Fritz Thyssen
(*
9. November
1873
in
Styrum
; †
8. Februar
1951
in Martinez bei
Buenos Aires
) war ein deutscher
Großindustrieller
aus der Unternehmerfamilie
Thyssen
. Er gehorte zunachst zu den Forderern, spater zu den entschiedenen Gegnern der
Nationalsozialisten
.
Fritz Thyssen wurde als altester Sohn des Industriellen
August Thyssen
und seiner Ehefrau Hedwig Pelzer in
Mulheim an der Ruhr
geboren. Seine Eltern trennten sich 1885, als Thyssen zwolf Jahre alt war. Er besuchte zunachst das stadtische Gymnasium (Oberrealschule) in Mulheim, bevor er auf eine katholische Schule in
Dusseldorf
wechselte.
[1]
Seit 1885 Teilerbe des Konzerns, ubernahm er nach einer einjahrigen Praktikantenzeit im vaterlichen Unternehmen und dreijahrigem Studium in
London
,
Luttich
und
Berlin
ab 1897 verschiedene Positionen im Konzern seines Vaters, unter anderem im
Bergwerk
svorstand der Zeche
Gewerkschaft Deutscher Kaiser
(1897), im
Aufsichtsrat
der
Saar- und Mosel-Bergwerks-Gesellschaft
(1900) und der
Gelsenkirchener Bergwerks-AG
(1907), wobei er unternehmerisch bis zum Tod seines Vaters (1926) immer in dessen Schatten stand.
Fritz Thyssen war seit 1900 mit
Amelie zur Helle
(1877?1965) verheiratet. Aus der Ehe ging 1909 Tochter
Anita
hervor.
1923 wurde er schlagartig der deutschen Offentlichkeit bekannt, weil er sich als Wortfuhrer der deutschen
Zechenbesitzer
am
Ruhrkampf
gegen die Befehle der
franzosisch-belgischen Besatzungsmacht
durch passiven Widerstand beteiligte. Er wurde verhaftet, vor ein
Militargericht
in
Mainz
gestellt und zusammen mit anderen beteiligten Ruhrindustriellen verurteilt. Bei seiner Ruckkehr nach
Duisburg
wurde er von der Offentlichkeit triumphal gefeiert. Funf Jahre spater erhielt er deshalb von der juristischen Fakultat der
Universitat Freiburg
die Ehrendoktorwurde.
[2]
Gegen die franzosische
Ruhrbesetzung
wollten Thyssen und der Industrielle Willy Scheidt unter Kommando von Generalleutnant
Oskar von Watter
ein Privatheer aufstellen und mit wertbestandigen, von der
Inflation
unabhangigen 20 Millionen Mark finanzieren. Den franzosischen Besatzungstruppen sollte eine
Sizilianische Vesper
bereitet werden. Der Chef der Reichswehr
Hans von Seeckt
weigerte sich aber mit Watter zusammenarbeiten; Watter bekam nur 14.000 Mann zusammen und Thyssen stellte fest, dass die Industrie zuruckhaltender war als er angenommen hatte.
[3]
Nach dem Tod seines Vaters 1926 brachte er wesentliche Teile des Konzerns in die
Vereinigte Stahlwerke AG
und ubernahm dort den Vorsitz des Aufsichtsrats. Diese Funktion ubte er bis zu seiner Flucht im September 1939 aus.
[4]
1926 grundete er zusammen mit
Emil Mayrisch
die
Internationale Rohstahlgemeinschaft
.
Obwohl er noch der monarchistischen
DNVP
angehorte, unterstutzte er schon 1930 offentlich
Adolf Hitler
und die NSDAP ? bereits seit 1923 hatte er die NSDAP mit umfangreichen Spenden gefordert. Laut dem Tagebuch des amerikanischen Botschafters in Deutschland
William Dodd
außerte Thyssen im Februar 1936, er habe einen betrachtlichen Teil seines Vermogens fur Hitler geopfert.
[5]
In Thyssens Entnazifizierungsprozess wurde bekannt, dass er von 1923 bis 1932 fur alle rechten Parteien insgesamt 650.000 Reichsmark gespendet hatte.
[6]
Thyssen hoffte in jener Zeit auf die Wiedererrichtung des alten
Standesystems
und versprach sich von den Nationalsozialisten eine Zuruckdrangung der kommunistischen Krafte. Im Oktober 1931 beteiligte er sich an der Bildung der ?
Harzburger Front
“ gegen die
Weimarer Republik
und wurde Mitglied in der antidemokratischen
Gesellschaft zum Studium des Faschismus
. Am 26. Januar 1932 konnte Adolf Hitler durch die Mitwirkung Thyssens vor dem
Industrie-Club Dusseldorf
eine
Rede
halten und dort fur seine Ziele werben. Er gehorte zu der Gruppe von Industriellen, Bankiers und Landwirten, die im November 1932 die sogenannte
Industrielleneingabe
an den Reichsprasidenten
Paul von Hindenburg
richteten, in der gefordert wurde, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen.
