Wilhelm II.
, mit vollem Namen
Friedrich Wilhelm Viktor Albert von Preußen
(*
27. Januar
1859
in
Berlin
; †
4. Juni
1941
in
Doorn
), aus dem Haus
Hohenzollern
war von 1888 bis 1918 letzter
Deutscher Kaiser
und
Konig von Preußen
. Im sogenannten
Dreikaiserjahr
folgte der 29-jahrige Wilhelm II. seinem nur 99 Tage herrschenden, 56-jahrigen Vater
Friedrich III.
und seinem 90-jahrigen Großvater
Wilhelm I.
auf den Thron
Preußens
und des
Deutschen Reiches
. Durch seine Mutter
Victoria von Großbritannien und Irland
war er Enkel der britischen Konigin
Victoria
.
Aufgrund seiner traditionellen Herrschaftsauffassung zeigte Wilhelm II. wenig Verstandnis fur das Wesen der
konstitutionellen Monarchie
und bestand darauf, die Regierungspolitik personlich zu leiten. Durch sein als undiplomatisch und großspurig empfundenes Auftreten verursachte er mehrfach innen- und außenpolitische Krisen. Der von ihm stark forcierte Ausbau der
Kaiserlichen Marine
und die damit verbundene sogenannte
Weltpolitik
wurden zum Markenzeichen der
wilhelminischen
Ara, trugen aber auch zum Konfliktpotenzial bei, das sich im
Ersten Weltkrieg
entlud. Erst im Oktober 1918, unter dem Eindruck der unabwendbaren Niederlage Deutschlands und der mit ihm verbundeten
Mittelmachte
, stimmte Wilhelm der Parlamentarisierung des Reiches zu. Nach den
Oktoberreformen
war der
Reichskanzler
nicht mehr ihm, sondern dem
Reichstag
verantwortlich.
[1]
Im Weltkrieg war der Kaiser von der
Obersten Heeresleitung
unter den Generalen
Paul von Hindenburg
und
Erich Ludendorff
weitgehend kaltgestellt und auf reprasentative Aufgaben beschrankt worden. Er verlor zusehends an Ansehen, und angesichts der drohenden Niederlage wurde seine Stellung vollends unhaltbar. Zudem verlangte US-Prasident
Woodrow Wilson
vor der Aufnahme von Waffenstillstandsverhandlungen kaum verklausuliert den Thronverzicht des Kaisers. Als die
Novemberrevolution
am 9. November 1918 auch Berlin erfasste, gab Reichskanzler
Max von Baden
die
Abdankung Wilhelms
ohne dessen Zustimmung bekannt. Wenige Stunden spater, am Mittag des 9. November, erfolgte die
Ausrufung der Republik in Deutschland
.
Am Tag darauf floh der Kaiser vom
Großen Hauptquartier
im belgischen
Spa
, wo er sich seit dem 29. Oktober aufgehalten hatte, ins niederlandische
Exil
. Erst dort dankte er am 28. November formell ab. Konigin
Wilhelmina
und die Regierung der Niederlande gewahrten ihm Asyl und lehnten 1919 die von den
Entente-Machten
verlangte Auslieferung als
Kriegsverbrecher
ab. Wilhelm ließ sich in
Haus Doorn
nieder und bemuhte sich erfolglos um eine
Restauration
der Monarchie in Deutschland. Er starb 1941 im Alter von 82 Jahren, ohne jemals wieder deutschen Boden betreten zu haben.
Leben bis zum Herrschaftsantritt (1859?1888)
Familie
Wilhelm wurde am 27. Januar 1859 als altester Sohn des Prinzen
Friedrich Wilhelm von Preußen
und dessen Frau Victoria geboren, die 1861 zum Kronprinzenpaar wurden. Wilhelm war der Enkel der britischen Konigin Victoria (1819?1901) sowie infolge der Verbindung seiner Großtante
Charlotte
mit
Nikolaus I.
von Russland auch ein
Onkel dritten Grades
von Zar
Nikolaus II.
Der britische Konig
Georg V.
war sein Cousin ersten Grades. Sein Bruder Prinz Albert Wilhelm
Heinrich von Preußen
war
Großadmiral
der
Kaiserlichen Marine
. Zum Zeitpunkt seiner Geburt stand er auf Platz drei der preußischen Thronfolge sowie auf Platz sechs der britischen. Bei seiner Geburt war klar, dass er wohl einmal preußischer Konig werden wurde.
Geburt, Komplikationen und die Folgen
Bei der Geburt des Prinzen im Berliner
Kronprinzenpalais
waren, wie bei Thronfolgergeburten ublich, hohe Beamte anwesend, um die Geburt zu bezeugen. Er kam als
Steißgeburt
zur Welt und uberlebte nur durch den als
ultima Ratio
hinzugezogenen Direktor der Entbindungsanstalt im Charite-Krankenhaus Berlin,
Eduard Arnold Martin
, und durch das couragierte Eingreifen einer Hebamme, die das scheinbar leblose Baby ganz gegen das Protokoll mit einem nassen Handtuch schlug. Martin musste die seit Stunden verschleppte Geburt voranbringen und setzte das dafur neuartige Narkosemittel
Chloroform
ein.
[2]
Er drehte den Thronfolger
intrauterin
und schaffte es, die Beine voranzubringen, sodass das Gesaß und der Unterleib hervortraten. Der Nabelschnurpuls war fast nicht mehr fuhlbar, daher musste der Geburtsvorgang beschleunigt werden. Es gelang Martin noch, den linken Arm zu wenden und parallel zum
Torso
zu legen, um dann mit kraftigem Zug den Kopf mit dem noch hochgeschlagenen rechten Arm zu entbinden. Infolge der stundenlangen fruchtlosen Wehen und der zugig zu bewerkstelligenden Notentbindung (ein
Kaiserschnitt
hatte damals haufig den Tod der Mutter zur Folge, was in diesem Falle vollig indiskutabel war) uberlebte der Saugling zwar, aber es kam zu einer linksseitigen
Armplexus-Lahmung
. Einige Tage danach bemerkte man, dass das Kind diesen Arm nicht bewegen konnte. Der Arm blieb fortan in seiner Entwicklung deutlich zuruck und war im Erwachsenenalter deutlich kurzer als der rechte und nur eingeschrankt beweglich. Durch die Komplikationen wahrend der Geburt stellte sich bei Wilhelm etwas spater eine
Torticollis
(Schiefhals) heraus.
[3]
Es ist umstritten, ob Martin dem Kind das Leben rettete oder die Behinderung zu verantworten hatte.
[4]
Obwohl Victoria anfangs die ?hervorragende“ Leistung von Eduard Arnold Martin mit viel Lob und einem ?kostbaren“ Ring belohnte, entwickelte sie, als der Geburtsschaden wenig spater bemerkt wurde, einen Hass auf Martin. Sie schrieb ihrer Mutter: ?Du weißt, liebe Mama, daß Wilhelms Arm
nicht
verletzt worden ware und ich eine solche Tortur nicht durchgemacht hatte,
wenn
ich in der Obhut eines aufgeklarten englischen Arztes gewesen ware! Es war Martin, der mich behandelte!“ Wilhelm kam spater zu der Uberzeugung: ?ein englischer Arzt totete meinen Vater, und ein englischer Arzt verkruppelte meinen Arm ? und das ist die Schuld meiner Mutter, die keine Deutschen um sich duldete!“.
[5]
Um seine Behinderungen zu beheben, wurden Kuren wie das Einnahen des kranken Armes in ein frisch geschlachtetes Kaninchen oder die Elektrisierung des Arms durchgefuhrt. Sie verliefen allerdings erfolglos. Der Schiefhals wurde spater durch eine Operation behoben.
[3]
[6]
Wie im Hochadel ublich, traten seine Eltern als unmittelbare Erzieher ganz hinter seinem
calvinistischen
Lehrer
Georg Ernst Hinzpeter
zuruck, der uber die Volljahrigkeit Wilhelms hinaus einen sehr großen Einfluss auf ihn hatte.
[7]
[8]
[8]
Seine Mutter und Hinzpeter waren sich einig, dass die Erziehung von Wilhelm von sehr strenger Natur sein solle, um ihn auf seinen ?Beruf“ vorzubereiten. Friedrich III. war in diese Entscheidung nicht involviert, auch weil er in den Jahren der Reichseinigung anderweitig gebunden war. Er setzte volles Vertrauen in seine Frau und ihr Urteil. Die sehr strenge Erziehung hatte jedoch wenig Erfolg. Hinzpeter klagte 1874 uber die Unkonzentriertheit und den ?fast krystallinisch hart gefugten Egoismus“, der ?den innersten Kern seines Wesens“ bilde.
[9]
Als Siebenjahriger erlebte er den
Sieg uber Osterreich 1866
mit der daraus resultierenden Vorherrschaft Preußens in Deutschland. Mit zehn Jahren, im damals ublichen
Kadettenalter
, trat er beim
1. Garde-Regiment zu Fuß
formell als
Sekondeleutnant
in die
preußische Armee
ein. Als Zwolfjahriger wurde er mit der Grundung des
Deutschen Kaiserreiches
nach dem
Sieg uber Frankreich 1871
auch zweiter Anwarter auf den deutschen Kaiserthron.
Schul- und Studienzeit
Auf Vorschlag Hinzpeters wurde Wilhelm trotz der Ablehnung von Wilhelm I. 1874 auf das Lyceum Fridericianum (heute
Friedrichsgymnasium
) in
Kassel
geschickt. Victoria und Hinzpeter verfolgten dabei drei Ziele: Wilhelm solle laut Victoria ?eine moderne Erziehung genießen, er sollte moglichst lange dem Hof- und Militarleben Berlins entzogen bleiben, und er sollte vor allem infolge des freien Konkurrenzkampfes mit begabten Burgersohnen gedemutigt, das heißt zur Einsicht gezwungen werden, daß er keinerlei Grund zur Uberheblichkeit hatte.“ Wilhelms Alltag im Gymnasium wurde von Hinzpeter streng eingeteilt.
[10]
Nach dem Abitur am Friedrichsgymnasium trat er am 9. Februar 1877 seinen wirklichen Militardienst bei seinem Regiment, der 6.
Kompanie
unter Hauptmann
Ernst von Petersdorff
, an. 1880 wurde er am 22. Marz, dem Geburtstag seines Großvaters Kaiser Wilhelm I., zum
Hauptmann
befordert. Bereits in diesen Jahren bildete sich bei ihm ein Verstandnis seiner monarchischen Rolle, das den
liberal
-konstitutionellen Vorstellungen seiner Eltern zuwiderlief.
Seine folgenden Lebensstationen sind unter dem Aspekt einer Erziehung zum Monarchen zu sehen: Er sollte moglichst vielerlei Erfahrungen sammeln, erhielt aber in keinem Feld, nicht einmal im militarischen, die Chance, sich beruflich solide einzuarbeiten. Zum Studium von vier Semestern von Oktober 1877 bis 1879 bezog er die von seinem Urgroßvater gegrundete
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universitat Bonn
, wo er 1878 dem
Corps Borussia Bonn
beitrat.
[11]
Wilhelm blieb der Borussia und dem
Corpsstudententum
zeitlebens verbunden. Da er aber als Mitglied eines regierenden Hauses keine scharfen
Mensuren
fechten durfte, gehorte er der Borussia erst als
Inhaber der Corpsschleife
an, ehe ihm am 8. Marz 1886 das
Band
verliehen und er
Alter Herr
wurde. Dies war durch eine Sondergenehmigung des
Kosener SC-Verbandes
moglich geworden.
[12]
Wilhelm beherrschte muhelos
Englisch
.
[13]
Militardienst
Bis 1888 war er wechselnden Regimentern zugeordnet, dem 1. Garde-Regiment zu Fuß, dann dem
Garde-Husaren-Regiment
und dem
1. Garde-Feldartillerie-Regiment
, wurde schnell bis zum
Generalmajor
befordert und zuletzt
Kommandeur
der
2. Garde-Infanterie-Brigade
. Der Militardienst wurde immer wieder durch Beurlaubungen unterbrochen, damit er sich auch soweit moglich mit der zivilen Verwaltung vertraut machen konnte. Sehr grundlich konnte dies nicht geschehen, denn immer mehr Eile war geboten: Sein Großvater stand im hochsten Alter, und sein Vater war mittlerweile todkrank.
Kronprinz
Das Jahr 1888 ging als
Dreikaiserjahr
in die Geschichte ein. Nach dem Tod Wilhelms I. am 9. Marz 1888 regierte der ?99-Tage-Kaiser“
Friedrich III.
auf Grund seines bereits fortgeschrittenen
Kehlkopfkrebses
nur drei Monate und starb am 15. Juni in Potsdam. Durch den Tod Friedrichs III. wurde Wilhelm am 15. Juni 1888 Konig von Preußen und damit Deutscher Kaiser und Oberster Kriegsherr.
