Begriff Feudalismus daher zwei voneinander getrennte Dimensionen:

  1. das Verhaltnis des obersten Landesherrn zur Kriegerklasse und deren Gefolgschaftstreue sowie
  2. die Herrschaftsverhaltnisse der mit Lehen ausgestatteten Klasse nach unten zu der nicht belehnten Bevolkerung.

Die Produktion des Feudalismus war stark von der Naturalwirtschaft gepragt. Die Mehrheit der Bevolkerung bestand aus Bauernfamilien. Sie waren aber nicht Eigentumer des von ihnen bestellten Landes. Dieses Land war Eigentum der wenigen Grundherrn . Die Bauern befanden sich im Zustand der Horigkeit , sie waren also personlich abhangig vom Grundherrn und unfrei.

Das bedeutet:

  • Sie waren an die Scholle (das zu bestellende Land) gebunden (glebae adscripti) und hatten nicht das Recht, sie zu verlassen, weil sie als Bestandteil der Wirtschaftsguter des Lehnsgutes galten.
  • Sie waren der Rechtsprechung ihres Herrn unterworfen.
  • Sie schuldeten dem Grundherren Abgaben, sowohl in Form von Arbeitsleistungen ( Fron ) auf dem direkt vom Grundherren bestellten Land (Salland), als auch in Form von Naturalabgaben , die aus demjenigen Stuck Land aufgebracht werden mussten, das sie selbst bewirtschafteten ( Zehnt ). Die Frondienste oder die Naturalabgaben konnten im Verlauf der Entwicklung auch durch Geldabgaben abgelost werden.

Allerdings konnten Teile dieser Rechte auch in verschiedenen Handen sein, beispielsweise als getrennte Gerichts- und Grundherrschaft. Der Grundherr war gegenuber den Horigen auch nicht vollkommen souveran in der Erteilung und Entziehung des Rechtes auf Landnutzung. Wesentliche bekannte Formen sind ein erbliches Nutzungsrecht innerhalb der Familie des Horigen, ein Nutzungsrecht auf Lebenszeit oder auf mehrere Jahre sowie als fur die Horigen unsicherste Form ein jederzeit widerrufbares Nutzungsrecht. [1]

Das Eigentum des Grundherrn war auch nur bedingt, denn er hatte es als Lehen von einem hohergestellten Adligen erhalten, dem er dafur Kriegsdienste schuldete und dessen Vasall er war. Allerdings konnten auch Landesherren oder der Konig unmittelbar als Grundherren auftreten. Tendenziell waren Landes- und Grundherr im fruhen Feudalwesen haufiger identisch. Im weiteren Zeitverlauf nahmen mittelbare Grundherrschaften zu, wahrend die Domanen oder Kammergut als Reste unmittelbarer landesherrlicher Grundherrschaft verblieben.

Zur Beurteilung des Feudalismus als Wirtschaftssystem gehort auch die Beobachtung, dass ein Teil der Einnahmen des Feudalherrn wieder verteilt wurde, als patriarchalisches Almosen, als Geschenk an ?treue“ Vasallen o. a. Es war namlich Teil der Aufgabe des Feudalherrn, fur einen Ausgleich zu sorgen (die allerdings in der Realitat von den Feudalherren nur selten voll erfullt wurde ? außerdem wich das damalige Gerechtigkeitsideal zuweilen recht deutlich vom heute verstandenen ab). Das Interesse der Feudalherren an moglichst großen Uberschussen der bauerlichen Haushalte fuhrte zu einer allgemeinen Produktivitatssteigerung. Dies hatte gesamtgesellschaftlich auch die Folge eines großeren Potenzials fur nicht-landwirtschaftlich produktive Menschen, insbesondere Handwerker an Herrensitzen und in Stadten. [2]

Die Kette dieser abhangigen, mit Kriegsdienst verbundenen Lehen reichte bis zum Konig , dessen hoheitliche Domane letzten Endes alles Land war. In der mittelalterlichen Vorstellung war er allerdings auch nur ein Vasall, er war Gott unterstellt. Die politische Souveranitat war nach unten hin quasi parzelliert und das Feudalsystem damit der Trager von Machtausubung, offentlicher Ordnung und Verwaltung bis hinab zur ortlichen Ebene. Der Konig war in diesem System nur das Oberhaupt seiner Vasallen, an die er durch gegenseitige Bande der Lehnstreue gebunden war, aber er hatte keinen direkten Zugang zu einem Großteil seiner Untertanen.

