Slawische Nasalvokale

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Die slawischen Nasalvokale sind die urslawischen Phoneme *? und *? und ihre Fortsetzungen in den heutigen slawischen Sprachen bzw. die sie reprasentierenden Buchstaben des kyrillischen und glagolitischen Alphabets .

Die Laute *? und *?

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Die urslawischen Laute, die als *? und *? umschriftet werden, muss man sich als die Nasalvokale [ ?? ] und [ ?? ] (ahnlich wie in frz. bass in bzw. mout on ) vorstellen. Sie sind aus indogermanischen Verbindungen mit n und m entstanden, und zwar *? aus silbischen -m?- und -n?- sowie -em- und -en- , *? hingegen aus -am- , -an- , -om- und -on- , jeweils wenn diese zwischen Konsonanten standen.

Beispiele:

  • ursl. *pa-m?tь ?Gedachtnis‘ ist zu idg. *mn?tis gebildet, auf das auch lat. mens (Genitiv mentis ) ‘Geist, Verstand’ zuruckgeht.
  • ursl. *z?bъ ?Zahn‘ ist aus idg. *g?ombhos entstanden, das im Deutschen zu Kamm geworden ist.
  • In *p?tь ?funf‘ steckt idg. *penkti , aus dem sich auch dt. funf , lat. quinque und griech. π?ντε/ pente entwickelt haben.

Weitere Entwicklung

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In den allermeisten slawischen Sprachen sind die urslawischen Nasalvokale entnasaliert worden, also zu Oralvokalen geworden. Nur im Polnischen und Kaschubischen sind sie weitgehend als Nasalvokale erhalten.

Urslawisch *? *p?tь *? *z?bъ
westslaw. Polnisch i?, i? pi?? ?, ? z?b
Tschechisch ?, a, ja, i p?t u, i zub
ostslaw. Russisch ’a пять (pjat’) зуб (zub)
sudslaw. Serbokroatisch e pet zub
Slowenisch pet o zob
Bulgarisch пет (pet) ? зъб (z?b)

Im Alt polnischen sind die beiden urslawischen Nasalvokale zusammengefallen (vielleicht zu [ ?? ] wie in frz. ch an ce). Zwischen etymologischem *? und *? konnte man also nicht mehr anhand der Aussprache des Nasalvokals unterscheiden, sondern nur noch daran, dass *? im Gegensatz zu *? den vorausgehenden Konsonanten palatalisierte . (Diese Palatalisierung wird in der heutigen polnischen Orthographie durch ein stummes i hinter dem Konsonanten bezeichnet, z. B. z?b ?Zahn‘ < *z?bъ vs. zi?b ?Kalte‘ < *z?bъ .)

Dieser altpolnische Nasalvokal konnte lang oder kurz sein. Im 15. Jahrhundert entwickelte sich aus dieser quantitativen Unterscheidung wieder eine qualitative: Der lange Nasalvokal (naturlich unabhangig davon, ob er aus *? und *? entstanden war) wird seitdem als o -Nasal [ ?? ] gesprochen (also ganz ahnlich wie fruher das urslawische *? ) und der kurze als e -Nasal [ ?? ] (also wie *? ). Inzwischen gibt es im Polnischen keine Langenunterschiede mehr, so dass die beiden Vokale nur noch die Qualitat unterscheidet.

Der e -Nasal wird in der heutigen polnischen Orthographie als ? , also e mit Ogonek , geschrieben, der o -Nasal allerdings aus historischen Grunden mit dem seinerzeit fur den einheitlichen Nasalvokal benutzten Buchstaben ? , also a mit Ogonek. (Er wird aber keineswegs als a -Nasal [ ?? ] gesprochen!)

Zu Details der Aussprache der Nasalvokale im heutigen Polnischen siehe Aussprache des Polnischen .

Das Kaschubische verfugt uber zwei Nasalvokale, und zwar den hinteren Nasalvokal ? und den vorderen Nasalvokal a . Das ? wird dabei grundsatzlich [ ?? ], das a [ ?? ] ausgesprochen.