[14]
Fur die Regierungsgeschafte war die mangelnde Erfahrung des Kronprinzen weniger problematisch, da bereits seit 1862
Otto von Bismarck
, zunachst als preußischer Ministerprasident, ab 1871 als
Reichskanzler
, die politische Macht fest in seiner Hand konzentriert hatte. Bismarck war nach drei siegreichen Kriegen (
1864
,
1866
,
1870/71
) und als Vereiniger Deutschlands zur starksten kontinentaleuropaischen Macht ein weltweit respektierter
Staatsmann
. Wilhelm I. und Friedrich III. hatten ihm gelegentlich widersprochen, aber am Ende stets vertraut. Von diesem Vertrauen hing nach der
Reichsverfassung
der Reichskanzler auch ab, nicht vom Vertrauen des Reichstags. Bismarck baute selbstbewusst darauf, auch den dritten Kaiser lenken zu konnen.
Wirken als Kaiser (1888?1918)
Die Wilhelminische Epoche (im Uberblick)
Die dreißigjahrige Herrschaft Wilhelms II. im
Deutschen Reich
(von 1888 bis 1918) wird auch als die
wilhelminische Epoche
bezeichnet. Wesentliches Merkmal war das Streben des Kaisers, das Reich als politische Große unter den bestehenden
Weltmachten
zu sichern. Eng verbunden mit diesem Anspruch war die militarische
Aufrustung
des Kaiserreichs sowie die Forcierung der
Kolonialpolitik
in
Afrika
und der
Sudsee
. Dies und die Verwicklung Deutschlands in internationale Krisen ? zum Beispiel die Geschehnisse um die
Kruger-Depesche
1896, der
Doggerbank-Zwischenfall
1904, die
Marokkokrisen 1904?1906
und
1911
sowie die
Daily-Telegraph-Affare
1908 ? fuhrten zu einer Destabilisierung der Außenpolitik.
Die Vorliebe Wilhelms fur militarischen Prunk, die sich beispielsweise in zahlreichen
Paraden
zu den unterschiedlichsten Anlassen ausdruckte, fuhrte auch gesellschaftlich zu einer Uberbetonung des
Militars
und der militarischen
Hierarchie
bis hinein ins zivile Leben der deutschen Gesellschaft, in der fur eine berufliche Laufbahn ? nicht nur im Verwaltungsapparat ? die Ableistung des Militardienstes und der militarische Rang eines Menschen von entscheidender Bedeutung war (
Militarismus
). Einen Rang als
Reserveoffizier
innezuhaben galt im wilhelminischen Burgertum als Eintrittskarte in die ?bessere Gesellschaft“; ebenso war das Fehlen eines militarischen Ranges ein Karrierehindernis.
Der wirtschaftliche Aufschwung Deutschlands wahrend Wilhelms Herrschaft, verbunden mit technologischem, naturwissenschaftlichem und industriellem Fortschritt, begunstigte eine auch vom Kaiser mitgetragene, allgemein verbreitete Technik- und Fortschrittsglaubigkeit. Innenpolitisch setzte er die fur ihre Zeit als modern und fortschrittlich geltende
Sozialpolitik
Bismarcks
fort und erweiterte sie. Er setzte sich fur die Abschaffung des
Sozialistengesetzes
ein und suchte, teilweise erfolglos, den Ausgleich zwischen ethnischen und politischen Minderheiten.
Wilhelm wollte sowohl die Innen- als auch Außenpolitik des Reiches wesentlich starker beeinflussen als sein Großvater Wilhelm I. Das ?
personliche Regiment
“ des Kaisers war jedoch oft eine von haufig wechselnden Beratern gesteuerte Politik, die die Entscheidungen Wilhelms ? auch im Urteil der meisten Historiker ? oft widerspruchlich und letztlich unberechenbar erscheinen ließen.
Dazu gehort auch, dass er sich nach dem
Attentat von Sarajevo
uber eingegangene Bundnisverpflichtungen zu einem Krieg entschloss, der in der Folge zum Ersten Weltkrieg fuhrte. Grundlage war auch seine Uberschatzung Deutschlands militarischer Starke zu Lande und auf See. Die Marokkokrisen und die Erklarung des unbeschrankten
U-Boot-Krieges
sind weitere Beispiele fur Entscheidungen, die den Ruf Wilhelms II. belasten.
Auch war seine Amtszeit von politischen Machtkampfen zwischen den einzelnen Parteien gepragt, die es den amtierenden Kanzlern schwer machten, langerfristig im Amt zu bleiben. So wurden im Kampf zwischen dem sogenannten
Bulow-Block
aus
Nationalliberaler Partei
und
Deutschkonservativer Partei
und den
Sozialdemokraten
funf von sieben Kanzlern unter kritischem Mitwirken des
Reichstags
von ihm entlassen.
Wahrend des Ersten Weltkriegs von 1914 bis 1918 wurde Wilhelms
strategische
und
taktische
Unfahigkeit offenbar. Ab 1916 enthielt er sich zunehmend relevanter politischer Entscheidungen und gab die Fuhrung des Reiches faktisch in die Hande der
Obersten Heeresleitung
, namentlich in die der Generale
von Hindenburg
und
Ludendorff
, die die konstitutionelle
Monarchie
wahrend der letzten Kriegsjahre mit starken Zugen einer
Militardiktatur
versahen. Als sich Wilhelm II. infolge der
Novemberrevolution
, die zum Ende der Monarchie und zur
Ausrufung der Republik
fuhrte, zur
Abdankung
bewegen ließ und in die Niederlande ins Exil ging, hatte das Deutsche Kaiserreich den ?Großen Krieg“ bereits verloren. Etwa 10 Millionen Menschen waren auf den Schlachtfeldern gefallen.
Soziale Reformen
Wilhelm II. weigerte sich 1889, Soldaten zur Niederschlagung eines
Bergarbeiterstreiks
im
Ruhrgebiet
zu schicken. Zur Begrundung erklarte er:
?Die Unternehmer und Aktionare mußten nachgeben, die Arbeiter seien seine Untertanen, fur die er zu sorgen habe; wollten die industriellen Millionare ihm nicht zu Willen sein, so wurde er seine Truppen zuruckziehen; wenn dann die Villen der reichen Besitzer und Direktoren in Brand gesteckt, ihre Garten zertreten wurden, so wurden sie schon klein werden.“
[15]
Bismarck, der dieses Zitat uberliefert, nannte Wilhelms Haltung ?patriarchalischen Absolutismus, fur die Zeit von 1888 ein Anachronismus“ und ?sentimental“.
[16]
In der Arbeiterschaft aber weckten solche Aussagen des jungen Kaisers und die
Februarerlasse
von 1890 in den ersten Jahren seiner Regentschaft zeitweilig Hoffnungen auf einen sozialen Wandel im Reich. Die
Sozialpolitik
lag Wilhelm II. durchaus am Herzen. Allerdings folgten seinen sozialen Reformen keine strukturellen Veranderungen im Reich. Im Gegenteil, er baute seinen politischen Einfluss noch aus und lehnte eine Demokratisierung der Verfassung ab. Preußen behielt das seit Anfang der 1850er Jahre bestehende
Dreiklassenwahlrecht
, das eine reprasentative Landtagsvertretung verhinderte. Nach wie vor wurde der Regierungschef nicht vom Reichstag gewahlt, sondern vom Kaiser ernannt oder entlassen. Die Mehrheitsverhaltnisse im Reichstag wurden dazu allenfalls mitberucksichtigt. Es war dem Kanzler aber nicht moglich, ohne Mehrheit im Parlament Gesetze zu erlassen oder den Haushalt zu beschließen.
Noch wahrend Bismarcks Kanzlerschaft, am 178. Geburtstag
Friedrichs des Großen
, verkundete Kaiser Wilhelm II. in einer Proklamation an sein Volk die Devise ?Je veux etre un roi des gueux“ (dt. ?Ich will ein Konig der Bettler sein“) und forderte das Verbot der
Sonntagsarbeit
, der
Nachtarbeit
fur Frauen und Kinder, der
Frauenarbeit
wahrend der letzten Schwangerschaftsmonate sowie die Einschrankung der
Arbeit von Kindern
unter vierzehn Jahren.
[17]
Außerdem forderte er bei dem zur Erneuerung anstehenden ?Gesetz gegen die gemeingefahrlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ (?
Sozialistengesetz
“) die Streichung des Paragraphen, der es der Landespolizeibehorde erlaubte, ?Verurteilten den Aufenthalt in bestimmten Bezirken und Ortschaften“ zu versagen. Bismarck kommentierte dies als ?Humanitatsduselei“ und verweigerte sich dem (in seinen Forderungen durch den Reichstag unterstutzten) Kaiser. Seine Forderungen konnte der junge Kaiser erst mit
Leo von Caprivi
, dem Nachfolger Bismarcks, verwirklichen. Allerdings war Wilhelm II. bei allen sozialen Ambitionen so wenig ein Freund der
Sozialdemokratie
, wie Bismarck es gewesen war.
[17]
Er hoffte, durch seine Reformen die Sympathien fur die trotz des Sozialistengesetzes erstarkte Sozialdemokratie zu schwachen und durch die Aufhebung des repressiven Sozialistengesetzes der 1890 von
SAP
in
SPD
umbenannten Partei ihren Martyrerbonus zu nehmen.
Heinrich Mann
schrieb wahrend des Zweiten Weltkriegs im kalifornischen Exil:
?Nein, er war weder ausdrucklich gerecht, noch brach er das Recht mit Vorbedacht. Den Arbeitern glaubte er mit sozialen Gesetzen ? Gnaden zu erweisen. Respekt glaubte er allein dem Besitz zu schulden. Dieser Kaiser mit der Seele eines Parvenu hofierte unentwegt die reichsten Leute, Deutschlands und der Welt.“
[18]
Die Sozialdemokraten blieben unter
August Bebel
aus ihrem antimonarchistischen Selbstverstandnis heraus jedoch weiter in Fundamentalopposition. Obwohl sie den Fortschritt der im Arbeitsschutzgesetz zusammengefassten Reformen sahen, stimmten sie im Reichstag dagegen. Sie forderten grundlegende strukturelle Veranderungen, wie zum Beispiel eine Verfassungsanderung, Demokratisierung, ein ausgeweitetes Wahlrecht, Vorrang des Parlaments bei politischen Entscheidungen, eine Umstrukturierung des Haushalts, deutliche Senkung der Rustungsausgaben, Freiheit fur
die Kolonien
und anderes mehr ? fur den Kaiser unerfullbare Anliegen, die seine Abneigung gegen die Sozialdemokratie starkten.
Der Wohlstand der deutschen Arbeiterschaft stieg von Jahr zu Jahr, doch gelang es Wilhelm II. nicht, den Arbeitern in den Stadten das Gefuhl zu geben, anerkannte Mitglieder der Gesellschaft zu sein. Bei vielen Reichstagswahlen und Landtagen wuchs der Stimmenanteil der SPD.
Diese Vorgange ließen in Wilhelm II., der immer noch ?ein Konig der Armen“ sein wollte, die These reifen, dass eine Versohnung mit den Sozialdemokraten nicht moglich sei. Er rief schließlich in
Konigsberg
?zum Kampf fur Religion, Sitte und Ordnung, gegen die Parteien des Umsturzes!“ auf. Schon 1887 hatte er, noch als Prinz, mit seiner Gemahlin den
Evangelischen Kirchlichen Hilfsverein fur Berlin
gegrundet, weil er glaubte, durch Forderung der Kirchen die ?soziale Frage“ losen zu konnen; dem folgte 1890 der
Evangelische Kirchenbau-Verein
, Berlin, mit dessen Hilfe er auch außerhalb Berlins auf Kirchneubauten im Reich Einfluss nahm (etwa auf die
Erloserkirche
in Bad Homburg). Zugleich manifestierte er damit seine Vorstellung einer neuen Verbindung von ?
Thron und Altar
“ in Fortfuhrung einer Linie von
Konstantin dem Großen
uber
Otto den Großen
zu ihm selbst.
Entlassung Bismarcks und Antritt Caprivis
In der letzten Periode der Regierungszeit
Bismarcks
hatte das Deutsche Reich einer ?
Kanzlerdiktatur
“ geglichen, deren politische Ziele nicht die des jungen Kaisers waren. Bismarck wollte
Russland
als einen starken Verbundeten, Wilhelm II. vertraute hingegen nur auf
Osterreich-Ungarn
. Bismarck wollte den ?Kulturkampf“ gegen den politischen Katholizismus fortsetzen, der Kaiser war strikt dagegen. Bismarck wollte das Sozialistengesetz verscharfen, Wilhelm II. es abschaffen: ?Ich will meine ersten Regierungsjahre nicht mit dem Blut meiner Untertanen farben!“ Als der Reichskanzler hartnackig blieb, schickte der Kaiser am Morgen des 17. Marz 1890 den Chef seines
Militarkabinetts
, General
von Hahnke
, in die Reichskanzlei: Der Kanzler solle am Nachmittag ins Schloss kommen und sein Abschiedsgesuch mitbringen. Dieses wurde dem Kaiser aber erst im Verlauf des nachsten Tages durch einen Boten uberbracht.
[19]
Bismarcks ? immer auch als Rechtfertigung und Gegenangriff zu lesende ? Darstellung betont das Entwurdigende der Maßnahme. Bismarck schreibt im erst postum erschienenen dritten Band seiner Memoiren, dass er sich im Kabinett schon vor der Entlassung isoliert oder gar verraten gefuhlt habe und dass sein Stellvertreter
Karl Heinrich von Boetticher
in seiner Abwesenheit und ohne seine Billigung mit dem Kaiser in dessen Sinne verhandelt habe,
[20]
sodass er genotigt gewesen sei, eine 38 Jahre alte Kabinettsorder Wilhelms I. heranzuziehen, die es preußischen Ministern untersagte, ohne Billigung des Ministerprasidenten mit dem Souveran zu sprechen.