Hieraus ergibt sich eine bestimmte Entwicklungsdynamik:

  1. Aus der germanischen Zeit uberlebte lange Zeit das dorfliche Gemeindeland, die Allmende . Die Zersplitterung der Souveranitat erschwerte die Aneignung dieses Landes durch die Feudalherren und starkte die Stellung der Bauern.
  2. Die Parzellierung der Souveranitat unterstutzte die Existenz und Entwicklung von Stadten . Die Stadtburger beschaftigten sich mit Handwerk und Handel und erkampften mit der Zeit die Autonomie (siehe auch unter Kommunen ).
  3. Die Zersplitterung der Souveranitat kann zu chaotischen Zustanden fuhren und damit den Bestand des feudalen Staates gefahrden. Deshalb waren die Konige bestrebt, ihre Rechte uber die reinen Feudalbeziehungen hinaus auszuweiten und direkte Beziehungen zu ihren Untertanen zu etablieren, zum Beispiel in Form des Rechtes der Steuererhebung. Dadurch gerieten sie in einen Gegensatz zum Adel .
  4. Die Kirche , im Altertum ein Bestandteil des Staatsapparates, wurde im Mittelalter eine selbststandige Institution, die sich ebenfalls feudalisierte. Daraus resultieren haufige Spannungen zwischen weltlichen und religiosen Herrschaften, die zu einem Riss in der feudalen Legitimitat fuhren konnten. Ein Beispiel hierfur ist der Investiturstreit .

Einzelne Aspekte des Feudalismus konnten sich mancherorts fur lange Zeit in Gesellschaften erhalten, die insgesamt nicht mehr feudal gepragt waren. So folgte das schottische Immobilienrecht noch bis 2002 einem als feudal tenure bezeichneten System, in dem etwa der Kaufer eines Grundstucks formell Vasall eines Lehnsherrn wurde. [3]

Entstehung und Geschichte [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Die feudale Gesellschaft entstand im Fruhmittelalter durch eine Verschmelzung der sich auflosenden antiken Gesellschaft und der keltischen und germanischen Gesellschaften. Dabei durfte das romische Kolonat mit seinen halbfreien Bauern, das vor allem außerhalb Italiens verbreitet war, eine wesentliche Quelle fur das Feudalsystem gewesen sein. Moglicherweise war auch die antike Sklaverei bereits zu diesem Zeitpunkt und spater wiederholt durch die Rezeption romischer Uberlieferungen ein Vorbild. Auch die heute nicht mehr klar fassbare keltische Vasallitat mag sich fortgesetzt haben. Die personliche Gefolgschaft durfte dabei das wesentliche von den Germanen ubernommene Element gewesen sein, auch wenn es mit dem Patronat auch ein ahnliches romisches System gab. [4]

Nach der Volkerwanderung entstanden auf dem Gebiet des ehemaligen Romischen Reiches mehrere germanische Konigreiche. Die oben beschriebenen feudalen Institutionen entwickelten sich erst nach dem Jahr 800 im Reich der Franken , als eine vormals zum Teil freie Bauernschaft durch standige Kriege und Invasionen der Wikinger , Sarazenen , Magyaren usw. okonomisch ruiniert und so in die Abhangigkeit von den Feudalherren gezwungen wurde. Der Eingang in die Vasallitat bot auch eine Moglichkeit, die personliche Teilnahme an kostspieligen Kriegszugen zu vermeiden. Andere Autoren sehen in der Schwachung der Ressourcen der Zentralgewalt durch die Invasionen und im Verlust ihrer Fahigkeit zur Durchsetzung allgemein anerkannter Rechte, also im Verlust ihres Gewaltmonopols , eine Hauptursache des Aufstiegs lokaler Herrschaften, welche nur in befestigten Wohnsitzen (Castlelanny) ihre Besitzrechte sichern und gegebenenfalls gewaltsam durchsetzen konnten. [5]