Am
1. Mai 1933
trat Thyssen in die
NSDAP
ein (
Mitgliedsnummer
2.917.299). Im Juli 1933 wurde er zum Mitglied des von
Hermann Goring
kurz zuvor ?umgestalteten“
Preußischen Staatsrates
?auf Lebenszeit“ ernannt, im November fur die NSDAP Mitglied des
Reichstages
. Wenig spater erkannten die NS-
Gauleiter
von Essen, Dusseldorf, Westfalen-Nord und Westfalen-Sud Thyssen dank seiner Mitgliedschaft im Staatsrat und Reichstag freiwillig als oberste staatliche Autoritat in wirtschaftspolitischen Fragen an.
[7]
Thyssen wurde Mitglied der Akademie fur Deutsches Recht, erhielt Sitz und Stimme im
Generalrat der Wirtschaft
und im Sachverstandigenrat fur Bevolkerungs- und Rassenpolitik beim Reichsinnenministerium. Auch in der
Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft
, dem Vorlaufer der Max-Planck-Gesellschaft, war Thyssen Senator.
[8]
Im Mai 1933 war Thyssen maßgeblich an der Grundung des
Instituts fur Standewesen
in
Dusseldorf
beteiligt, zur Grundung hatte er von Hitler die Zustimmung eingeholt.
[9]
Vom Institut sollte die Standestaat-Ideologie
Othmar Spanns
verbreitet und weiter entwickelt werden. Obwohl dem Institut in ihrer Mehrheit NSDAP-Mitglieder angehorten, sahen manche in der Teilnahme an den Wochenendkursen und Vorlesungen eine Ausweichmoglichkeit vor der Vollmitgliedschaft in der Partei. Doch ab August 1933 grundete
Robert Ley
zwei konkurrierende Schulen fur Wirtschaft und Arbeit fur seine
Deutsche Arbeitsfront
, die sich mit ?grundlegenden Ausfuhrungen zum standischen Aufbau“ beschaftigten und Thyssens Institut bekampften. Als die Anfeindungen zunahmen, schrieb Thyssen im Juni 1934 an Hitler, wobei er sich uber die Verdachtigungen und Unterstellungen aus Parteikreisen, er sei ?doktrinar, besserwisserisch, staatsfeindlich, politisch-katholisch und nicht nationalsozialistisch“ beklagte. Statt einer Antwort wurde der Besuch der Kurse verboten, Mitarbeiter des Instituts in Gefangnisse und Konzentrationslager gebracht. Weitere Meinungsverschiedenheiten zwischen Thyssen und Hitler entstanden, als sich Thyssen fur die Freilassung des ins Konzentrationslager verschleppten ehemaligen preußischen Wohlfahrtsministers
Heinrich Hirtsiefer
und den abgesetzten Dusseldorfer Oberburgermeister
Robert Lehr
vergeblich bei Goring einsetzte.
[10]
Als Reaktion auf die Absetzung des Dusseldorfer
Regierungsprasidenten
Carl Christian Friedrich Schmid
, der wegen der judischen Herkunft seiner Ehefrau verjagt worden war, legte Thyssen in einem Schreiben an Goring seine Mitgliedschaft im Preußischen Staatsrat unter Protest nieder.
[11]
Am 31. August 1939 erhielt Thyssen die Aufforderung zur Teilnahme an einer Reichstagssitzung in
Berlin
. Thyssen telegraphierte am gleichen Tag vom Postamt
Bad Gastein
an Goring:
?Ich kann dieser Aufforderung wegen unbefriedigenden Gesundheitszustands nicht Folge leisten. Nach meiner Meinung sollte ein Art Waffenstillstand moglich sein, um Zeit zum Verhandeln zu gewinnen. Ich bin gegen den Krieg. Durch einen Krieg wird Deutschland auch in Abhangigkeit von Russland auf dem Gebiet der Rohstoffe gelangen und dadurch seine Stellung als Weltmacht verlieren.“
Am 2. September 1939
emigrierte
er mit Ehefrau, Tochter und Schwiegersohn zuerst in die
Schweiz
. Von dort richtete er am 20. September 1939 einen Brief an Goring, in dem er verlangt, ?dass die deutsche Offentlichkeit daruber aufgeklart wird, dass ich als
Reichstagsabgeordneter
gegen den Krieg gestimmt habe. Sollten noch andere Abgeordnete ebenso gestimmt haben, so soll ihr Votum auch bekannt gegeben werden.“
[11]
Diese Aufforderung beantwortete das NS-Regime durch Enteignung seines gesamten Besitzes in
Deutschland
, darunter neben seinem Industrievermogen das 1937 fur seine Tochter Anita erworbene
Schloss Puchhof
bei Straubing in Niederbayern, und spater mit
Ausburgerung
.
