Benjamin R. Barber
(*
2. August
1939
in
New York City
,
New York
; †
24. April
2017
ebenda
[1]
) war Professor fur
Zivilgesellschaft
an der
University of Maryland
und einer der einflussreichsten
Politikwissenschaftler
der
Vereinigten Staaten
.
Barber wuchs in New York auf. Im Alter von 18 Jahren ging er zum Studium an das Albert Schweitzer College in Graubunden. 1958 setzte er sein Studium an der
London School of Economics and Political Science
fort. Nach seinem Diplom 1963 folgte 1966 die Promotion im Fach ?Government“ an der
Harvard University
. Fur George Quinceys Oper
Home and the River
verfasste er das Libretto. Er war mit der Choreographin Leah Kreutzer verheiratet. 2001 wurde er Professor fur Zivilrecht an der Universitat von Maryland.
[2]
Barber war innenpolitischer Berater der
Clinton
-Regierung und beriet zahlreiche andere Korperschaften und Politiker (u. a.
Howard Dean
und
Roman Herzog
). Er stand der
sozialphilosophischen
Stromung des
Kommunitarismus
nahe. In seinem Hauptwerk
Strong Democracy
(Starke Demokratie)
von 1984, das zugleich als ein zentrales Werk des Kommunitarismus gilt, kritisierte er die
reprasentative Demokratie
(u. a. in den USA) und stellte eine
radikal-demokratische
Alternative in Form der
partizipatorischen Demokratie
dagegen. Dabei griff er
Jean-Jacques Rousseaus
Vorstellung wieder auf,
Reprasentation sei Gift fur die Demokratie
.
Von Barber stammt auch der einflussreiche Buchtitel
Jihad versus McWorld
(?
Dschihad
gegen McWorld“, deutscher Verlagstitel
Coca-Cola und Heiliger Krieg
). Darin beschreibt er die Bedrohung der Zivilgesellschaft durch zwei gegenlaufige Phanomene: radikal-
partikularistische
Ideologien wie den religiosen Fundamentalismus einerseits und andererseits einen uneingeschrankten Kapitalismus, der Burger in bloße Konsumenten verwandele und so ebenfalls
infantilisiere
.
Barber war außerdem Mitvorsitzender der Initiative
Democracy Collaborative
, die versucht, Ressourcen des
Bildungssystems
zur Starkung der
Zivilgesellschaft
zu mobilisieren. Daruber hinaus unterstutzte er verschiedene weitere Initiativen.
Barbers Buch
Starke Demokratie
(1984, deutsch 1994) ist in den USA sehr verbreitet. Mit diesem Werk formuliert er eine
partizipatorische Demokratietheorie
in Form einer normativen
Demokratietheorie
: Nicht die objektive gesellschaftliche oder politische Analyse ist Grundlage fur die Theorie, sondern es wird nach Analyse des
Demokratiedefizits
ein erstrebenswerter Zustand beschrieben.
Demokratische Erziehung
soll die
Burgerschaft
wiederbeleben und so die unmittelbare Selbstregierung der Burger ermoglichen. Barber ist skeptisch gegenuber einer ausschließlich
reprasentativen Demokratie
, in der die Reprasentation von Interessen nur noch von Berufspolitikern wahrgenommen wird: ?Starke Demokratie ist die Politik von Amateuren“, so Barber. Er folgt damit der Linie anderer republikanischer Theoretiker wie
Thomas Jefferson
,
Alexis de Tocqueville
,
Walt Whitman
,
John Dewey
und
Hannah Arendt
und will eine Aussohnung des demokratischen
Republikanismus
mit der modernen Gesellschaft erreichen.
Als Kennzeichen der ?Starken Demokratie“ bezeichnet Barber
- eine ?Form von Gemeinschaft, die nicht
kollektivistisch
“ ist,
- eine ?Form des offentlichen Argumentierens, die nicht
konformistisch
“ ist,
- das Vorhandensein ?burgerlicher Institutionen, die mit einer modernen Gesellschaft vereinbar sind“ (S. 146).
Das Buch gliedert sich in drei Teile:
- Analyse der Lage der Demokratie (Krisendiagnose): Der
Liberalismus
fuhre dazu, dass aus dem Recht auf Privatheit
Egoismus
werde,
Toleranz
zu
Apathie
verfalle und aus
Rechten
Indifferenz
werde. Damit geht die Vorstellung einher, dass
Institutionen
die Motivation der Burger zur
Beteiligung
degenerieren lassen.