Anfangs durfte der rechtliche Status der Bauern sich nicht wesentlich von dem der Freien unterschieden haben, im Verlauf der Jahrhunderte wurde die personliche Freiheit aber immer weiter eingeschrankt. [6] Es gab aber auch gewaltsame Einverleibungen durch Feudalherren (beispielsweise im Stedingerkrieg ).

  • In heute zu Deutschland zahlenden Gebieten liegen die Anfange des Feudalismus im 9. Jahrhundert. Dieser erreichte im 12. Jahrhundert mit der vor allem von der marxistischen Literatur so bezeichneten Entstehung der Ersten Leibeigenschaft seine hochmittelalterliche Auspragung. Im 16. Jahrhundert kommt es zu einer Neubewertung der Herrschaftsverhaltnisse, welche in Deutschland ostlich der Elbe zur sogenannten Zweiten Leibeigenschaft fuhren, wahrend in anderen Teilen Deutschlands der Absolutismus die symbolische Aufladung des Landesherrn und Adels mit Macht demonstrativ vorantreibt, gleichzeitig aber eine Vereinheitlichung des Staates von oben herab initiiert wird. Die burgerliche Revolution von 1848 gilt in Deutschland als Ende feudaler Herrschaftsprinzipien (mit Ausnahme Mecklenburgs: dort 1918).
  • Die Kernregion des europaischen Feudalismus war der Norden des heutigen Frankreich , das dem idealtypischen Feudalsystem sehr viel mehr als jede andere Region entsprach. Hier existierte eine einzigartig dichte Lehnshierarchie mit vielfaltigen Ebenen der Subinfeudation .
  • In Sudeuropa ( Spanien , Languedoc , Italien ) waren die Uberbleibsel der Antike starker. So war verhaltnismaßig sehr viel mehr Land absolutes, nicht lehnsgebundenes Allod (Eigentum). Zudem verschwanden die Stadte nicht so weitgehend wie in Nordeuropa und sie erlebten im Languedoc und in Italien bereits ab dem 10. Jahrhundert eine neue Blutezeit.
  • In Nordeuropa ( Sachsen , England , Skandinavien ) mit starkeren Uberresten der germanischen Gesellschaften dauerte es viel langer, bis es zur Etablierung der Leibeigenschaft kam. In Sachsen und teilweise auch in anderen Gebieten Deutschlands bis zum 12. Jahrhundert. Dort kam es nicht zu einer langsamen Entwicklung des Feudalsystems. Vielmehr wurde das in den frankischen Kernlanden bereits etablierte System in Ganze ?importiert“. [7] In Schweden konnte sie sich nie vollstandig durchsetzen, in Norwegen uberhaupt nicht. In England wiederum verschwand die autonome Volksgerichtsbarkeit nie vollstandig. Aus ihr entwickelte sich das Common Law .

Im Verlauf des Mittelalters und der Neuzeit veranderte sich der Feudalismus nicht nur aufgrund der immer starkeren Rechtsstellung der Feudalherren gegenuber den Horigen, sondern auch wegen der Entwicklung des gesamten Wirtschaftssystems. Im Bereich des spateren Deutschland beschrankten sich die Wirtschaftsverhaltnisse bis etwa 1150 weitgehend auf die Leistungserbringung innerhalb der Villikation oder allenfalls in regionalen Bezugen. Daran anschließend entstanden erste Handelsbeziehungen im Rahmen der sich entwickelnden Geldwirtschaft, meist auf regionale stadtische Zentren bezogen. Von etwa 1470 an weitete sich der Handel mit Agrarprodukten hin zu europaweiten, spater interkontinentalen Handelsstromen hin aus. [8] Mit zunehmendem Geldmangel der Zentralgewalten wurden diese zur Gewahrung von Privilegien und Konzessionen im Austausch gegen Geld gezwungen, was ihre Stellung gegenuber den Feudalherren weiter schwachte. [9]

