Giovanni Sartori
(*
13. Mai
1924
in
Florenz
; †
1. April
2017
) war ein
italienischer
Politikwissenschaftler
und
Philosoph
.
Sein Buch
Homo videns
uber die Beziehungen zwischen den Medien und der aktuellen Gesellschaft erreichte eine Auflage von uber 100.000, seine Schrift
Democrazia e definizioni
(1957) und sein politikwissenschaftliches Hauptwerk
Parties and Party Systems
von 1976 pragen die Parteien- und Demokratieforschung bis in die Gegenwart.
Sartori promovierte 1946 in Staats- und
Sozialwissenschaften
an der
Universitat Florenz
. Als Dozent der modernen
Philosophie
,
Logik
und
Staatslehre
leitete er die Grundung der nach
Cesare Alfieri
benannten ersten Fakultat fur Politikwissenschaft in Italien ein.
1954 habilitierte er sich fur das Fach ?Geschichte der modernen Philosophie“, 1955 fur Staatswissenschaften. Von 1950 bis 1956 war er Professor fur moderne Philosophie an der Universitat Florenz, anschließend bis 1963 Professor fur Politikwissenschaft und von 1966 bis 1976 Professor fur Soziologie ebenda.
1976 ging Sartori an die
Stanford University
in
Kalifornien
als Professor der Politikwissenschaft und
Senior Fellow
der
Hoover Institution
. Ab 1979 war er bis zu seiner
Emeritierung
1994
Albert Schweitzer Professor in the Humanities
an der
Columbia University
in
New York
. Daneben war Sartori unter anderem an der
Harvard University
und der
Yale University
als Dozent tatig. 1993 kehrte er nach Florenz zuruck und lehrte bis 1996 außerdem als Professor der Politikwissenschaft an der Universitat Florenz.
1971 grundete er die
Rivista Italiana di Scienza Politica
(italienische Zeitschrift der Politikwissenschaft), deren Herausgeber er bis 2004 war. 1973 war er Mitbegrunder der
Societa italiana di scienza politica
(SISP) und deren erster Prasident (bis 1975).
Sartori war Mitglied der
American Academy of Arts and Sciences
und der
Accademia dei Lincei
und schrieb fur die italienische Tageszeitung
Corriere della Sera
. Er war
Ehrendoktor
der
Universitat Genua
, der
Georgetown University
, der
Universitat Guadalajara
und der
Universitat Buenos Aires
. Seit 1988 war er Vizeprasident der Gesellschaft
Societa Libera
, die sich dem Studium und der Forderung der liberalen Ideale der Gesellschaft widmet.
Seine enge Verbundenheit mit seiner Heimatstadt Florenz druckt sich auch in der Bestattung in einer Kapelle der Florentiner Basilika
San Miniato al Monte
aus, welche die Inschrift tragen soll: ≪Giovanni Sartori per se e pei suoi≫ (?Giovanni Sartori fur sich und die Seinen“)
[1]
.
Mit der 1976 erschienenen Schrift
Parties and Party Systems
hat Sartori einen wichtigen Beitrag zur
Demokratietheorie
geleistet. In deren Zentrum steht die Kompetitivitat von Parteiensystemen, fur welche er eine in den Politikwissenschaften bis heute weit verbreitete Typologie entwickelte. Diese Typologie unterscheidet in einer ersten Stufe kompetitive von nicht-kompetitiven Parteiensystemen. Die kompetitiven Parteiensysteme lassen sich weiter unterteilen in Systeme des polarisierten Pluralismus und des moderaten Pluralismus, in ein pradominantes Parteiensystem und ein Zweiparteiensystem. Die nicht-kompetitiven Systeme umfassen Einparteiensysteme und hegemoniale Parteiensysteme.
Der polarisierte Pluralismus zeichnet sich dadurch aus, dass eine großere Zahl von Parteien besteht, die kaum miteinander zusammenarbeiten, wobei mindestens eine Partei das politische System prinzipiell ablehnt und die Oppositionspartei keine Verantwortung ubernimmt. Dies fuhrt zu Dreiecksbeziehungen: Zwei oder mehr Parteien mussen zusammenarbeiten, um die Regierung zu stutzen und zugleich Angriffe auf den Staat abzuwehren.
Aus der Tatsache, dass keine wechselnden Koalitionen moglich sind, folgt eine Erstarrung des Systems: Die Parteien konnen sich nicht mehr bewegen. Diese Parteien besitzen meist eine starke Bindung an eine fest umschriebene Weltanschauung, was die Polarisierung verstarkt.
Die moderate Auspragung des pluralistischen Parteiensystems ist durch wechselnde Koalitionen gepragt, durch geringere Ideologisierung, das Fehlen einer Fundamentalopposition und einer Konzentration des Wettstreits der Parteien auf die Regierungsubernahme.
Im
Epilog
seines 1987 erschienenen Standardwerks zur
Demokratietheorie
The Theory of Democracy Revisited
[2]
resumierte Sartori, die liberale Demokratie konne sicher nicht selbstverstandlich genommen werden, und zitierte
Edmund Burke
, Sklaverei konne man immer haben: ?Es ist ein Unkraut, das auf jedem Boden wachst.“ Freiheit konne man andererseits immer verlieren: ?Sie ist eine Pflanze, die Pflege braucht.“
Ob die liberale Demokratie, der er anhange, ?wo immer sie ist“, zum Untergang verurteilt sei, brauche er nicht zu wissen. Vielmehr halte er es mit
Corneilles
Helden: ?Tut eure Pflicht und lasst die Gotter walten.“
[3]
Sartoris Werk
Homo Videns: Televisione e Post-Pensiero
von 1997 ist ein
popularwissenschaftlicher
Essay
, den man der
Medienkritik
und der
Medienphilosophie
zuordnen kann.