[21]
Mit Bismarcks Entlassung machte der Kaiser den Weg frei zu seinem
personlichen Regiment
.
Am 20. Marz 1890 entließ Wilhelm II. den ?eisernen Kanzler“. Bismarck akzeptierte dies innerlich nie und sorgte indirekt durch vielfach lancierte Kritik an den ?Hintermannern“ der wilhelminischen Politik und durch sein Memoirenwerk
Gedanken und Erinnerungen
fur nachhaltige Kritik an Wilhelm II. Deren dritter Band, in dem Bismarck seine Entlassung darstellte, wurde wegen seiner politischen Brisanz erst 1919 veroffentlicht. Der Rucktritt Bismarcks war damit zwar primar innenpolitisch begrundet, aber langfristig gesehen vor allem außenpolitisch fatal. Aus Wien erinnerte Kaiser
Franz Joseph I.
eingedenk des
1866er Friedens von Wien
in einem Brief sofort und explizit an Bismarcks Verdienste. Als Bismarcks Nachfolger ernannte Wilhelm II. General
Leo von Caprivi
, der vom Kaiser als ?Mann der rettenden Tat“ gefeiert und ob seiner Leistungen in den Grafenstand erhoben wurde. Mit Caprivi glaubte Wilhelm II. eine anerkannte Personlichkeit gefunden zu haben, mit der er seine geplante Politik der inneren Versohnung sowie das
Arbeitsschutzgesetz
durchzusetzen hoffte.
[22]
Ein wichtiges außenpolitisches Ereignis fiel (gleichsam ?genau passend“) in das Jahr des Kanzlerwechsels. Der
Ruckversicherungsvertrag
mit Russland widersprach teilweise den Bedingungen des
Dreibundpaktes
mit Italien und Osterreich-Ungarn. Der Kaiser war gegen ein Verletzen des letztgenannten Paktes, wahrend Bismarck den Ruckversicherungsvertrag seinerzeit fur unbedingt notwendig gehalten hatte. Jetzt ging es um seine Verlangerung. Von der Offentlichkeit unbemerkt (es handelte sich um einen Geheimvertrag) und von Caprivi hingenommen, wurde der 1890 auslaufende Ruckversicherungsvertrag vom Deutschen Reich bewusst nicht erneuert. In Russland nahm man realistischerweise einen deutschen Kurswechsel an und begann sich Frankreich anzunahern.
[23]
Caprivis Kanzlerzeit war durch entschiedene Englandfreundlichkeit gepragt. Innenpolitisch war er einer der Hauptverantwortlichen fur den Wandel des Deutschen Reiches von der Agrarwirtschaft zur industriellen Exportwirtschaft. Die Reformen in diesem Zeitraum trugen dazu bei, dass Deutschland wenig spater Großbritannien uberholen und zur Weltwirtschaftsmacht Nr. 1 aufsteigen konnte. Der Begriff ?
Made in Germany
“ wurde zu dieser Zeit ein Synonym fur hochste Qualitat.
Integrationspolitik
Die turbulente Ersetzung des alten
Deutschen Bundes
durch das neu geschaffene Deutsche Reich ohne die deutschen Osterreicher ? die
kleindeutsche Losung
? brachte einige Probleme mit sich. Die rheinlandische, suddeutsche und polnische
Opposition
gegen die preußische Vorherrschaft stutzte sich auf das sich politisierende katholische Burger-, Arbeiter- und Bauerntum. Als Partei des politischen Katholizismus hatte sich im Jahr 1870 die
Deutsche Zentrumspartei
formiert. Die Versuche Bismarcks, die katholischen Parteien in ihrer Arbeit zu behindern, fuhrten zu Eingriffen in das Leben der Katholiken.
[24]
Auch die Judenintegration, die es vorher außer in Preußen nur in wenigen anderen Staaten gab, war jung, und der merkliche soziale Aufstieg der judischen Bevolkerung nahrte Neid und
Antisemitismus
in der Bevolkerung. In den ostlichen Gebieten Preußens, vor allem in der Provinz Posen, gab es eine starke Unterdruckung der
polnischen Minderheit
, die zu Unruhen und Gefuhlen der Ungerechtigkeit fuhrte.
[25]
Der Kaiser erkannte die Ernsthaftigkeit dieser Probleme und zahlte sie zu seinen Hauptaufgaben.
Am besten gelang die Integrationspolitik gegenuber den Katholiken. Sie waren zuvor durch den Bismarckschen
Kulturkampf
benachteiligt und an der Teilnahme am politischen Leben sowie an der freien Ausubung ihrer Religion gehindert worden. Schon zu seiner Prinzenzeit war Wilhelm gegen diese Praktiken und befurwortete die Beendigung des Kulturkampfes. Um die Einigkeit zwischen Protestanten und Katholiken im Reich zu verbessern, zahlte das Reich die den Opfern vorenthaltenen Gelder zuruck, hob allerdings nicht alle gefassten Beschlusse und Gesetze aus dem vorangegangenen Kulturkampf wieder auf.
Die ostlichen Provinzen Preußens (
Ostpreußen
,
Westpreußen
und
Schlesien
) waren mehrheitlich von Deutschen, minderheitlich von Polen sowie regional von
Kaschuben
und
Masuren
bewohnt. In der
Provinz Posen
stellten die Polen die Mehrheit. Seit der Bismarckzeit versuchte der Staat, die hier lebenden Polen zu
germanisieren
, was allerdings misslang und in offenen Protest mundete. Wilhelm II. hob viele dieser Repressionen auf, die vor allem die Unterrichtssprache und spater auch die des Gottesdienstes regelten, und erkannte die Polen als eigenes Volk und Minderheit im Deutschen Reich an.
Bei seiner Integrationspolitik kam Kaiser Wilhelm II. der Parlamentarismus im Reich entgegen. Die Wahl wurde in Einmannwahlkreisen mit absolutem Mehrheitswahlrecht durchgefuhrt. So besaßen die Danen (ein bis zwei Abgeordnete), Elsass-Lothringer (acht bis 15 Abgeordnete) und Polen (13 bis 20 Abgeordnete) von 1871 bis zur letzten Wahl 1912 stets eigene
Fraktionen
im Reichstag.
Juden
dagegen organisierten sich nicht in einer eigenen
Partei
. Das Wahlsystem grenzte aber auch politische Minderheiten nicht aus. Dies sorgte dafur, dass sich auch die preußenfeindlichen
Welfen
, aber vor allem die Antisemiten aus der Christlichsozialen Partei und der Deutschen Reformpartei organisieren konnten. Die Zahl ihrer Abgeordneten uberschritt aber nie die Zahl der Abgeordneten aus den Parteien der ethnischen Minderheiten.
Wirtschaftspolitik und rustungspolitische Prioritaten
Caprivi setzte einen weiteren von Bismarck verwehrten Wunsch Wilhelms durch, die
progressive Einkommensteuer
, die hohere Einkommen starker belastete: die
Miquelsche
Einkommensteuerreform
von 1891. Durch die industriefreundliche und exportorientierte Eindammung des
Protektionismus
zog sich Caprivi die Feindschaft der im
Bund der Landwirte
organisierten Grundbesitzer (?
Ostelbier
“, ?
Junker
“) zu, die eng mit der Deutschkonservativen Partei verbunden waren. Die nach Abschaffung der
Schutzzolle
wachsenden Agrarexporte der USA bewirkten fur sie einen Preisverfall. Durch die Forderung des Einsatzes von Landmaschinen konnte man die Verluste zwar teils auffangen, erhohte aber die agrarprotektionistischen Anspruche der ohnehin unterkapitalisierten und zu Investitionen genotigten Großgrundbesitzer.
1893 loste Wilhelm II. den
1890 gewahlten Reichstag
auf, weil der die auch von ihm gewunschte Aufrustung des Heeres abgelehnt hatte. Bei den darauf folgenden
Wahlen
siegten die Befurworter der wilhelminischen Politik aus der Konservativen und Nationalliberalen Partei. Auch die gegen Caprivis Widerstand von
Alfred von Tirpitz
propagierte Aufrustung der
Kaiserlichen Marine
, im Volk durchaus popular, erkennbar etwa am allgegenwartigen
Matrosenanzug
fur Knaben, wurde in der Folgezeit von Wilhelm gefordert.
[26]
Im Januar 1894 kam es zu einem Aussohnungstreffen mit Bismarck. Als dieser 1896 den geheimen Ruckversicherungsvertrag mit Russland in der Presse veroffentlichte, wollte Wilhelm ihn dann aber in der ersten Erregung wegen
Landesverrats
verhaften und in die
Zitadelle Spandau
verbringen lassen.
[27]
Personliches Regiment
des Kaisers
Am 26. Oktober 1894 wurde Caprivi entlassen. Wilhelm berief erstmals einen Nichtpreußen, den bayerischen Fursten (und seinen Onkel, wie er in seinen Memoiren
Ereignisse und Gestalten
schreibt)
Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfurst
zum Reichskanzler und preußischen Ministerprasidenten. Er sollte anders als seine beiden Vorganger keinen Fuhrungsehrgeiz entwickeln.
[29]
1895 wurden der Kaiser-Wilhelm-Kanal, der heutige
Nord-Ostsee-Kanal
, fertiggestellt und die Marinehafen
Kiel
und
Wilhelmshaven
in großem Maßstab ausgebaut. In diesem Zusammenhang besetzte und pachtete das Deutsche Reich die chinesische Hafenstadt
Tsingtao
auf 99 Jahre.
[30]
Wilhelm erkannte trotz seiner Englandfreundlichkeit nicht, dass damit die weltweite
Hegemonialmacht
Großbritannien
aufs Außerste beunruhigt wurde. Der anhaltende deutsche
Kolonialismus
? gegen den Bismarck und Caprivi sich noch gewehrt hatten ? wurde von ihm nicht als riskant gegenuber den
Großmachten
England und Frankreich erkannt und gebilligt: 1899 erwarb das Reich die
Karolinen
,
Marianen
,
Palau
und 1900 West
samoa
. 1896 versaumte Hohenlohe-Schillingsfurst es, Wilhelm von der ?
Kruger-Depesche
“ abzuhalten, einem Gluckwunschtelegramm an die
Buren
zur Abwehr des britischen
Jameson Raid
, die in Großbritannien mit Emporung aufgenommen und nachhaltig als Abkehr von der englandfreundlichen Politik Caprivis gedeutet wurde. In seinen Memoiren betonte Wilhelm, dass er gegen die Depesche gewesen sei, aber vom Kanzler Hohenlohe-Schillingsfurst zur Unterschrift genotigt worden sei. Seit 1897 war Hohenlohe-Schillingsfurst durch die Entlassung wichtiger Mitarbeiter weitgehend kaltgestellt worden, es verstarkte sich nun das
personliche Regiment
des Kaisers.
Wilhelm setzte Hohenlohe-Schillingsfurst am 17. Oktober 1900 ab und berief Graf
Bernhard von Bulow
zum Reichskanzler, der weder die anstehenden innenpolitischen Reformen betrieb noch die sich neu gruppierenden außenpolitischen Konstellationen zu meistern vermochte, die in Deutschland zunehmend als ?Einkreisungspolitik“ empfunden wurden.
[31]
Das Verhaltnis zu Frankreich wurde jedenfalls nicht verbessert, England nun auch durch die
Flottenpolitik
herausgefordert und Russland auf dem
Balkan
nicht gegen die
Osterreichisch-Ungarische Monarchie
unterstutzt. Wilhelm vertraute Bulow, der ihm nachhaltig zu schmeicheln wusste, lange, bis zur
Daily-Telegraph-Affare
1908 und den
Eulenburg-Prozessen
.
Bauprojekte
Neben der Flottenaufrustungspolitik mit Marinegebauden wie der
Marineschule Murwik
, fur die Wilhelm bekannt ist, erfolgten diverse weitere Bauprojekte.
Im Jahre 1899 schenkte die Stadt
Schlettstadt
Wilhelm die
Hohkonigsburg
im
Elsass
. Wilhelm ließ sie in den Jahren 1901?1908 durch den Berliner Architekten und Burgenforscher
Bodo Ebhardt
restaurieren. Der Bau kostete uber zwei Millionen Mark, die zum großen Teil von Elsass-Lothringen bezahlt werden mussten. Am 13. Mai 1908 fand im Rahmen einer großen Feier mit festlicher Musik und historischen Kostumen bei Regenwetter die Einweihung statt, an der auch Tochter Viktoria Luise von Preußen teilnahm. Ebenso auf Veranlassung Wilhelm II. wurde das
Residenzschloss Posen
in den Jahren von 1905 bis 1913 im neoromanischen Stil errichtet und die
Ordensburg Marienburg
von 1896 bis 1918 renoviert.
Bisweilen verstand sich Wilhelm auch als Architekt. Prominentestes Beispiel aus der
Rheinprovinz
sind hier die Anmerkungen des Kaisers auf dem Fassadenentwurf zum
Regierungsgebaude
in
Koblenz
. Vom Architekten
Paul Kieschke
(1851?1905) entworfen und zwischen 1902 und 1905 realisiert, erhielt der Regierungsbaumeister den Plan mit eigenhandigen Abanderungen des Kaisers in Bezug auf die Ausfuhrung der geplanten Turme zuruck.