Im Dezember 1939 wandte sich Thyssen direkt an Hitler. Unter anderem schrieb er:
?Ihre neue Politik, Herr Hitler, stoßt Deutschland in den Abgrund und das deutsche Volk in den Zusammenbruch. Drehen Sie die Maschine um, solange es noch Zeit ist. […] Geben Sie dem Reich ein freies Parlament, geben Sie dem Deutschen Volk Freiheit des Gewissens, des Denkens und der Rede. Stellen Sie die notwendigen Garantien fur die Wiederherstellung von Gesetz und Ordnung sicher.“
[12]
Thyssen wollte seiner Tochter und seinem Schwiegersohn nach
Argentinien
folgen, hatte sich bereits
freies Geleit
durch
Italien
zusichern lassen, als er nach einem Besuch bei seiner sterbenden Mutter in
Brussel
und nach einem Zusammenbruch seiner Ehefrau zur Erholung nach
Cannes
in
Sudfrankreich
reiste.
In Sudfrankreich verfasste er 1940 in Zusammenarbeit mit dem Journalisten
Emery Reves
das Buch
I Paid Hitler
(deutsch: ?Ich habe Hitler finanziert“), eine Abrechnung mit Hitler und seiner eigenen Rolle bei Hitlers Aufstieg. Noch vor Abschluss des Buches kam es zur
Kapitulation Frankreichs
und der anschließenden
deutschen Besetzung
. Emery Reves veroffentlichte das Buch im November 1941 in London, ohne Thyssens Freigabe. Nach dem Krieg distanzierte sich Thyssen von dem Werk, das nun gegen ihn verwendet wurde. Er setzte durch, dass niemals eine deutsche Ausgabe erschien. Reves schrieb in seinem Vorwort 1941: ?Gegen Ende Mai [1940] hatten wir die Arbeit fast beendet. Uber die Halfte des Buches war fertiggestellt, uberarbeitet und von Thyssen fur die Veroffentlichung freigegeben worden.“
[13]
Reves erklarte, dass er die unfertigen Passagen nicht geglattet oder korrigiert habe.
Entgegen der ausdrucklichen Zusicherung Marschall
Philippe Petains
, Thyssen nicht an Deutschland auszuliefern, wurde er Ende 1940 auf Druck der
Gestapo
verhaftet und doch nach Deutschland ausgeliefert.
[14]
Es folgten uber vier Jahre Gefangenschaft des Ehepaars. Nach zweieinhalb Jahren in einer
psychiatrischen Abteilung
eines
Sanatoriums
in
Neubabelsberg
bei
Potsdam
kamen sie als ?Sonderhaftlinge“ (unter als ?Ehrenhaft“ bezeichneten Bedingungen
[15]
) im Mai 1943 ins
KZ Sachsenhausen
, am 11. Februar 1945 ins
KZ Buchenwald
, am 3. April ins
Gefangnis Regensburg
und schließlich ins
KZ Dachau
. Amelie und Fritz Thyssen wurden als Mitglieder des Geiseltransports von prominenten
KZ-Haftlingen
und
Sippenhaftlingen
nach Sudtirol verschleppt und dort durch den Wehrmachtsoffizier
Wichard von Alvensleben
kurz vor Kriegsende aus den Handen der
SS-Wachmannschaft
befreit (siehe
Befreiung der SS-Geiseln in Sudtirol
).
[16]
Nach Kriegsende wurde Thyssen von den Alliierten interniert und 1948 wieder freigelassen. Eine
Spruchkammer
im
Entnazifizierungsverfahren
stufte ihn 1948 als
minderbelastet
ein.
[17]
Viele Punkte der Anklage wertete die Spruchkammer als nicht stichhaltig, insbesondere der pauschale Vorwurf, Thyssen habe Hitler finanziert und auf die Zerschlagung der Gewerkschaften hingearbeitet.
[18]
Im Dezember 1949 zog Thyssen nach
Buenos Aires
(
Argentinien
) zu seiner Tochter Anita, die seit 1936 mit dem ungarischen Grafen
Gabor Zichy
(1910?1972) verheiratet war. Am 8. Februar 1951 starb er dort an einem
Herzinfarkt
. Sein Leichnam wurde anschließend uberfuhrt und auf
Schloss Landsberg
beigesetzt.
Am 7. Juli 1959 errichteten
Amelie Thyssen
und ihre Tochter
Anita Grafin Zichy-Thyssen
die
Fritz Thyssen Stiftung
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Jungste Neuauflage: Kennikat Press,
Port Washington, NY
u. a. 1972,
ISBN 0-8046-1553-5
. Ubersetzt von Cesar Saerchinger und herausgegeben vom amerikanischen Journalisten Emery Reves, bestritt Thyssen stets die Authentizitat des Buches, das nach autobiografischen Diktaten Thyssens in Frankreich entstanden ist.