Refeudalisierung [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Nach Gunter Vogler gerieten Deutschland und Europa Ende des 15. Jahrhunderts in die Epoche des Ubergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus , wodurch die konstituierenden Merkmale fur den Typus fruhburgerliche Revolutionen erreicht wurden. Europa trat damit in die Epoche burgerlicher Revolutionen ein, in denen sich das Burgertum schrittweise die politische Macht erkampfte. [10] Wahrend sich in den Niederlanden und England die burgerliche Klasse allmahlich etablieren konnte, behielt der Adelsstand im zentralen und ostlichen Europa bis ins fortgeschrittene 19. Jahrhundert seine Machtpositionen, und das Burgertum wurde zuruckgedrangt.

Refeudalisierung im engeren Sinne bedeutet die Wiederherstellung einer feudalen Ordnung, also die Ruckkehr zu originaren Formen feudaler Organisation von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, wie sie im 18. und 19. Jahrhundert in Sud- und Sudosteuropa vorkam.

Neo-Feudalismus [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Neo-Feudalismus bedeutet die teilweise oder umfassende spontane Entstehung oder planmaßige Einfuhrung feudalismus-analoger Organisationsformen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft wahrend der Hochphase der kapitalistischen Entwicklung. Zu Vertretern dieser These im Hinblick auf die USA gehoren Emmanuel Todd , Joel Kotkin [11] und Vladimir Shlapentokh , der diese Tendenz auch fur Russland nach 1991 sowie auch fur die USA konstatiert. Die Sicherung von Monopol renten fur Unternehmen in Form von Privilegien, Lizenzen, Konzessionen, Subventionen oder der Bereitstellung offentlicher Guter im Austausch gegen die Forderung von Politikern z. B. durch die Finanzierung von Parteien und Wahlkampfen sei ein feudales Merkmal moderner politischer Systeme; Unternehmen fordern Politiker, die ihnen Monopol- oder Zusatzrenten versprechen, denen keine adaquaten Leistungen gegenuberstehen. [12]

Nationalsozialistische Herrschaft [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Der amerikanische Historiker Robert Lewis Koehl pragte ? orientiert am Feudalismus-Konzept ? den Begriff ? Neofeudalismus “ zur Charakterisierung der nationalsozialistischen Herrschaft insbesondere im von Deutschland deutsch besetzten Osteuropa, wo die deutsche Herrschaft personalisiert war und ortliche Befehlshaber eine absolute Machtfulle besaßen. Hinweisend auf Gemeinsamkeiten zwischen den charismatischen Elementen mittelalterlicher und nationalsozialistischer Herrschaft versuchte er damit, die irrationalen Aspekte des Nationalsozialismus zu verdeutlichen. Koehls Annahme, diese feudalistischen Machtbeziehungen waren der atavistischen Ideologie des Nationalsozialismus entsprungen, folgt die neuere Forschung jedoch nicht. [13]

Funktionsverlust der Offentlichkeit und des Staates [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Angesichts aktueller Entwicklungen im 20. und 21. Jahrhundert sprechen Sozialwissenschaftler wie Jurgen Habermas heute von einer ?Refeudalisierung“ der Gesellschaft, indem ?mit der Verschrankung und privatem Bereich nicht nur politische Instanzen gewisse Funktionen in der Sphare des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit, sondern auch umgekehrt gesellschaftliche Machte politische Funktionen ubernehmen“. [14] [15]