[32]
Wilhelm veranlasste 1913 den Bau des
Cecilienhofes
in Potsdam ? diesen letzten Schlossbau vor dem Sturz der Monarchie in Deutschland als Wohnstatte fur die Familie seines altesten Sohnes, des Kronprinzen Wilhelm, der 1905 Cecilie von Mecklenburg-Schwerin geheiratet hatte, nach der das Schloss benannt wurde.
Zwei weitere Bauten aus der wilhelminischen Ara, die das Zentrum Berlins pragen, sind die
Konigliche Bibliothek
, die in den Jahren 1901?1914 entstand, und der
Neue Konigliche Marstall
am Schlossplatz in Berlin, der 1897?1900 errichtet wurde. Eines der das
Kolner
Stadtbild am starksten pragenden Bauwerke, die
Hohenzollernbrucke
, stammt aus wilhelminischer Zeit. Sie wurde von 1907 bis 1911 von Franz von Schwechten (Architekt der Kaiser-Wilhelm-Gedachtniskirche) in direkter Sichtachse des Kolner Doms im neoromanischen Stil mit dekorativen Bruckenturmen und Portalen erbaut.
Außenpolitische Probleme unter Bulow
Mit Ausbruch des
Russisch-Japanischen Kriegs
im Februar 1904 und dem Abschluss der
Entente Cordiale
zwischen Frankreich und Großbritannien am 8. April 1904 veranderte sich das europaische Machtgefuge fundamental. Mit dem englisch-franzosischen Kolonialausgleich war die Freihandelspolitik offenbar gescheitert. In der
Wilhelmstraße
wurde uberlegt, wie man auf die franzosisch-britische Annaherung reagieren sollte, ohne selbst an politischem Handlungsspielraum zu verlieren und außenpolitisch isoliert zu werden. Nach den schweren Niederlagen Russlands im Sommer 1904 und den scharfen Spannungen zwischen
London
und
St. Petersburg
nach dem
Doggerbank-Zwischenfall
(21./22. Oktober 1904) wurde Russland als ein moglicher Partner weiter interessant.
[33]
Im November 1904 unterbreitete Wilhelm dem Zaren
Nikolaus II.
ein
Defensivbundnis
. Frankreich sollte erst nach Abschluss des Vertrages von dem Bundnis in Kenntnis gesetzt werden. Die russische Regierung widersetzte sich aber einem solchen Bundnis.
[34]
In der
Ersten Marokkokrise
(1904?1906) standen bald darauf wieder die Spannungen zwischen Frankreich und Deutschland im Fokus. Friedenspolitisch ergriff Wilhelm II. im Juli 1905 eine Initiative: Im Sinne einer Wiederannaherung an Russland, das gerade seinen
Krieg gegen Japan
zu verlieren drohte, schloss er mit Nikolaus II. den
Freundschaftsvertrag von Bjorko
. Frankreich sollte einbezogen werden.
Der Vertrag von Bjorko wurde allerdings schon 1907 von Russland fur gegenstandslos erklart, weil er mit der franzosisch-russischen Annaherung, die inzwischen stattgefunden hatte, nicht vereinbar war.
[35]
Diese Annaherung hatte sich ergeben, nachdem Wilhelm II. im Marz 1905 in der Ersten Marokkokrise
Tanger
besucht hatte (Naheres
hier
). Resultat war uberdies eine Verschlechterung der Beziehungen zu Japan, das Preußen?Deutschland bisher als wissenschaftlichen und militarischen Lehrmeister angesehen hatte.
1908 wurde Wilhelms Hilflosigkeit durch die
Daily-Telegraph-Affare
deutlich: Er beschwerte sich in einem Interview mit der Zeitung uber seine eigene Regierung ? sie sei nicht englandfreundlich genug. Bismarck war ein Meister darin gewesen, seine Politik medial zu flankieren. Bei Wilhelm II. dagegen sollten das Interview und markige Reden die Politik ersetzen. Ein besonders eklatantes Beispiel hatte der Kaiser mit der bereits am 27. Juli 1900 in Bremerhaven gehaltenen
Hunnenrede
gegeben. Mit dem Interview im
Daily Telegraph
fiel er nunmehr der Reichspolitik in den Rucken, indem er darin erklarte, er sei ein guter ?Beschutzer Englands“, hielte er doch die anderen europaischen Machte immer davor zuruck, England zu provozieren. Dies wurde in England als Argernis empfunden: Es lasse sich von niemandem beschutzen und empfand das Interview als
Anmaßung
. Wilhelm knickte angesichts des deutschen Pressesturms ein und versprach, sich kunftig außen- wie auch innenpolitisch zuruckzuhalten.
[36]
Zunehmende Kritik am Kaiser und Entlassung Bulows
Inzwischen hatte die offentliche Meinung bereits lange vor der Daily-Telegraph-Affare begonnen, den Kaiser grundsatzlich kritisch zu sehen. Schon 1902 hatte er sich mit der
Swinemunder Depesche
in die bayerische Innenpolitik eingemischt, zudem ohne sich mit dem Reichskanzler vorher abzustimmen, und so einen Skandal verursacht. Eine Kampagne schadete Wilhelm konkret: 1906 griff der Journalist
Maximilian Harden
, ein außenpolitischer Hardliner, der bereits 1905 einen Praventivkrieg gegen Frankreich gefordert hatte, in seiner Zeitschrift
Die Zukunft
die angebliche ?
Kamarilla
“ um den Kaiser an.
Der
Liebenberger Kreis
, ein seit zwei Jahrzehnten bestehender Freundeszirkel um Wilhelm und den Fursten
Philipp zu Eulenburg
, der den Kaiser angeblich zu seinem ?
personlichen Regiment
“ bewogen haben soll, wurde als ?homoerotische Tafelrunde politischer Weichlinge“ dargestellt, die den Kaiser vom ?mannlichen“ Kurs
Bismarcks
abbringen und zu einer dauerhaften Friedenspolitik gegenuber Frankreich und Großbritannien bewegen wolle und daher sogar uber die Ruckgabe des annektierten
Reichslandes Elsaß-Lothringen
diskutiere. Harden zog alle Register des Sensationsjournalismus, indem er Eulenburgs Homosexualitat (nach
§ 175
damals ein Straftatbestand) enthullte und anprangerte.
[37]
Er erreichte durch Manipulationen, dass Eulenburg sich in einen
Meineid
verstrickte und schließlich festgenommen wurde. Es folgten drei Sensationsprozesse gegen Eulenburg, die trotz Freispruchen das Ansehen des Kaisers beschadigten und in die auch Reichskanzler Bulow hineingezogen wurde.
[38]
Die von 1906 bis 1909 schwelende
Harden-Eulenburg-Affare
wuchs sich zu einem der großten Skandale des Kaiserreiches aus und erregte auch international Aufsehen.
1909 zerbrach der sogenannte
Bulow-Block
, in dem sich die regierungsunterstutzenden
linksliberalen
Parteien sowie die Nationalliberale und die Deutschkonservative Partei zusammengeschlossen hatten. Ausloser war der Versuch Bulows, das
preußische Wahlrecht
zu reformieren, worauf ihm die im preußischen Landtag dominierenden Konservativen die Gefolgschaft verweigerten.
[39]
Sozialdemokraten und
Zentrumspartei
, die diesen Versuch in seinen Grundsatzen unterstutzen, verweigerten trotzdem die Zusammenarbeit mit Bulow. Sie warfen ihm Prinzipienlosigkeit vor, da er erst kurz zuvor in Zusammenarbeit mit den Konservativen neue Repressalien gegen die
polnische Minderheit
durchgesetzt hatte. Die
Germanisierungspolitik
wurde auf Betreiben Kaiser Wilhelms eingeschrankt. Dass Bulow nun aber, um sich die Loyalitat der Konservativen Partei zu sichern, die
Enteignung
von polnischen Gutern erleichterte, ignorierte der Kaiser zunachst, um die stabile Parlamentsmehrheit nicht zu gefahrden. Doch entließ er Bulow und ernannte am 7. Juli 1909
Theobald von Bethmann Hollweg
zum Reichskanzler.
[40]
Außenpolitische Probleme unter Bethmann Hollweg
Wilhelm uberließ dem neuen Kanzler nach dem Krisenjahr nun die Außenpolitik, die aber ihre Ziele ? Wiederannaherung an England und Distanzierung von der antirussischen Balkanpolitik Osterreich-Ungarns ? nicht erreichte. Die antifranzosische Politik wurde 1911 in der
zweiten Marokkokrise
durch deutschen Interventionismus im ?Panthersprung nach
Agadir
“ verscharft. Heer und Flotte wurden weiter verstarkt. Markante Eingriffe Wilhelms unterblieben. Der Kaiser war zwar
Militarist
, aber kein
Bellizist
, er wollte trotz seiner kriegerischen Reden im Grunde keinen Angriffs- oder Praventivkrieg. Er tat aber auch wenig, um dies deutlich zu machen.
Insgesamt ist Wilhelms II. Anteil an der deutschen Außenpolitik umstritten. Wahrend
John C. G. Rohl
in ihm eine wirkungsmachtige Instanz hervorhebt, die in die Politik des Reiches eigenstandig eingriff, sieht die Mehrzahl der Historiker wie
Wolfgang J. Mommsen
die zivile Reichsleitung im Zentrum der Verantwortung. Unbestreitbar ist, dass der Kaiser nicht als Koordinator zwischen Außen-, Heeres- und Flottenpolitik wirkte. So kam es, dass Reichskanzler, Heeres- und Marineleitung jeweils unterschiedliche Ziele verfolgten, die miteinander nicht vereinbar waren. Vor allem schuf der Aufbau der Flotte ein außenpolitisches Problem.
Erster Weltkrieg
Julikrise
In der
Julikrise
1914 spielte Wilhelm II. eine
ambivalente
Rolle. Er versuchte einerseits, den Frieden durch einen fieberhaften Briefwechsel mit dem russischen Zaren (?Lieber Nicky!“ ? ?Lieber Willy!“) zu retten, der bei der nunmehr objektiven Kriegsentschlossenheit samtlicher Kontinental-Großmachte gar nichts bewirkte. Andererseits drangte er zum Losschlagen. Faktisch steigerte der Kaiser letztlich die Kriegsgefahr, denn er ermachtigte Bethmann Hollweg nach dem
Attentat von Sarajewo
am 28. Juni 1914, Osterreich-Ungarn eine
Blankovollmacht
fur dessen aggressive Politik gegen Serbien zu erteilen.
Obwohl die Starke Deutschlands immer mehr zugenommen hatte, hielt Wilhelm, mit seinen Angsten vor ?Sozialismus“, ?gelber Gefahr“, ?slawischer Flut“ und seiner Idee vom ?unvermeidlichen Gegensatz von Slawen und Germanen“, die Zeit fur die letzte Abrechnung gekommen. Dabei unterschatzte er den serbienfreundlichen
Panslawismus
, mit dem seit 1905 die russische Politik die Unruhen im eigenen Reich zu bandigen fest entschlossen war.
[41]
Der deutsche Botschafter in Wien
Heinrich von Tschirschky
drangte auf Wilhelms Anweisung zu einer Aktion gegen Serbien: Er solle ?mit allem Nachdruck erklaren, daß man in Berlin eine Aktion gegen Serbien erwarte und daß es in Deutschland nicht verstanden wurde, wenn wir die gegebene Gelegenheit vorubergehen ließen, ohne einen Schlag zu fuhren“.
[42]
Faktisch wurde nach der osterreichisch-ungarischen Kriegserklarung an Serbien die Außenpolitik von Kaiser und Kanzler dem deutschen
Generalstab
uberlassen: Die
Mobilmachung
im Russischen Reich erlaubte es nach dem Urteil der Generalitat dem Deutschen Reich nicht, mit der Kriegserklarung an Russland und Frankreich langer zu warten, da sonst der deutsche
Schlieffen-Plan
, bei einem Zweifrontenkrieg erst schnell Frankreich, dann Russland zu schlagen, undurchfuhrbar zu werden drohte. Wilhelm mischte sich in der Folge nicht in militarische Zielsetzungen ein, uberließ diese aber nicht verfassungsgemaß dem Reichskabinett, sondern der Obersten Heeresleitung (OHL).
Kriegsbeginn und zunehmender Machtverlust
Im Verlauf des
Ersten Weltkrieges
1914?1918 wurde die Bedeutung des Kaisers immer geringer. Besonders mit der Dritten
Obersten Heeresleitung
unter Hindenburg und dem dominierenden Ludendorff wurde er 1916?1918 zunehmend von den politisch-militarischen Entscheidungen ausgeschlossen. Jedoch schob die Heeresleitung ihm 1917 die auch im Reich umstrittene Entscheidung uber die Wiederaufnahme des nach dem ?