- Aufbau einer anderen Sichtweise (alternative Begrifflichkeit): Barber formuliert zunachst seinen Politikbegriff: ?
Politik
beginnt dort, wo Entscheidungszwang besteht, obwohl keine allgemein anerkannte Wahrheit mehr zu erkennen ist“. Politische Konflikte sollen offentlich und unter Beteiligung der Burger in Form eines ?anhaltenden Gesprachs“ und durch gegenseitiges Verstandnis und Anerkennung ausgetragen werden.
- Veranderungsvorschlage auf praktischer Grundlage (demokratische Reformagenda): Barbers Agenda will politische Institutionen so verandern, dass Beteiligung der Burger und politische Entscheidungsfindung erleichtert wird. Gleichzeitig mochte er eine unrealistische Uberbeanspruchung der Burger vermeiden.
Konkret fordert Barber eine neue ?Architektur des offentlichen Raums“. Demokratische Partizipation soll unter anderem durch landesweite ?Nachbarschaftsversammlungen“ (je aus ca. 1000 bis 5000 Burger) mit legislativen Kompetenzen auf kommunaler Ebene gestarkt werden.
[3]
?Jihad versus McWorld“ ? Coca-Cola und Heiliger Krieg
[
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]
Dieses Buch bzw. dessen Titel machten Barber auch außerhalb politikwissenschaftlicher Kreise bekannt. Die zentrale These lautet, dass die Zivilgesellschaft von zwei Seiten bedroht wird, die Exklusion statt Inklusion und Anarchie statt demokratisch legitimierter Entscheidungsfindung fordern. Als plakative Etiketten beider Phanomene dienen einerseits
Dschihad
(damit meint er radikale christliche oder islamische Stromungen oder regionale Unabhangigkeitsbewegungen wie im Baskenland oder Katalonien); andererseits ein intellektuell entleerter und sozial verantwortungsloser
Kapitalismus
, fur den Barber das Schlagwort ?McWorld“ verwendet ? in Anspielung auf das Prafix ?Mc“ vieler
McDonald’s
-Produkte.
Wichtig ist, dass der Begriff ?Dschihad“ bei Barber
nicht
eine besondere Bedrohung der westlichen Kultur durch den islamischen Kulturkreis suggeriert. Vielmehr dient der Begriff als Metapher fur extreme partikularistische, ja
tribalistische
Tendenzen als Gegenstromungen zur Globalisierung, die auch in westlichen Gesellschaften vorhanden sind bzw. von diesen unterstutzt werden ? so spricht Barber ausdrucklich auch von einem ?Dschihad“ der amerikanischen Rechten oder warnt vor der auch von westlichen Nationen betriebenen Zerstuckelung von Staaten, die dazu fuhre, dass ?beinahe jeder Stadtteil als Nation und fast jeder Wohnblock als potenzielle souverane Einheit behandelt werden muss“.
[4]
Dschihad und McWorld sind dialektisch aufeinander bezogen: Obwohl sie sich bekampfen, bringen sie sich gegenseitig hervor und bedingen gegenseitig ihre Intensitat.
?Beide fuhren Krieg gegen den souveranen Nationalstaat und untergraben dessen demokratische Institutionen. Beide verabscheuen die Zivilgesellschaft und verachten demokratische Burgerschaft, keiner von beiden sucht nach alternativen demokratischen Institutionen. Ihr gemeinsames Merkmal ist die Gleichgultigkeit gegenuber burgerlicher Freiheit. Der
Dschihad
formt Gemeinschaften ?aus Blut‘, die auf Exklusion und Hass basieren; Gemeinschaften, die Demokratie zugunsten eines tyrannischen Paternalismus oder einvernehmlichen Tribalismus in den Wind schlagen. Die
McWorld
formt globale Markte, die auf Konsum und Profit basieren und die Themen des offentlichen Interesses und des
Gemeinwohls
, die fruher vielleicht von demokratischen Burgerschaften und deren wachsamen Regierungen gefordert wurden, einer nicht vertrauenswurdigen, vielleicht sogar vollig fiktiven, unsichtbaren Hand uberlassen. […]
Der
Dschihad
verfolgt eine blutige Identitatspolitik, die
McWorld
eine blutleere Profitwirtschaft. Da man ?ohne eigenes Zutun‘ [by default] zur McWorld gehort, ist jeder zunachst Verbraucher; wenn man einen Platz fur seine Identitat sucht, gehort jeder zu irgendeinem Stamm. Aber keiner ist mehr ein Burger. Wie aber kann es ohne Burger Demokratie geben?“
[5]
Barber wendet sich ausdrucklich gegen eine Gleichsetzung von Demokratie und Marktwirtschaft. Zwar schlossen sich beide nicht kategorisch aus, hatten aber oft genug unvereinbare Interessen. Insbesondere polemisiert er die im amerikanischen Sprachgebrauch gelaufige Rhetorik, die suggeriere, Konsumenten wurden durch Auswahl zwischen mehr Produkten politisch ?