Charakteristika seien unter anderem die zunehmende Ungleichheit der Vermogensverteilung , die bloße Inszenierung von Offentlichkeit, das Darstellen von Partikularinteressen von Personen oder Verbanden als Allgemeininteressen, der Ausschluss der Offentlichkeit bei Entscheidungen von offentlichem Interesse, soziale Herkunft als entscheidender Faktor fur Wohlstand. [16] [17] [18]

Statusvererbung [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Die allgemeine Fokussierung auf Geldvermogen und Status als außerlichen Messgroßen des Erfolgs (statt auf Leistung) und deren zunehmende Vererbung ist ein weiterer Aspekt einer Refeudalisierung der Gesellschaft,

?in der Reichtum ebenso wie Armut innerhalb abgegrenzter sozialer Gruppen ?vererbt‘ werden, und zwar nicht nur durch die Weitergabe bzw. das Fehlen von materiellen Gutern, sondern ? sozialisatorisch weit fruher und tiefgreifender ? insbesondere durch die soziale Determination von Bildungs- und Aufstiegschancen. So sind heute die Chancen eines Kindes aus einem Elternhaus mit hohem sozialem Status mehr als siebenmal großer, ein Studium aufzunehmen, als die eines Arbeiterkindes. Einem ?Adel der Chancen‘ am einen, stehen am anderen Ende die Gruppen der Besitz- und Ressourcenlosen ohne Perspektiven gegenuber.“ [19]

Selbstrekrutierung der Managerklasse, Entkopplung von Privilegien und Leistung [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Im Finanzmarktkapitalismus werden nach Auffassung des Hamburger Soziologen Sighard Neckel Einkommen und Macht nach vormodernen Mustern verteilt. ?Wahrend auf der einen Seite die Zahl derjenigen bestandig wachst, die unter Bedingungen arbeiten, die eher an Leibeigenschaft und Sklaverei erinnern als an burgerlich-kapitalistische Vertragsverhaltnisse, werden in der Beletage die Privilegien nach ebenso vormodernen Methoden verteilt: Reichtum wird vor allem vererbt, eine standisch organisierte Managerklasse schanzt sich exorbitante Gehalter zu.“ [20] [21] In die gleiche Richtung argumentiert der Historiker Olaf Kaltmeier fur Lateinamerika, der hier im fruhen 21. Jahrhundert eine Tendenz zur Refeudalisierung ausmacht. Eine solche vom großen Kapital getriebene Tendenz sieht auch Vladimir Shlapentokh fur die USA und das postkommunistische Russland. [22]

Neoreaktionare Bewegung [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Die neoreaktionare Bewegung strebt die Umwandlung von Staaten in neofeudale Aktiengesellschaften an, welche von Anteilseignern und einem Geschaftsfuhrer beherrscht werden sollen. [23]

Feudalismus als universelle Form sozialer Interaktion [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