Als die slawischen Schriften erfunden wurden, wurden die urslawischen Nasalvokale im Altkirchenslawischen offensichtlich noch als solche gesprochen, denn sowohl das glagolitische als auch das kyrillische Alphabet haben eigene Buchstaben zur Wiedergabe dieser Laute.

In dem von Konstantin-Kyrill ursprunglich geschaffenen glagolitischen Alphabet gab es vermutlich nur zwei Nasalvokalbuchstaben: fur ? und fur ? (oder vielleicht ursprunglich *?? ). Diese ?Urglagolica“ ist jedoch als solche nicht uberliefert. Vielleicht wurde sie von Kliment von Ohrid reformiert und so in den klassischen Zustand versetzt. [1] Der in den Handschriften uberlieferte Zustand enthalt vier Nasalvokalbuchstaben fur ? und ? sowie die prajotierten Varianten j? und j? , wobei nur fur *? erhalten ist, wahrend die anderen drei Buchstaben als digraphische Ligaturen gebildet sind, als deren zweiter Bestandteil nur die Nasalitat anzuzeigen scheint: fur j? mit (e) , fur ? mit (o) und sogar fur j? mit dem alten Nasalvokal , der nun allein nicht mehr vorkommt.

Vier kyrillische Buchstaben
Vier kyrillische Buchstaben

Das kyrillische Alphabet der altkirchenslawischen Sprachdenkmaler enthalt ebenfalls die vier Nasalvokalbuchstaben ? fur ? , ? fur ? , ? fur j? und ? fur j? . Dabei ist ? durch 90°-Drehung aus dem glagolitischen entstanden, wahrend ? ursprunglich nur eine eckige Variante desselben ist. Die beiden prajotierten Buchstaben sind als Ligatur mit I als erstem Bestandteil entstanden.

Kursive Formen von ja (oben) und jus (unten) aus russischen Handschriften des 15.?17. Jh.

In der weiteren Entwicklung der kyrillischen Schrift wurden die prajotierten Nasalvokalbuchstaben bald aufgegeben. Im Russisch - Kirchenslawischen ist ? bis heute als Zeichen fur ja (der lautgeschichtlichen Weiterentwicklung von *? , siehe oben ) neben dem prajotierten a erhalten. Bei der Alphabetreform Peters des Großen 1708 wurde letzterer Buchstabe aus der burgerlichen Schrift entfernt, wahrend eine kursive Form des Nasalbuchstabens ? in Anlehnung an das lateinische R zu Я wurde.

Der Buchstabe ? fur den hinteren Nasalvokal, der im Ostslawischen mit u zusammengefallen ist, wurde dort bald aufgegeben. Im bulgarischen Alphabet hingegen hat ? bis 1946 als Buchstabe fur ​[⁠ ? ⁠]​ uberlebt, das dort aus *? entstanden ist. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ? zugunsten des fur den gleichen Laut stehenden Ъ aufgegeben. Hierdurch entstanden nun auch Worter, welche mit Ъ beginnen (alt ?гълъ mit stummem End-Ъ → heute ъгъл ?Winkel‘ sowie davon abgeleitete Begriffe).

Als Name fur alle vier Nasalvokale ist nur russisch und bulgarisch юс (jus) belegt. Vermutlich hatten die Nasalvokalbuchstaben ursprunglich alle auf diese Art gebildete Namen, also *?sъ (?), *?sъ (?), *j?sъ (?) und *j?sъ (?). Tatsachlich in Texten belegt sind aber nur großes Jus (z. B. russisch юс большой (jus bol?oj) , bulgarisch голям юс (goljam jus) ) fur ? und kleines Jus (z. B. russisch юс малый (jus malyj), bulgarisch малък юс (mal?k jus)) fur ?. Bei den Namen großes und kleines Jus bedeuten groß und klein nicht Majuskel und Minuskel desselben Buchstabens, sondern zwei verschiedene Buchstaben, die jeweils eine Majuskel- und Minuskel-Form haben. Im Gegensatz zu den meisten anderen kyrillischen Buchstaben haben die Nasalvokale also anscheinend keine traditionellen Namen . Fur ? und ? sind keine alten Namen belegt; in der Wissenschaft benutzt man die Namen jotiertes kleines Jus bzw. jotiertes großes Jus (z. B. russisch юс малый йотированный (jus malyj jotirovannyj) , юс большой йотированный (jus bol?oj jotirovannyj) ).