Lusitania-Zwischenfall
“ 1915 eingestellten
?uneingeschrankten“ U-Boot-Kriegs
zu. Er schloss sich ? gegen den Rat seines Reichskanzlers ? der Meinung der Militars an, was im April 1917 zur Kriegserklarung der USA fuhren sollte. Diese machten spater die
Abdankung
des Kaisers zur Bedingung fur die Eroffnung von Friedensverhandlungen. Am 13. Juli 1917 trat Bethmann Hollweg zuruck. Nun hatte Ludendorff eine faktisch diktatorische Position. Auf weitere Reichskanzlerwechsel, zunachst von Bethmann Hollweg zum unerfahrenen
Georg Michaelis
und noch im selben Jahr zum betagten bayerischen Zentrumspolitiker
Georg von Hertling
, nahm Wilhelm II. keinen Einfluss, die 1918er Reform der Reichsverfassung in Richtung auf eine parlamentarische Monarchie wurde ohne ihn versucht. Die ?stille Diktatur der OHL“ war auch durch die Schwache Kaiser Wilhelms bedingt, der in den beiden letzten Kriegsjahren immer hilfloser agierte, was die Position der OHL starkte.
[43]
Kriegsziele
Am 13. Mai 1917 prasentierte Wilhelm seinem Staatssekretar fur Außeres ein Kriegszielprogramm, das die Bestrafung aller Gegner, sogar der USA, in Form von Reparationen vorsah. Neben ausgedehnter kolonialer Expansion ?
Malta
,
Zypern
,
Agypten
,
Mesopotamien
sollten an das
Osmanische Reich
fallen,
Madeira
, die
Kapverden
,
Azoren
und der
Kongo
an Deutschland ? erwartete er die Anbindung von Polen,
Kurland
,
Litauen
,
Ukraine
,
Livland
und
Estland
an sein Reich. Außerdem forderte er unrealistische Kriegsentschadigungen von allen Kriegsgegnern.
Allerdings stand Wilhelm II. gerade in dieser Zeit eher im Hintergrund, er hatte selten ein entscheidendes Wort mitzureden, sodass sein
Programm in Kreuznach
nicht sehr ernst genommen wurde und nur, was den kolonialen Bereich betraf, uberhaupt in der politischen Planung berucksichtigt wurde.
[44]
Im Rahmen einer Balkanreise begeisterte sich der Kaiser uber die reichen Gebiete
Rumaniens
. Das eroberte Land hatte ihm ?außerordentlich gefallen“, ?bei guter Verwaltung wurde das Land zu einer Quelle großten Reichtums werden“.
[45]
1918 autorisierte er den Plan, Russland nach Abtretung
Polens
, des
Baltikums
und des
Kaukasus
in vier unabhangige ?Zarentumer“ zu teilen, namlich
Zentralrussland
,
Sibirien
, die
Ukraine
sowie einen
Sudostbund
als antibolschewistisches Gebiet zwischen der Ukraine und dem
Kaspischen Meer
. Diese Form der Beherrschung hatte eine ?Brucke nach Zentralasien zur Bedrohung der britischen Stellung in
Indien
“ ergeben. Der Plan eines ?Sudostbundes“ stand dabei in Konkurrenz zu osmanischen Absichten.
[46]
Kanzler
Hertling
, der Livland und Estland ?in gewisser Ferne als freundschaftlich uns angeschlossene Staaten“ bezeichnete, wurde von Wilhelm zuruckgewiesen: ?Unsinn! Das Baltikum ist eins, und ich werde sein Herr und dulde keinen Widerspruch, Ich habe es erobert und kein Jurist kann es mir nehmen!“
[47]
Wilhelm sah sein protestantisches Kaisertum, vor allem im Gegensatz zum Haus ?
Habsburg
-
Parma
“, zunehmend als seine Sendung an:
?Das ultrabigotte Haus Parma erstrebt eine konfessionelle Einkreisung des vom verhaßten Hohenzollernhaus regierten Deutschlands. Unter Wiens Fuhrung, sollen im Bundnis mit ihm, Italien ? durch Ruckgabe von
Trentino
und
Tirol
gewonnen ? Frankreich, Polen und
Litauen
bis ans Meer vereinigt werden! Daher Polens Selbstandigkeit und die Wiederaufnahme der in Homburg beseitigten
austropolnischen Losung
. Daher ein selbstandiges Litauen unter katholischen Fursten; daher der Widerstand gegen unsere Angliederung des Baltikums inklusive Liv- und Estland, die Litauen angeschlossen und katholisiert werden sollten, um uns vom Meer abzuschneiden.“
Der Zentrumspolitiker
Matthias Erzberger
, der diesen Interessen diene, sei ?ein schurkenhafter Verrater, der unschadlich gemacht werden“ musse.
[48]
Sturz und Flucht in die Niederlande
Nach der gescheiterten Fruhjahrsoffensive im Westen 1918, den Erfolgen der Westalliierten an der Westfront und dem drohenden Zusammenbruch des verbundeten Osterreich-Ungarn verlangte die Oberste Heeresleitung am 28. September 1918, ein Waffenstillstandsgesuch an die Kriegsgegner zu richten und zugleich die Regierung des Deutschen Reichs auf eine breitere Grundlage zu stellen.
[49]
In mehreren
diplomatischen Noten
machte US-Prasident
Woodrow Wilson
die Gewahrung des
Waffenstillstands
indirekt von einer Abdankung des Kaisers abhangig. Die USA weigerten sich, vorher Friedensverhandlungen aufzunehmen. Da sie infolge von Wilsons
14-Punkte-Programm
als die gemaßigtste der kommenden Siegermachte galten, fand seine Forderung Widerhall in Deutschland.
Am 30. September erging ein Erlass des Kaisers zur Parlamentarisierung.
[50]
Nachfolger Hertlings als Reichskanzler wurde am 3. Oktober
Prinz Max von Baden
. Am 16. Oktober 1918 empfahl die
Fortschrittliche Volkspartei
Wilhelm II. die freiwillige Abdankung. Reichskanzler Prinz Max von Baden betrieb diese seit dem 28. Oktober; am Tag darauf reiste Wilhelm auf Anraten insbesondere
Friedrich von Bergs
von Berlin nach Spa (Belgien). Er residierte dort im
La Fraineuse
und versuchte eine Pendeldiplomatie zwischen sich und der OHL (deren Sitz im
Hotel Britannique
war). In Anbetracht der Stimmung im Volk und der Meinung des Kabinetts hielt Wilhelm die Armee noch am ehesten fur loyal. Diese Hoffnungen zerschlugen sich im Laufe des
Kieler Matrosenaufstands
und der
Novemberrevolution
. Um radikaleren Forderungen der Revolutionare die Spitze zu nehmen, verlangten auch die Mehrheitssozialdemokraten ab dem 7. November den Rucktritt von Kaiser und Kronprinz. Am Tag darauf sprach sich auch die Zentrumspartei fur die Abdankung aus.
[51]
Im Zuge der Novemberrevolution proklamierte gleichzeitig
Kurt Eisner
am 7. November 1918 in Munchen den
Freistaat
Bayern und erklarte
Ludwig III.
als bayerischen Konig fur abgesetzt. Damit war der erste deutsche
Bundesfurst
durch die Revolution vertrieben worden.
Der zu diesem Zeitpunkt politisch paralysierte Monarch sah sich nun mit drei Optionen konfrontiert. General
Wilhelm Groener
vertrat, auch gestutzt auf das Ergebnis einer Befragung von 39 Generalen und Regimentskommandeuren, die Auffassung, das Heer sei nicht mehr in der Hand der Befehlshaber; ein militarisches Vorgehen gegen die Revolution sei zwar wunschenswert, aber vorerst unmoglich, insbesondere mit dem Kaiser an der Spitze. Groeners Analyse, die implizit nahelegte, dass der Kaiser verschwinden musse, wurde ? nach dem Krieg eine standige Quelle der Verlegenheit ? de facto von Hindenburg gedeckt und fand in
Paul von Hintze
und
Werner Freiherr von Grunau
zwei energische Fursprecher, die auch die ?Holland-Losung“ ins Gesprach brachten. Eine andere Gruppe um General
Friedrich Graf von der Schulenburg
, Stabschef der
Heeresgruppe Deutscher Kronprinz
, hielt dagegen einen ?Marsch auf Berlin“, also die militarische Zerschlagung der Revolution, fur durchfuhrbar. Dieser Position neigte zunachst auch Wilhelm zu. Die dritte Moglichkeit wurde von der militarischen Entourage des Kaisers nur in Andeutungen ausgesprochen: Der Monarch solle sich ?nach vorn“, also zur Front begeben, um dort den Tod zu suchen. Eine solche Geste wurde, so die Spekulation vor allem jungerer Generalstabsoffiziere, einen volligen Meinungsumschwung zugunsten der Dynastie bzw. der Monarchie als Institution herbeifuhren. Vorbereitungen fur ein derartiges Unternehmen hatten Groener und Major
Joachim von Stulpnagel
, der Chef der Operationsabteilung der OHL, bereits getroffen.
[52]
Die letzte, von den Ereignissen bereits uberholte Initiative Wilhelms war der am spaten Vormittag des 9. November gefasste Entschluss, zwar als Kaiser, nicht aber als preußischer Konig abzudanken.
[53]
Die Revolution hatte mittlerweile Berlin erfasst. Wahrend in Spa an einer Abdankungsurkunde gearbeitet wurde, traf die Nachricht ein, dass Max von Baden die Abdankung Wilhelms als Kaiser und Konig bekanntgegeben habe. Nach Ansicht des Historikers
Lothar Machtan
ging diese Eigenmachtigkeit des Prinzen Max auf eine ?Hintertreppenpolitik“ Groeners zuruck, der ihm am Vormittag telefonisch mitgeteilt hatte, Wilhelms Verzicht auf beide Throne stunde unmittelbar bevor, er konne sie ?ruhig bekannt geben“. Die verbreitete Ansicht, Prinz Max habe durch dieses Manover in letzter Minute versucht, den revolutionaren Druck zu kanalisieren und die faktisch schon nicht mehr bestehende Monarchie als solche zu retten, sei unglaubwurdig, da die Revolution bereits Berlin erreicht hatte.
[54]
Am Vormittag desselben Tages bat Max von Baden den Vorsitzenden der MSPD
Friedrich Ebert
das Amt des Reichskanzlers zu ubernehmen. Kurz darauf riefen
Philipp Scheidemann
(
SPD
) und
Karl Liebknecht
(
Spartakusbund
)
die Republik aus
.
Da Geruchte umliefen, dass die Mannschaften in der Umgebung des Hauptquartiers nicht mehr zuverlassig seien, ubersiedelte der Kaiser am Abend des 9. November in
den Hofzug
und fuhr am fruhen Morgen des nachsten Tages ab, nachdem von ?anmarschierenden Aufstandischen“ berichtet worden war. In der Nahe des niederlandischen Ortes
Eijsden
(sudlich von
Maastricht
) bat er die Niederlande um
politisches Asyl
. Durch Vermittlung der niederlandischen Regierung (Kabinett Beerenbrouck I unter Ministerprasident
Charles Ruijs de Beerenbrouck
) fanden Wilhelm II. und sein Gefolge Unterkunft bei Graf Godard von
Bentinck
im
Schloss Amerongen
.
[55]
Nach dem Ende der Monarchie (1918?1941)
Formelle Abdankung
Offiziell dankte Wilhelm II. am 28. November 1918 ab, 19 Tage nach der Ausrufung der Republik, nach eigener Aussage in der Hoffnung, die Situation im Reich zu stabilisieren. Der
irisch
-
kanadische
Volkerrechtler
William Schabas
vermutet, dass die formelle Abdikation die Bedingung der niederlandischen Regierung fur die Einreiseerlaubnis der Ex-Kaiserin war, die am selben Tag in die Niederlande ubersiedelte.
[56]
Der Text der Abdankungsurkunde lautete:
[57]
?Ich verzichte hierdurch fur alle Zukunft auf die Rechte an der Krone Preussens und die damit verbundenen Rechte an der deutschen Kaiserkrone. Zugleich entbinde Ich alle Beamten des Deutschen Reiches und Preussens sowie alle Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften der Marine, des Preussischen Heeres und der Truppen der Bundeskontingente des Treueides, den sie Mir als ihrem Kaiser, Konig und Obersten Befehlshaber geleistet haben. Ich erwarte von ihnen, dass sie bis zur Neuordnung des Deutschen Reichs den Inhabern der tatsachlichen Gewalt in Deutschland helfen, das Deutsche Volk gegen die drohenden Gefahren der Anarchie, der Hungersnot und der Fremdherrschaft zu schutzen.
Urkundlich unter Unserer Hochsteigenhandigen Unterschrift und beigedrucktem Kaiserlichen Insiegel.
Gegeben Amerongen, den 28. November 1918.
Wilhelm“
Am 1. Dezember verzichtete sein Sohn auf die Nachfolge.
Am 27. Marz 1920 veroffentlichte das Preußische Innenministerium einen Erlass, mit dem alle Symbole der Monarchie ? einschließlich der Kaiserbilder ? aus dem offentlichen Raum zu entfernen waren.
[58]
Flucht
Ein alliiertes Gesuch, den fruheren Regenten an die Siegermachte auszuliefern, lehnte die niederlandische Regierung am 22. Januar 1920 ab.