In Anlehnung an die formale Soziologie Georg Simmels sieht Vladimir Shlapentokh den Feudalismus nicht nur als spezifische Gesellschaftsformation, sondern als eine besondere Interaktionsform an, die uber alle Epochen und Gesellschaftsformationen verbreitet war und auch in der Moderne nie ganz verschwand. Sie ergibt sich aus dem Bedurfnis nach Schutz und der Bereitschaft der Menschen, fur diesen Schutz mit militarischer Gefolgschaft, Naturalien, Arbeitsleistung oder Geld zu zahlen. In dieser Perspektive konnen mittelalterliche Gefolgschaften, Systeme der politischen Patronage und Begunstigung im Tausch gegen Wohlverhalten, Abhangigkeitsstrukturen in der Netzwerkokonomie oder Schattenwirtschaft, Oligarchenherrschaften mit ihrem Klientelismus , aber auch hierarchisch organisierte Mafiabanden als feudale Interaktionsformen angesehen werden. [24] Ahnlich argumentiert der Politikwissenschaftler und Anthropologe Aaron B. Wildavsky , der die Existenz feudaler Strukturen auch im Reich der Kassiten , im Mittleren Reich Agyptens und in Japan (bis zum 18. Jahrhundert) feststellt. [25] Shlapentokh und der Soziologe Joshua Woods [26] postulieren, dass heutige gesellschaftliche Strukturen, die vom Idealtypus des mittelalterlichen europaischen Feudalismus abweichen, nicht als dessen Varianten, sondern als Mischformen verschiedener Gesellschaftssegmente einschließlich verschiedener Wirtschafts- und politischer Herrschaftsformen (liberal-kapitalistisch, oligarchisch, tribalistisch, klientelistisch, autoritar usw.) betrachtet werden sollten, wie sie z. B. in den USA und in Russland nebeneinander existieren konnen. Die Fortexistenz und Neuentstehung feudaler Interaktionsmuster und Strukturen wie die Herausbildung von Politikerdynastien, Privatarmeen oder Gated Communities sei von Soziologen in der Tradition Max Webers oder Anthony Giddens , die sich einem Modernisierungs- oder Rationalisierungsansatz verschrieben haben, zu lange nicht beachtet worden. Der von Shlapentokh vertretene ?segmentare“ Ansatz widerspricht allen systemisch-holistischen und integrativen Gesellschaftsmodellen wie etwa dem von Talcott Parsons , der von der Verdrangung partikularer durch universelle Werte ausgeht, oder der Systemtheorie Niklas Luhmann . Hingegen erscheint die Annahme ?hybrider“ Gesellschaften bzw. Okonomien mit dem marxistischen Gesellschaftsmodell (etwa mit den Theorien Erik Olin Wrights uber die Klassenspaltung) teilweise vereinbar, sofern dieses nicht von die gesamte Gesellschaft durchdringenden einheitlichen Produktionsverhaltnissen ausgeht. [27]

Siehe auch [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Literatur [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

  • Otto Brunner : ?Feudalismus“. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte (= Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Jahrgang 1958, Nr. 10).
  • Jan Dhondt : Das fruhe Mittelalter (= Fischer Weltgeschichte . Band 10). Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 1968.
  • Georges Duby : Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus (Originaltitel: Les trois ordres ou l’imaginaire du feodalisme ). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-518-28196-8 .
  • Natalie Fryde (Hrsg.): Die Gegenwart des Feudalismus (Originaltitel: The presence of feudalism ). Vandenhoeck & Ruprecht, Gottingen 2002, ISBN 3-525-35391-X .
  • Alain Guerreau : L’avenir d’un passe incertain. Quelle histoire du moyen age au XXI siecle . Edition Le Seuil, Paris 2001, ISBN 2-02-049697-6 .
  • Alain Guerreau: Fief, feodalite, feodalisme. Enjeux sociaux et reflexion historienne . In: Annales. Economies, societes, civilisations . Bd. 45 (1990), S. 137?166.
  • Friedrich-Wilhelm Henning : Deutsche Agrargeschichte des Mittelalters. 9. bis 15. Jahrhundert . Ulmer, Stuttgart 1994, ISBN 3-8001-3092-0 .
  • Hans Kammler : Die Feudalmonarchien. Politische und wirtschaftlich-soziale Faktoren ihrer Entwicklung und Funktionsweise , Bohlau, Koln 1974, ISBN 3-412-02474-0 .
  • Ludolf Kuchenbuch : Marx, feudal. Beitrage zur Gegenwart des Feudalismus in der Geschichtswissenschaft, 1975?2021. Dietz Verlag, Berlin 2022, ISBN 978-3-320-02390-4 .
  • Max Weber : Agrarverhaltnisse im Altertum (3. Fassung). In: Handworterbuch der Staatswissenschaften . Band 1, 3. Auflage. Jena 1909, S. 52?188.