Sartori geht aus von dem
kulturphilosophischen
Hauptwerk
Philosophie der symbolischen Formen
des
Neukantianers
Ernst Cassirer
, in dem der
Mensch
anthropologisch
zugleich als
Homo sapiens
wie als ?
animal symbolicum
“ bestimmt wird.
Sartori charakterisiert demgemaß die Wirkung der
Massenmedien
als Ersetzung des abstrakten, analytischen, logischen, systematischen und zugleich wirklichkeitsbezogenen Denkens durch die
visuelle Wahrnehmung
manipulierter oder virtueller Bilder.
In Anlehnung an
Leibniz
und
Vico
, vor allem aber aufgrund der Unterscheidung
Immanuel Kants
zwischen
mundus intelligibilis
und
mundus sensibilis
in der
Kritik der reinen Vernunft
vertritt Sartori seine Hauptthese, dass die Entwicklung des Menschen durch den Einfluss des Fernsehens umgekehrt wurde, der
homo videns
habe den
Homo sapiens
ersetzt, es finde eine
Regression
zur vorkulturellen Fruhzeit der Menschheit statt.
Sartoris Theorie schließt sich in vieler Hinsicht an die Arbeiten
Allan Blooms
,
Jurgen Habermas
’ und
Neil Postmans
an. Sein Hauptgegner ist der nach
Nicholas Negroponte
benannte ?Negropontismus“, der in den neuen Medien nur die Instrumente einer uberlegenen, demokratischen und fortschrittlichen Zivilisation sieht. Weiterhin steht Sartori in Gegnerschaft zu allen Richtungen der
Postmoderne
und des
Dekonstruktivismus
, die
Rationalitat
und
Ich-Identitat
als Ausdruck von Zwang bekampfen.
Das Hauptargument Sartoris ist die Unterscheidung zwischen
Sehen
und
Verstehen
bzw.
Erkennen
oder
Begreifen
und die Bestimmung ihres Verhaltnisses. Wahrend die
Sinne
uns passiv bildliche
Vorstellungen
vermitteln, die fur sich ohne Struktur und
Sinn
sind, bringt der
Verstand
durch
Begriffsbildung
erst Sinnzusammenhange hervor. Daruber hinaus ist das
Denken
auch fahig, sich ganz von
Erfahrungen
zu losen. Die Sprache ist das Medium dieses
diskursiven
,
analytischen Denkprozesses
, der zugleich
Reflexion
ist.
Wirklichkeits
- und
Selbsterfahrung
finden nicht auf dem Wege von
Sinnesreizen
statt, sondern sind Ergebnis einer aktiven semantischen, logischen und systematischen Organisation der Inhalte des
Bewusstseins
.
Der
homo videns
dagegen verliert in den
digitalen
,
virtuellen
und manipulierten Bildwelten jeden Kontakt zur
Wirklichkeit
und zu sich selbst. Das zirkulare Herumirren in
Hypertexten
und das spielerische Sichverlieren in virtuellen Scheinwelten fuhrt zum Verlust der Selbststeuerung, zur chaotischen Desorientierung, zur Aufspaltung des neurotischen Ichs in multiple Personlichkeiten.
Im Anschluss an Leibniz, der Denken und freie
Entscheidung
in ihrem inneren Zusammenhang dargestellt hat, kommt Sartori zu dem Ergebnis, dass der moderne
homo ludens
zugleich unfrei, fremdgesteuert und politisch inkompetent ist, was den Bestand der reprasentativen
Demokratie
in Frage stellt oder durch falschverstandene
Partizipation
Demokratie zerstort und durch
Mediokratie
ersetzt.
Sartori veroffentlichte im Marz 2009 ein Buch mit dem Titel
Il sultanato
(deutsch:
Das
Sultanat
). Damit analysierte er das Italien, das
Silvio Berlusconi
mit seiner Medienmacht als Eigentumer des Konzerns
Mediaset
gepragt hatte (→
Berlusconismus
).
[4]
Sartori pragte die Begriffe
Porcellum
und
Mattarellum
fur
Wahlrechtsreformen der Zweiten Republik
.
- Democrazia e Definizioni
. Bologna 1957.
- Parties and Party Systems: A Framework for Analysis
. New York 1976.
- La politica. Logica e metodo in scienze sociali
, Mailand 1979.
- als Herausgeber:
Social Science Concepts: A Systematic Analysis
. London 1984.
- Demokratietheorie.
Darmstadt 1997 (englischsprachige Originalausgabe:
The Theory of Democracy Revisited
. New York 1987).
- Comparative Constitutional Engineering
. New York 1994.
- Homo Videns: televisione e post-pensiero
. Rom und Bari 1997.
- Pluralismo, multiculturalismo e estranei. Saggio sulla societa multietnica
. Mailand 2000.
- Concepts and Method in Social Science. The Tradition of Giovanni Sartori
. Herausgegeben von David Collier und John Gerring, New York und London 2009.
- Il sultanato
. Rom und Bari 2009.
- Il paese degli struzzi. Clima, ambiente, sovrappopolazione
. Mailand 2011.
- ↑
http://corrierefiorentino.corriere.it/firenze/notizie/editoriali_e_opinioni/17_aprile_05/scienziato-quasi-profeta-de1cf7ae-19d4-11e7-b3fa-21a56a023b72.shtml
- ↑
The Theory of Democracy Revisited
. New York 1987. (
Rezension
)
- ↑
Demokratietheorie.
1997, S. 488.
- ↑
Giovanni Sartori:
Il sultanato
, Verlag Laterza,
ISBN 978-88-420-8914-8