[59]
Bis 1920 lebte Wilhelm II. auf
Schloss Amerongen
(Niederlande), danach im
Haus Doorn
bei
Utrecht
im
Exil
. Am 11. April 1921 starb seine Frau, Kaiserin Auguste Viktoria. Kurz vor ihrem Tod außerte Auguste Viktoria den Wunsch nach einer Wiedervermahlung des Kaisers nach ihrem Ableben. Am 5. November 1922 heiratete er die verwitwete Prinzessin
Hermine von Schonaich-Carolath
, geborene Prinzessin
Reuß alterer Linie
(1887?1947), der fortan die Titulatur einer ?Kaiserin“ zukam, wahrend sie amtlich nur eine ?Prinzessin von Preußen“ war.
Der im
konservativen
Milieu weithin als ?Fahnenflucht“ empfundene, kampflose Abgang des Kaisers war noch bis in die 1940er Jahre Gegenstand einer Debatte, in der phasenweise erbittert uber die Deutung des Ereignisses und die Frage der Verantwortung gestritten wurde.
[60]
Die neuere Forschung fuhrt die auffallige strukturelle Schwache der explizit monarchistisch-restaurativen Stromung der deutschen Rechten, die schon in der ersten Halfte der 1920er Jahre unubersehbar zutage trat,
[61]
zu einem erheblichen Teil auf den verheerenden Eindruck der ?Kaiserflucht“ zuruck. Hier liege die entscheidende Wegmarke einer ?Ablosungsbewegung vom Kaiser, die sich selbst fur den innersten Kern des preußischen Adels nachweisen lasst“
[62]
und als Grundlage der ? verglichen etwa mit der Langlebigkeit des franzosischen
Legitimismus
? uberraschend schnellen und dauerhaften ?Auflosung des Monarchismus“
[63]
in Deutschland betrachtet werden musse.
Haltung zu Weimarer Republik und NS-Regime
Wilhelm versammelte Gelehrte zu kulturhistorischen Studien um sich (?
Doorner Arbeitskreis
“), verfasste seine Memoiren und weitere Bucher und hielt sich fur die Wiederherstellung der Monarchie bereit. Unter anderem durch den
Hitlerputsch
1923 sah er sich in der These bestatigt, nur ein Monarch konne Ruhe und Ordnung garantieren. Gleichwohl wurden Hoffnungen auf eine kurzfristige und ubergangslose Restauration der Monarchie schon bald auch im engsten Kreis um Wilhelm als ? so
Magnus von Levetzow
1927 ? Ausdruck ?vollkommener Hirnverbranntheit“
[64]
betrachtet. Diese nachhaltige Ernuchterung wurde nicht zuletzt durch die Tatsache gefordert, dass maßgebliche Monarchisten in Deutschland nach 1925 offen aussprachen, dass weder Wilhelm noch einer seiner Sohne ernsthaft als Thronpratendent in Betracht komme.
[65]
Der wegen der Flucht und der Geruchte uber seinen Lebenswandel seit 1919 geradezu als ?unmoglich“
[66]
geltende Kronprinz vertrat im Einvernehmen mit seinem Vater bereits im Mai 1924 die Auffassung, dass zunachst ?ein Diktator den Karren aus dem Dreck ziehen“ musse.
[67]
Obwohl die Hohenzollern vom republikanischen Deutschland großzugig abgefunden wurden, machte Wilhelm aus seinem Hass auf die ?Saurepublik“ keinen Hehl. Den Wunsch, wieder auf den Thron zuruckzukehren, gab der ehemalige Kaiser nie auf. Wahrend der Endphase der
Weimarer Republik
machte sich Wilhelm (bestarkt durch seine Frau, die im Reich umherreiste, und zwei Besuche
Hermann Gorings
1931 und 1932) Hoffnungen auf eine Wiederherstellung der Monarchie durch die
Nationalsozialisten
. Dies erschien damals insofern nicht ganz unrealistisch, als die in vieler Hinsicht fur die Nationalsozialisten vorbildhaften
italienischen Faschisten
den
Konig von Italien
auch wahrend
Mussolinis
Diktatur im Amt beließen. Die Hoffnungen auf eine Wiedereinsetzung des Kaisers erwiesen sich nach der
Machtergreifung
der
NSDAP
Anfang 1933 als Illusion: Als Hitler, zwei Tage nach dem
Tag von Potsdam
, in seiner
Rede vor dem Reichstag am 23. Marz 1933
feierlich versprach, die Institutionen der
Weimarer Reichsverfassung
nicht anzutasten, traf das den Ex-Kaiser nach Aussage seines Adjutanten
Sigurd von Ilsemann
wie ein ?Blattschuss“: Wie ein Angeklagter, der seinen Urteilsspruch anhort, habe er mit weit aufgerissenen Augen dagesessen und nur noch sagen konnen: ?So!“
[68]
In der Folge entwickelte Wilhelm eine zunehmend distanzierte Haltung zur politischen Entwicklung in Deutschland.
?Alles wird von den Leuten ja beseitigt: die Fursten, der Adel, die Offiziere, die Stande usw.; aber das wird sich rachen, man wird die einzige Fahne, die sie noch ubrig gelassen haben, die mit dem Hakenkreuz, noch einmal verfluchen, und die Deutschen selber werden sie eines Tages verbrennen“, urteilte er am 7. September 1933.
[69]
Antisemitismus
Als Kronprinz suchte Wilhelm die Nahe zur
antisemitischen
Bewegung des Hofpredigers
Adolf Stoecker
und beklagte verschiedentlich, die seines Erachtens judisch dominierte Presse habe zu großen Einfluss. Als Kaiser ruckte er von Stoecker ab und trennte sich 1890 von ihm.
[70]
In seinen dreißig Regierungsjahren hatte Wilhelm judenfeindliche Initiativen oder Außerungen unterlassen und zu mehreren prominenten
Juden
freundschaftliche Kontakte unterhalten. Zu diesen spater von
Chaim Weizmann
sogenannten ?
Kaiserjuden
“ gehorten unter anderem
Albert Ballin
,
James Simon
,
Emil
und
Walther Rathenau
,
Max Warburg
,
Eduard Arnhold
sowie
Carl Furstenberg
.
[71]
Nach
Wolfgang Benz
beweist das aber nicht, dass der Kaiser kein Antisemit gewesen ware: Man durfe nicht ubersehen, ?daß der Kaiser mehrmals erklart hat, er sehe Ballin nicht als Juden an“.
[72]
Von
Houston Stewart Chamberlains
antisemitischem Werk
Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts
war der Kaiser so begeistert, dass er alle hoheren Schulen Deutschlands verpflichtete, mindestens ein Exemplar davon anzuschaffen.
[73]
Wilhelms ambivalente Haltung wandelte sich nach seiner Absetzung zu entschiedenem Antisemitismus, der fur ihn das wichtigste Erklarungsmodell fur seinen Sturz wurde: Wilhelm glaubte, er hatte seinen Thron durch eine judische
Verschworung
verloren.
[71]
Bereits wahrend der
Novemberrevolution
betonte er: ?Ich denke gar nicht daran, den Thron zu verlassen wegen ein paar hundert Juden, den paar tausend Arbeitern!“
[74]
John C. G. Rohl
schreibt in seiner Biographie, Wilhelm habe seit 1918 in einer Vorstellungswelt gelebt, die ?in ihrer alptraumhaften Entrucktheit und weltanschaulichen Radikalitat extrem befremdlich wirkt“: Gegen die ?
Novemberverbrecher
“, gegen Juden,
Freimaurer
und Demokraten außerte er immer wieder Gewaltphantasien und
Verschworungstheorien
.
[75]
Im August 1919 schrieb Wilhelm etwa an den Generalfeldmarschall
August von Mackensen
, die Deutschen waren ?angehetzt und verfuhrt durch den ihnen verhaßten Stamm Juda, der
Gastrecht
bei Ihnen genoß. Das war der Dank! Kein Deutscher vergesse je, und ruhe nicht, bis diese
Schmarotzer
von deutschem Boden vertilgt und ausgerottet sind!“
[76]
Rathenau bezeichnete er als ?gemeinen, hinterlistigen, niedertrachtigen Verrater‘, der zu dem ?inneren Ring‘ der zweihundert Juden gehort habe, die die
Welt regierten
, und der mit Recht ermordet worden sei.
[72]
In einem Brief an seinen amerikanischen Freund
Poultney Bigelow
am 15. August 1927 hieß es:
?Die hebraische Rasse ist mein Erz-Feind im Inland wie auch im Ausland; sind was sie sind und immer waren: Lugenschmiede und Drahtzieher von Unruhen, Revolution und Umsturz, indem sie mit Hilfe ihres vergifteten, atzenden, satirischen Geistes Niedertrachtigkeit verbreiten. Wenn die Welt einmal erwacht, muss ihnen die verdiente Strafe zugemessen werden.“
[77]
Im selben Jahr schrieb er ebenfalls an Bigelow:
?Die Presse, die Juden und Mucken sind eine Pest, von der sich die Menschheit so oder so befreien muß ? I believe the best would be
gas
.“
[78]
Andererseits erklarte er 1938, jeder anstandige Mensch musse die
Novemberpogrome
als ?reines Gangstertum“ bezeichnen. Am 13. November schrieb er an die britische Koniginwitwe
Maria von Teck
, er sei ?vollkommen entsetzt uber die Ereignisse zu Hause! Reiner Bolschewismus!“
[79]
Offentlich kritisierte er die antisemitischen Gewalttaten aber nicht. Auslandische Zeitungen berichteten, Wilhelm habe erklart, er ?schame sich zum ersten Mal in seinem Leben, ein Deutscher zu sein“.
[80]
Der Historiker
Stephan Malinowski
bezeichnet das Interview, in dem diese Außerung gefallen sein soll, als Falschung und verweist auf mehrere
Dementis
des Ex-Kaisers.
[81]
Im
Zweiten Weltkrieg
verbreitete er erneut Verschworungstheorien uber den ?
Antichrist
Juda“, von dem England und Europa befreit werden mussten. 1940 behauptete er, Juden und Freimaurer hatten 1914 und 1939 einen
Vernichtungskrieg
gegen Deutschland vom Zaun gebrochen, um ein von britischem und amerikanischem Gold gestutztes ?judisches Weltreich“ zu errichten ? ?da griff Gott ein und zerschlug den Plan!“
[82]
Unmittelbar wirkungsmachtig war Wilhelms Antisemitismus nicht, da die Nationalsozialisten auf ihn nicht angewiesen waren. Bedeutsam war er eher dadurch, dass er antisemitischen Vordenkern wie
Houston Stewart Chamberlain
, mit denen er offen Kontakt hielt, in konservativ-monarchischen Kreisen Respektabilitat verschaffte.
[83]
Im Zweiten Weltkrieg
Die niederlandische Konigin
Wilhelmina
, die wahrend seines gesamten Exils jeden direkten Kontakt zu Wilhelm vermieden hatte,
[84]
ließ ihm im April 1940 angesichts eines bevorstehenden
deutschen Angriffs auf die Niederlande
eroffnen, dass er sich nicht mehr als Internierter zu betrachten habe und darum ausreisen konne, wann und wohin er wolle. Die niederlandische Regierung unter Ministerprasident
de Geer
legte ihm mehrfach nahe, einen Ort aufzusuchen, der nicht unmittelbar in der Kampfzone lag. Selbst das britische Konigshaus unter der Regentschaft von Konig
Georg VI.
bot Wilhelm Asyl an. Der Kaiser lehnte aber alle Angebote dankend mit der Erklarung ab, er wolle wegen seines hohen Alters in Doorn bleiben und seinem Schicksal dort entgegensehen.
[85]
Bei der
Besetzung der Niederlande
im Mai 1940 ließ
Adolf Hitler
das Anwesen durch die
Geheime Feldpolizei
abriegeln. Der Kaiser durfte es nach wie vor nur zu kurzen Ausflugen und in Begleitung verlassen.
Wilhelm schickte Hitler am 17. Juni 1940 ein Gluckwunschtelegramm, in dem er ihm anlasslich des franzosischen
Waffenstillstandsgesuchs
gratulierte:
?Unter dem tiefergreifenden Eindruck der Waffenstreckung Frankreichs begluckwunsche ich Sie und die gesamte deutsche Wehrmacht zu dem von Gott geschenkten gewaltigen Sieg mit den Worten Kaiser
Wilhelms des Großen
vom Jahre 1870: ?Welche Wendung durch Gottes Fugung‘. In allen deutschen Herzen erklingt der
Choral von Leuthen
, den die Sieger von
Leuthen
, des
Großen Konigs
Soldaten, anstimmten: ?
Nun danket alle Gott
‘“
[86]
Tod und Beisetzung
Wilhelm II. starb am 4. Juni 1941 um 12:30 Uhr im Haus Doorn nach einer
Lungenembolie
. Trauerfeiern im Reich wurden verboten. Die NS-Machthaber erlaubten nur einer kleinen Zahl von Personen (dem engeren Familienkreis, einigen ehemaligen Offizieren, darunter
Generalfeldmarschall
August von Mackensen
) die Fahrt in die besetzten Niederlande zur Teilnahme an der Beisetzung. Der Kaiser hatte seine Beisetzung im engsten Kreis verfugt und Trauerreden, Kranze und Fahnen (um Hakenkreuzfahnen zu vermeiden) untersagt.
[87]
An der Trauerfeier nahmen Abordnungen der
alten Armee
und der neuen Wehrmacht teil, die Bestattung endete auf Wunsch des Kaisers mit dem von der Wehrmachtskapelle gespielten Choral und Gebetslied des
Großen Zapfenstreichs
?