Weblinks [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Commons : Feudalismus  ? Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wiktionary: feudal  ? Bedeutungserklarungen, Wortherkunft, Synonyme, Ubersetzungen
Wiktionary: Feudalismus  ? Bedeutungserklarungen, Wortherkunft, Synonyme, Ubersetzungen

Einzelnachweise [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

  1. Friedrich-Wilhelm Henning: Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands, Schoningh, 2003. S. 39.
  2. Friedrich-Wilhelm Henning: Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands, Schoningh, 2003. S. 37 f.
  3. Andy Wightman: The Abolition of Feudal Tenure etc. (Scotland) Act 2000. A Practical Guide for Community Groups.
  4. Friedrich-Wilhelm Henning: Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands, Schoningh, 2003. S. 43.
  5. Marc Bloch : Feudal Societies . University of Chicago Press, Chicago 1989.
  6. Friedrich-Wilhelm Henning: Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands, Schoningh, 2003. S. 43.
  7. Friedrich-Wilhelm Henning: Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands, Schoningh, 2003. S. 44.
  8. Friedrich-Wilhelm Henning: Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands, Schoningh, 2003. S. 53.
  9. Vladimir Shlapentokh, Joshua Woods: Feudal America . Pennsylvania State University, 2011, S. 42.
  10. Martin Roy: Luther in der DDR: Zum Wandel des Lutherbildes in der DDR-Geschichtsschreibung ; mit einer dokumentarischen Reproduktion, Band 1 von Studien zur Wissenschaftsgeschichte, Dr. Dieter Winkler, 2000, S. 195
  11. Joel Kotkin: The Coming of Neo-Feudalism . 2020.
  12. Vladimir Shlapentokh, Joshua Woods: Feudal America . Pennsylvania State University, 2011, S. 43.
  13. Robert Koehl: Feudal Aspects of National Socialism (1960). In: Neil Gregor (Hrsg.): Nazism . Oxford UP, Oxford 2000, S. 183.
  14. Jurgen Habermas: Strukturwandel der Offentlichkeit , Untersuchungen zu einer Kategorie der burgerlichen Gesellschaft. Frankfurt am Main 1990, S. 336f.
  15. Sighard Neckel : Refeudalisierung der Okonomie. Max-Planck-Institut fur Gesellschaftsforschung, MPIfG Working Paper 10/6, Koln 2010. Archivierte Kopie ( Memento vom 9. August 2020 im Internet Archive )
  16. Jurgen Habermas : Strukturwandel der Offentlichkeit , 1990.
  17. Sighart Neckel: Refeudalisierung der Okonomie . Max-Planck-Institut fur Gesellschaftsforschung, Koln 2010.
  18. Rainer Forst: Die erste Frage der Gerechtigkeit . 2005.
  19. Rainer Forst : Die erste Frage der Gerechtigkeit. 2005 S. 24.
  20. Sighard Neckel: Refeudalisierung der Okonomie. Max-Planck-Institut fur Gesellschaftsforschung, MPIfG Working Paper 10/6, Koln 2010. [ Archivierte Kopie ( Memento vom 9. August 2020 im Internet Archive ) [1]]
  21. Neofeudalismus ? Die Wiederkehr der Standegesellschaft | Heinrich-Boll-Stiftung . In: Heinrich-Boll-Stiftung . 14. Juni 2016 ( boell.de [abgerufen am 18. November 2017]).
  22. Vladimir Shlapentokh, Joshua Woods: Feudal America: Elements of the Middle Ages in Contemporary Society. Penn Stats University, 2011.
  23. Andrew Woods: Cultural Marxism and the Cathedral: Two Alt-Right Perspectives on Critical Theory , in: Christine M. Battista u. Melissa R. Sande (Hrsg.): Critical Theory and the Humanities in the Age of the Alt-Right , Basel 2019, S. 40.
  24. Vladimir Shlapentokh, Joshua Woods: Feudal America . Pennsylvania State University, 2011, S. 4 f.
  25. Aaron B. Wildavsky: Searching for safety . Transaction Books, New Brunswick 1988.
  26. Joshua Woods: Medieval Security in the Modern State . In: Space and Polity vol. 14 (2010), S. 251?269. DOI:10.1080/13562576.2010.532953
  27. Vladimir Shlapentokh, Joshua Woods: Feudal America . Pennsylvania State University, 2011, S. 5 f., 16.