In Bulgarien, wo der Buchstabe ? erst 1946 abgeschafft wurde, war die Bezeichnung гол?мъ юсъ ( gol?m jus ?großes Jus‘) bis dahin im Alltagsgebrauch. Daneben wurde der Buchstabe auch широко ? ( ?iroko ? ?breites ?‘) (im Gegensatz zu dem schmaleren Buchstaben Ъ (?) mit dem gleichen Lautwert) oder (гол?ма) носовка ?(großes) Nasal‘ genannt, obwohl der Buchstabe zu diesem Zeitpunkt in der Standardsprache [2] nicht mehr nasaliert ausgesprochen wurde.

Da das kyrillische Zahlensystem auf das griechische zuruckgeht, haben Nasalvokale, die keine Entsprechung im griechischen Alphabet haben, keine Zahlenwerte. Allerdings wurde in den fruhesten Texten der e -Nasal ? fur das sehr ahnlich aussehende griechische Sampi (? oder ?) eingesetzt, das fur 900 stand. In jungeren Texten steht in dieser Funktion  Ц .

Die glagolitischen Zahlen richten sich ohne Rucksicht auf griechische Entsprechungen nach der Reihenfolge des glagolitischen Alphabets und enthalten auch Tausenderzeichen. Daher erscheint es plausibel, anzunehmen, dass auch die Nasalvokalbuchstaben hier in irgendeiner Form einbezogen waren und Zahlenwerte hatten. Allerdings gibt es nur fur einen zweifelhaften Beleg als Zeichen fur 9000, die anderen Nasalvokale sind als Zahlzeichen uberhaupt nicht belegt.

Computerdarstellung

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Unicodenummer Zeichen
(400 %)
Kategorie Offizielle Bezeichnung Beschreibung
U+0466 (1126) Ѧ Ѧ Groß­buchstabe CYRILLIC CAPITAL LETTER LITTLE YUS Kyrillischer Großbuchstabe kleines Jus
U+0467 (1127) ѧ ѧ Klein­buchstabe CYRILLIC SMALL LETTER LITTLE YUS Kyrillischer Kleinbuchstabe kleines Jus
U+0468 (1128) Ѩ Ѩ Groß­buchstabe CYRILLIC CAPITAL LETTER IOTIFIED LITTLE YUS Kyrillischer Großbuchstabe prajotiertes kleines Jus
U+0469 (1129) ѩ ѩ Klein­buchstabe CYRILLIC SMALL LETTER IOTIFIED LITTLE YUS Kyrillischer Kleinbuchstabe prajotiertes kleines Jus
U+046A (1130) Ѫ Ѫ Groß­buchstabe CYRILLIC CAPITAL LETTER BIG YUS Kyrillischer Großbuchstabe großes Jus
U+046B (1131) ѫ ѫ Klein­buchstabe CYRILLIC SMALL LETTER BIG YUS Kyrillischer Kleinbuchstabe großes Jus
U+046C (1132) Ѭ Ѭ Groß­buchstabe CYRILLIC CAPITAL LETTER IOTIFIED BIG YUS Kyrillischer Großbuchstabe prajotiertes großes Jus
U+046D (1133) ѭ ѭ Klein­buchstabe CYRILLIC SMALL LETTER IOTIFIED BIG YUS Kyrillischer Kleinbuchstabe prajotiertes großes Jus
  • Употр?ба на ? ? Liste bulgarischer Worter, die vor der Rechtschreibreform 1945 mit ? (goljam Jus) geschrieben wurden (in bulgarischer Sprache)

Einzelnachweise

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  1. Vgl. Nicolina Trunte: Πρ?? τ? σαφ?στερον. Zu Reformen in der glagolitischen Schrift . In: Marija-Ana Durrigl u. a. (Hrsg.): Glagoljica i hrvatski glagolizam. Zagreb / Krk 2004, S. 419?434.
  2. aber vgl. Karte der Bulgarischen Aussprache