Ich bete an die Macht der Liebe
“.
Wilhelm wurde zunachst in einer Kapelle nahe dem Doorner Torhaus beigesetzt, wobei drei Hande Potsdamer Erde aus der Gegend des
Antikentempels
, dem Bestattungsort Auguste Viktorias, auf seinen Sarg gestreut wurden.
[88]
Er selbst hatte verfugt, dass eine ?Umbettung seiner Gebeine in deutsche Erde“ erst nach der Wiedererrichtung der Monarchie in Deutschland durchzufuhren sei.
Spater wurde sein Sarg in das nach seinen Zeichnungen
postum
erbaute
Mausoleum
im Park von Haus Doorn uberfuhrt. Sein von ihm selbst ausgewahlter Grabspruch lautet:
?Lobet mich nicht, denn ich bedarf keines Lobes;
Ruhmet mich nicht, denn ich bedarf keines Ruhmes;
Richtet mich nicht, denn ich werde gerichtet werden.“
[89]
Personlichkeit
Eine besondere Zuwendung von seinen Eltern erfuhr Wilhelm II. nicht, was zu einem bleibenden Ressentiment besonders gegen seine Mutter fuhrte, die ihn ihrerseits, folgt man ihren familiaren Briefen, auch politisch sehr kritisch sah. Schmerzvoll waren die Versuche der Familie, seiner Behinderung entgegenzuwirken. Sein verkummerter linker Arm fuhrte zu Gleichgewichtsstorungen und Haltungsschaden sowie haufigen Schmerzen im linken Ohr. Doch der zukunftige Konig von Preußen sollte ein ?ganzer Mann“ und kein Kruppel sein. So wurden dem Kind verschiedene schmerzhafte Therapien zugemutet. Das oft erforderliche Reiten fiel ihm lebenslang schwer.
Die Behinderung verminderte vermutlich sein Selbstwertgefuhl und steigerte seine
Egozentrik
, leichte Krankbarkeit und Sprunghaftigkeit. Das Tragen von Uniformen und das Abstutzen der linken Hand auf der Waffe waren da hilfreiche Angewohnheiten. Ob von einer ernsthaften seelischen Erkrankung oder von einer Anlage zu einer
Geisteskrankheit
gesprochen werden kann, ist strittig. Ein
schwermutiger
Zug wird ihm mitunter attestiert. Auch von
Neurasthenie
oder ?manisch-depressivem Irresein“ war zeitgenossisch die Rede, wobei die meisten psychiatrischen Zuschreibungen erst nach der Abdankung des Kaisers erfolgten.
[91]
Der Psychiater
Emil Kraepelin
sah Wilhelms Gemutsverfassung sogar ? in einer auf offentlich zugangliche Quellen gestutzten Ferndiagnose ? als einen ?typischen Fall periodischen Gestortseins“, wobei die hier insinuierte manisch-depressive Disposition von anderer Seite bestritten wurde.
[92]
Der US-amerikanische Historiker
Robert K. Massie
beschreibt ihn zum Zeitpunkt des Regierungsantritts:
?Wer den neuen deutschen Kaiser betrachtete, sah einen knapp mittelgroßen Mann mit rastlosen, strahlend blauen Augen und lockigem hellbraunen Haar. Sein auffallendstes Merkmal war ein buschiger Schnurrbart mit aufgebogenen Spitzen, die Kreation eines geschickten Barbiers, der jeden Morgen mit einer Dose Wachs im Schloss erschien. […] Wilhelm II. wunschte die Zustimmung und Zuneigung seines Volkes, sehnte sich sogar danach, aber die hochste Macht lag fur ihn nicht beim Volk oder seinen Vertretern im Reichstag, sondern beim Monarchen, der loyal von seiner Armee unterstutzt wurde.“
[93]
Dem historischen Publizisten
Volker Ullrich
galt der Kaiser als ?unsicher und arrogant, intelligent und impulsiv, vernarrt in die moderne Technik und zugleich verliebt in Pomp und Theatralik“.
[94]
Anhaltende Schwierigkeiten waren Wilhelm II. verhasst. Das begunstigte wohl auch seine sprichwortliche Reiselust. Vor allem aber ließ er deswegen auch bewahrte Freunde und Parteiganger schnell im Stich, sodass zunehmend Hoflinge mit eher diplomatischem Charakter seinen Umgang ausmachten und seine Personalauswahl bestimmten (so wohl auch die Wahl Bulows). Offiziere, unter denen er sich wohl fuhlte, erweiterten sein Urteil wenig, denn sie hatten im Zweifel die politischen
Vorurteile
ihrer
kasten
artig abgeschlossenen Berufsgruppe, und auch ihr Stil des
Schwadronierens
farbte auf ihn ab.
Von seiner Personlichkeit her gesehen behinderten
narzisstische
Zuge seine
Einfuhlungsgabe
und sein Urteil uber Andere, wie etwa uber Nikolaus II. von Russland. Er selbst sah sich als geradezu und offen, doch seine
Taktlosigkeiten
waren bekannt. Sie fielen seiner Mitwelt besonders bei seinem Regierungsantritt und bei Bismarcks Entlassung ins Auge und wurden von diesem in seinen
Gedanken und Erinnerungen
eifrig ausgebreitet. Eine diese Nachteile ausbalancierende Welt- und Menschenkenntnis zu erwerben, hatte sein Werdegang ihm nicht erlaubt.
Trotz der Wesensunterschiede zu seinem
altpreußisch
-schlichten und im Personlichen loyalen Großvater Wilhelm I. versuchte Wilhelm II. immer, dessen Regierungsmuster zu folgen. Man kann sein anfangliches Verhaltnis zu Caprivi dergestalt deuten, dass er hier ?seinen eigenen Bismarck“ gefunden zu haben hoffte. Zum militarischen Oberbefehlshaber ernannte er den Neffen des beruhmten Generalfeldmarschalls
Helmuth von Moltke
(?Ich will auch einen Moltke“), der dann aber aus dem Schatten
Alfred von Schlieffens
nicht herauszutreten vermochte. Allerdings wurde die Zuruckhaltung seines Großvaters bei direkten politischen Eingriffen keineswegs bleibendes Merkmal des Enkels. Wiederholt griff Wilhelm II. durch Personalentscheidungen und Befehle fur Gesetzesvorlagen direkt in die Politik ein.
Gar nicht folgte er der offentlichen Zuruckhaltung des alten Kaisers. Mit Selbstdarstellungseifer drangte Wilhelm II. oft ostentativ in die Offentlichkeit, wobei seine nicht unbeachtliche Rednergabe ihm ein lebhaftes Echo einbrachte, ihn aber auch zu politisch bedenklichen Formulierungen hinriss. Auch begunstigte dieser Ubereifer sein Verhaltnis zu den
Massenmedien
. Man kann ihn als ersten Medienmonarchen des 20. Jahrhunderts ansehen.
[95]
Sein Faible fur Uniformen und Orden trug zum Klischee-Bild des nach ihm benannten
Wilhelminismus
bei. Sein Oberlippenbart wurde zur Mode und bezeugte unter anderem die Kaisertreue seiner Untertanen. Der vom Hoffriseur des Kaisers
Francois Haby
als ?Es-ist-erreicht-Bart“ beworbene ?Kaiser-Wilhelm-Bart“ unterstrich die markant mannliche Botschaft seiner Uniformen. Den
Werbeslogan
griff
Theodor Fontane
im Titel seines Arbeitsentwurfs
Erreicht
auf und auch
Heinrich Mann
machte in seinem Roman
Der Untertan
(1914) Anleihen aus der allgemein popularen
Werbesprache
, wie etwa die sehr bekannten Begriffe ?Kaiserbinde“ oder ?Deutsche Barttracht“ belegen. Dadurch verknupfte er die Handlung seines Romans mit der Realitat und hat ihm zugleich ein leitmotivisch ironisches Motto vorgegeben. Dieses verbindet verschiedene Handlungsebenen, zum Beispiel spielt es ? auf der politischen ? auf die endlich erreichte
Reichseinigung
an.
[96]
Auch wenn der Bart unmodern und albern wirken mag, war er in seiner wortlichen Zeichenhaftigkeit zweifellos modern. Aber Wilhelms Barttracht hob sich nur in uberdeutlicher Dynamik modernistisch von der altvaterlichen seiner Kaiservorfahren ab. Wilhelms II. operettenhafter Gesamtauftritt war ? genau betrachtet ? ubertrieben provokant und unzeitgemaß. Es illustrierte sein undurchdachtes, militant ubersteigertes, neoabsolutistisches und auf seine Person fokussiertes Regiment.
[97]
Ein Hohepunkt dieses Stils war die pompose und von der Berliner Bevolkerung als ?Puppenallee“ in gewohnter Weise verspottete
Siegesallee
im
Großen Tiergarten
mit 32 Statuen der brandenburgischen
Markgrafen
und
Kurfursten
, der preußischen Konige und weiteren 64 Nebenfiguren. Fur das Standbild des
Askaniers
Albrecht der Bar
fertigte Wilhelm eigenhandig Kostumskizzen an.
[98]
In der sogenannten ?Rinnsteinrede“ zur Eroffnung des Prachtboulevards am 18. Dezember 1901 verordnete Wilhelm den Stil der
Bildenden Kunste
von oben (?keine Rinnsteinkunst!“).
Eigene Interessen entwickelte er ferner fur die
Archaologie
, seine
Korfu
-Aufenthalte waren davon bestimmt. Außerdem betrieb er, wie in Adelskreisen nicht unublich, begeistert die
Jagd
. Seine Trophaenzahl erfreute ihn (er erlegte rund 46.000 Tiere). Im Exil fallte und zerhackte er gerne Baume. Bei der Jagd hatte Wilhelm auch seinen spater engen Freund
Philipp Graf zu Eulenburg
kennengelernt, der besonders in den Jahren 1890 bis 1898 zu seinen wichtigsten Beratern zahlte.
Wilhelm liebte wie sein Bruder
Heinrich
das
Segeln
. Er segelte vor der Kuste Sudenglands mit seinen Yachten
Meteor I?V
in prestigetrachtigen Regatten und war Stammgast bei der
Kieler Woche
, die er 1894 zum ersten Mal besucht hatte.
Automobile
machten ihm Freude. Er fuhr gerne mit den neuesten Wagen und war Protektor des
Kaiserlichen Automobilclubs
.
Mit seiner Vorliebe fur die Marine ist auch eine Freizeitbeschaftigung Wilhelms II., das Zeichnen und Malen von Marinebildern, verknupft. Seine Mutter, die
Kaiserin Friedrich
, war eine begabte Dilettantin. Als Prinz hatte Wilhelm II. Unterricht bei dem Marinemaler
Carl Saltzmann
und bei dem Hofmaler
Paul Bulow
. Er entwarf außerdem zahlreiche Denkmaler und korrigierte eigenhandig Architekturentwurfe fur kaiserliche Bauten.
[99]
Desengagement, wenn die Dinge anders liefen, als er wollte, blieb sein Wesenszug. 1918, angesichts der Novemberrevolution, entwich er ins neutrale Ausland. Seine in Holland verfasste
Autobiografie
gibt sprechende Zeugnisse aus seiner Kindheit, bezeugt aber mit ihren Rechtfertigungen oder Themenvermeidungen seine Urteilsschwachen.
Bild in der Offentlichkeit
Wilhelm war zunachst recht popular. Die weniger geschatzten Zuge einer Reichseinigung ?von oben“ mit Bewahrung alter Machtstrukturen fand in der Kaiserverehrung einen willkommenen Ausgleich. Die weithin monarchistisch gesinnte Presse nahm dies auf, man fand fur ihn die Bezeichnungen ?Arbeiterkaiser“ und ?Friedenskaiser“. Die letztere Bezeichnung geht u. a. auf den Vorschlag von
Emanuel Nobel
von 1912 zuruck, Kaiser Wilhelm II. den von
Alfred Nobel
gestifteten
Friedensnobelpreis
zuzusprechen, damals hatte das Deutsche Reich unter seinem Kaisertum 24 Jahre Frieden gehalten.
[100]
Doch wurde er andererseits auch als bedrohlich empfunden (vgl.
Ludwig Quiddes
als Kritik an Wilhelm II. aufgefasste und vielrezipierte 1894er Studie
Caligula
zum ?
Casarenwahnsinn
“) oder aber verspottet: ?Der erste war der greise Kaiser, der zweite war der weise (auch: leise) Kaiser, der dritte ist der Reisekaiser.“ Uber seine vielen verschiedenen
Uniformen
? Graf
Philipp zu Eulenburg
sprach von ?Alle Tage Maskenball!“ ? wurden Witze gemacht: Der
Simplicissimus
veroffentlichte den Scherz: ?Serenissimus, im Badezimmer ist ein Rohr geplatzt. ? Bringen Sie die Admiralsuniform.“ Die Bezeichnung ?Redekaiser“ erwarb sich Wilhelm durch die von ihm gehaltenen Reden. Sowohl der
Reise-
als auch der
Redekaiser
waren oft spottisch gemeint.
[101]
Gefahrlicher als die Kritik der Demokraten, Sozialisten, Katholiken, auch der im Reich vertretenen Minderheiten (die Polen, die Danen seit 1864, die welfisch gesinnten Hannoveraner seit 1866, die Elsass-Lothringer seit 1871) traf ihn die Skepsis des die offentliche Meinung beherrschenden Burgertums. Bei vielen Schriftstellern war er nicht angesehen, der ironische
Thomas Mann
war in seinem Roman
Konigliche Hoheit
noch am mildesten mit einem behinderten und etwas einfaltigen Dynasten umgegangen. Direkte Kritik verbot der Paragraph zur ?
Majestatsbeleidigung
“ im Strafgesetzbuch, aber die Witze uber ihn wurden immer beißender. Man vergleiche nur das viel positivere Kaiserbild des alten Kaisers
Franz Joseph
in Osterreich-Ungarn.
Sein eigener Onkel, der britische Konig
Eduard VII.
, beschrieb ihn einmal als den ?brillantesten Versager der Geschichte“.
[102]
Die
Harden-Eulenburg-Affare
beschaftigte 1907?1909 die gesellschaftspolitische Debatte in Deutschland. Wilhelms engster Freund
Philipp Furst zu Eulenburg
und dessen
Liebenberger Kreis
wurden dadurch kompromittiert. Der um sein Image besorgte Kaiser ließ Eulenburg fallen und setzte sich von seinen Liebenberger Freunden ab.
Nach seinem lange hinausgezogerten Entschluss, 1918 nicht an der Spitze seiner Truppe zu fallen, sondern ins Exil zu gehen, wurde ihm auch
Feigheit
vorgeworfen. Bei vielen verschob sich die Meinung hin zu
Verachtung
. Dennoch blieb durch die Jahre der Weimarer Republik hindurch der monarchistische Flugel stark. Doch Wilhelms Hoffnungen auf eine Ruckkehr als Monarch zerschlugen sich nach der Prasidentenwahl Hindenburgs 1925 und noch einmal nach Hitlers Machtantritt 1933. Hindenburg nahm seinen Eid auf die Republik ernst, Hitler seine ?
Fuhrer
“-Diktatur.
Volker Ullrich
urteilte auf Grund der nunmehr vollstandig vorliegenden Studie Rohls uber Wilhelm II. 2008:
?Mit seiner Geringschatzung alles Zivilen, seiner Verachtung der Slawen, seinem Hass auf die Juden, seinen ausufernden Weltmachtfantasien vertrat er Haltungen und Ideen, die von den Nationalsozialisten aufgegriffen, radikalisiert und in die Tat umgesetzt wurden. Insofern ist es durchaus berechtigt, ihn als einen Vorboten Hitlers zu bezeichnen.“
[103]
Der Historiker
Christopher Clark
kommt in seinem Werk
Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers
jedoch zu einem anderen Urteil. Clark pladiert dafur, die in seinen Augen veraltete Theorie des deutschen Sonderweges zu uberdenken und das Deutsche Kaiserreich und seinen letzten Kaiser nicht als Vorlaufer der nationalsozialistischen Diktatur zu sehen.
?Der spottische, verunglimpfende, ja sogar verteufelnde Tonfall vieler historiographischer Kommentare zu Wilhelm zahlt zu den pragnantesten und auffalligsten Merkmalen auf diesem Gebiet. Man braucht kein Fursprecher einer Rehabilitierung zu sein, um zu spuren, dass diese Sprache ein wenig uberzogen und fehl am Platze ist. Das ist so, als wurde Wilhelm zur Symbolfigur fur etwas gemacht, das uber seine Person hinausreicht und großer ist als er selbst.“
[104]
Ehen und Nachkommen
Wilhelm heiratete 1881 Prinzessin
Auguste Viktoria von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg
(1858?1921). Durch die gemeinsame
Urgroßmutter
Victoire von Sachsen-Coburg-Saalfeld
(1786?1861) waren die Eheleute Cousin und Cousine zweiten Grades. Sie hatten sieben Kinder.
Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete er 1922 die verwitwete Prinzessin
Hermine von Schonaich-Carolath
, geborene Prinzessin
Reuß a. L.
(1887?1947), die von ihm als ?Kaiserin“ tituliert wurde, amtlich aber nur eine ?Prinzessin von Preußen“ war. Wilhelms Nachkommen waren:
-
Hochzeitsmedaille 1881, Vorderseite von
Friedrich Wilhelm Kullrich
-
Ruckseite der Hochzeitsmedaille mit den von drei Pagen getragenen Wappenschildern von Preußen, des Deutschen Reiches und von Schleswig-Holstein. Das Brautpaar in mittelalterlicher Tracht.
-
Wilhelm II. mit seiner Familie, 1896
-
Wilhelm mit seiner zweiten Frau Hermine, 1933
Vorfahren
Titel und Range
Ehrungen
Denkmaler
Namensgeber
Nach Wilhelm II. wurden benannt:
- Kaiser Wilhelm II. (Schiff, 1889)
, Reichspostdampfer
- Kaiser Wilhelm II. (Schiff, 1899)
, Transporter im Dienst des Auswartigen Amts/Reichskolonialamts in Deutsch-Ostafrika
- Kaiser Wilhelm II. (Schiff, 1900)
, Linienschiff der Kaiserlichen Marine
- Kaiser Wilhelm II. (Schiff, 1903)
, Passagierschiff
- Kaiser Wilhelm II.
, Raddampfer in Dresden, siehe
Blasewitz (Schiff, 1900)
- Feste Kaiser Wilhelm II.
, Befestigungsanlage im Elsass
- Kaiser-Wilhelm-Turm
auf der Zeche Mont Cenis in Herne-Sodingen
- Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft
, seit 1948
Max-Planck-Gesellschaft
- Westfalische Wilhelms-Universitat
zu
Munster
- Kaiser-Wilhelm-II.-Land
, Sektor des Kontinents
Antarktika
- Keiservarden
im
Fylke Nordland
[105]
- Mehrere
Kaiser-Wilhelm-Brucken
Schriften
Memoiren
Historische Werke
- Vergleichende Geschichtstabellen von 1878 bis zum Kriegsausbruch 1914.
K. F. Koehler, Leipzig 1921.
- Meine Vorfahren.
Verlag fur Kulturpolitik, Berlin 1929.
Kulturgeschichtliche Werke
- Das Wesen der Kultur. Vortrag Seiner Majestat des Kaisers Wilhelm II. nach einer von Leo Frobenius fur Seine Majestat verfassten vorlaufigen Skizze.
Privatdruck, Berlin 1931.
- Die chinesische Monade, ihre Geschichte und ihre Deutung.
K. F. Koehler, Leipzig 1934.
- Studien zur Gorgo.
Walter de Gruyter, Berlin 1936. (Anlass war der Fund eines antiken
Gorgo
-Bildwerks auf seinem Grundstuck auf Korfu.)
- Das Konigtum im alten Mesopotamien.
Walter de Gruyter, Berlin 1938.
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Baldachins
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- Stefan Samerski
(Hrsg.):
Wilhelm II. und die Religion. Facetten einer Personlichkeit und ihres Umfelds.
Duncker und Humblot, Berlin 2001,
ISBN 3-428-10406-4
(=
Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte.
Beiheft Nr. 5).
- Benjamin Hasselhorn
:
Politische Theologie Wilhelms II.
(=
Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte
Band 44) Duncker & Humblot, Berlin 2012,
ISBN 978-3-428-13865-4
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Rezeption
- Martin Kohlrausch
(Hrsg.):
Samt und Stahl. Kaiser Wilhelm II. im Urteil seiner Zeitgenossen. Mit Fotografien aus dem Archiv des Hauses Hohenzollern.
Landtverlag, Berlin 2006,
ISBN 3-938844-05-1
. (Mit Beitragen von Otto von Bismarck, Hans Bluher, Rudolf Borchardt, Paul Busching, Winston Churchill, Egon Friedell, Walter Goetz, Georg Hinzpeter, Ernst Horneffer, Karl Lamprecht, Friedrich Naumann, Walther Rathenau, Jean-Paul Sartre, Reinhold Schneider, Percy Ernst Schramm, August Stein, Ludwig Thoma und Theodor Wolff.)
- Wolfgang J. Mommsen
:
War der Kaiser an allem schuld? Wilhelm II. und die preußisch-deutschen Machteliten.
Propylaen, Berlin 2002,
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Filme
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The Kaiser, the Beast of Berlin
, Spielfilm, USA 1918, mit Rupert Julian als Wilhelm II.
- George Irving
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To Hell with the Kaiser!
Spielfilm, USA 1918, mit
Lawrence Grant
als Wilhelm II.
- F. Richard Jones:
Yankee Doodle in Berlin.
Spielfilm, USA 1919, mit
Ford Sterling
als Wilhelm II.
- Wolfgang Liebeneiner
:
Die Entlassung
, Spielfilm 1942, mit
Werner Hinz
als Wilhelm II.
- Arthur Pohl
:
Die Unbesiegbaren
, Spielfilm, DDR 1950, mit
Hanns Groth
als Wilhelm II.
- Ernst Marischka
:
Die Deutschmeister
, Spielfilm, Osterreich 1955, mit
Wolfgang Lukschy
als Wilhelm II.
- Jacques Becker
:
Arsene Lupin, der Millionendieb
, Spielfilm, Frankreich 1957, mit
O. E. Hasse
als Wilhelm II.
- Ludwig Cremer (Regie):
Die Flucht nach Holland
, Fernsehspiel (
ZDF
), 1967
- Fritz Umgelter
(Regie):
Die Affare Eulenburg.
Fernsehspiel (ZDF), 1967
- Richard Attenborough
:
Oh! What a Lovely War
, Musicalfilm, Großbritannien 1969, mit
Kenneth More
als Wilhelm II.
- Tony Maylam
:
Bei Nacht und Nebel
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Spielfilm, Großbritannien 1979, mit
Wolf Kahler
als Wilhelm II.
- Rainer Simon
:
Das Luftschiff
, Spielfilm, DDR 1983, mit
Reinhard Straube
als Wilhelm II.
- Rainer Boldt
:
Das Ratsel der Sandbank
, Fernsehserie
Radio Bremen
1985, mit
Wigand Witting
als Wilhelm II.
- Carlo Roha (Regie):
Krupp ? Eine deutsche Familie
.
Historienfilm, 1. Teil (ZDF), 2009, mit
Michael Schenk
als Wilhelm II.
- Bernd Fischerauer
:
Europas letzter Sommer
, Fernsehfilm (ARD) 2012, mit
Hubertus Hartmann
als Wilhelm II.
- Florian Huber
:
1913 ? Der letzte Tanz des Kaisers
, Dokudrama, Deutschland 2014, 52 Min., mit
Hendrik Massute
als Wilhelm II.
- David Leveaux
(Regie):
The Exception,
2016, mit
Christopher Plummer
als Kaiser Wilhelm II. im hollandischen Exil
- Sonke Wortmann
(Regie):
Charite
, Fernsehserie, 2017, mit
Lucas Prisor
als Wilhelm II.
- Christoph Rohl
(Regie):
Kaisersturz
, Dokudrama, Deutschland 2018, mit
Sylvester Groth
als Wilhelm II.
- Matthew Vaughn
:
The King’s Man: The Beginning
, Actionfilm, Vereinigtes Konigreich 2021, mit
Tom Hollander
als
Georg V.
,
Nikolaus II.
und Wilhelm II.
- Sturz der Adler
(1974), mit
Barry Foster
als Wilhelm II.
Dokumentationen
- Peter Schamoni
:
Majestat brauchen Sonne
, Dokumentation, 1999, 105 Min. ? Uberwiegend Originalmaterial. Lange Sequenzen, unterlegt unter anderem mit Zitaten aus Wilhelms Erinnerungsbuchern, aber auch der beruhmten Ansprache vom August 1914 im O-Ton.
- Michael Kloft:
Der Kaiser und der Weltkrieg ? Wilhelm II. und das Ende eines Imperiums.
Dokumentation. Eine Produktion von Spiegel TV, 2004.
- Guido Knopp
, Jorg Mullner, Michael Kloft, Annette von der Heyde:
Seine Majestat Wilhelm II.
Dokumentation. Eine Produktion von Spiegel TV, 2006,
ISBN 3-8312-9261-2
.
- Christoph Weinert:
Wilhelm II. Die letzten Tage des deutschen Kaiserreichs.
Dokumentation, 2007, 45 Min. ? Neben Aufnahmen aus dem deutschen Hauptquartier in Spa zeigt der Film auch seltene historische Farbaufnahmen von Wilhelm II. im Berlin des Jahres 1913.
- Guido Knopp
:
Wilhelm und die Welt.
Teil 10 der 1. Staffel der ZDF-Doku-Reihe
Die Deutschen
, 2008, 45 Min.
Artikel zum Film
Horspiel
Weblinks
Einzelnachweise
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9. Auflage, rororo, Reinbek bei Hamburg 2007,
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Florian Bruns, Axel Karenberg:
Vom Neurastheniker zum Bipolaren: Kaiser Wilhelm II. im Spiegel psychiatrischer Diagnosen des 19. und 20. Jahrhunderts
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Fortschritte der Neurologie Psychiatrie
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Er ist durch und durch falsch.
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Vgl. dazu auch B. Marschall:
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WDR:
Horspiel
Wilhelm ? Schicksalsjahre eines Kaisers
von Philip Stegers.
17. Januar 2023,
abgerufen am 11. Februar 2023
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