emanzipiert
“
(empowered)
.
Barber warnt vor einer Ersetzung politischer Ideologien durch eine konsumorientierte Bilderwelt
(videology)
und insbesondere vor dem Einfluss des Fernsehens ? ?McWorld’s noisy soul“ sei
MTV
. In dieser Fernsehkritik knupft Barber an Thesen
Neil Postmans
an; die von ihm beobachtete Zersetzung des politischen Bewusstseins durch
Markenfetischismus
hat
Naomi Kleins
globalisierungskritisches ?Manifest“
No Logo!
beeinflusst.
Barbers Gegenstrategie besteht in der Starkung der Zivilgesellschaft, die er bereits in
Starke Demokratie
vorschlug.
?Die Zivilgesellschaft, der burgerliche Raum, besetzt die Mitte zwischen Politik und privatem Sektor. Dort geben wir weder unsere Stimme ab, noch kaufen und verkaufen wir; dort sprechen wir mit unseren Nachbarn uber die Einstellung eines Schulerlotsen, planen eine Benefizaktion fur die ortliche Schule, diskutieren daruber, wie unsere Kirche oder Synagoge Obdachlosen eine Unterkunft schaffen kann, oder wir organisieren ein Softball-Sommerturnier fur unsere Kinder. In diesem Bereich sind wir ?offentliche‘ Wesen, wie eine Regierung haben wir einen Sinn fur offentliche Aufgaben und Achtung vor dem Gemeinwohl; aber anders als eine Regierung erheben wir keinen Anspruch auf die Ausubung eines Gewaltmonopols. […] Wie der Privatsektor hat auch dieser nachbarschaftliche, kooperative Bereich der Zivilgesellschaft teil am ?Geschenk der Freiheit‘, […] aber anders als der Privatsektor, strebt er Gemeinsamkeit und konsensuelle […] Handlungsweisen an. Die Zivilgesellschaft ist somit offentlich-politisch, ohne Zwangscharakter zu haben; sie ist freiwillig-voluntaristisch, ohne privatisiert zu sein.“
[6]
Damit argumentiert Barber analog zu
Jurgen Habermas
, der dazu aufruft, die ?Lebenswelt“ als potenziellen Ruckzugsraum der ?idealen Sprechsituation“ gegen die ?Kolonisierung“ durch die Systeme von politischer Burokratie und Wirtschaft zu starken; ahnliche Thesen vertritt auch
Zygmunt Bauman
in
Die Krise der Politik
. Allerdings ist Habermas’ Sprache sehr viel abstrakter. Bei Bauman gibt es einen starkeren kulturpessimistischen Grundton, wahrend Barbers Stil ?lebensnaher“ und trotz teilweise giftiger Kritik der US-Gesellschaft von einem fur amerikanische Autoren typischen Optimismus gepragt ist.
- 1969 (mit
Carl J. Friedrich
und Michael Curtis):
Totalitarianism in Perspective.
New York: Praeger Publishers.
- 1971:
Superman and Common Men: Freedom, Anarchy and The Revolution.
New York: Praeger Publishers.
- 1974:
The Death of Communal Liberty: A History of Freedom in a Swiss Mountain Canton
. Princeton: Princeton University Press.
- 1975:
Liberating Feminism
. New York: Continuum Books/Seabury Press.
- 1981:
Marriage Voices: A Novel.
New York: Summit Books.
- 1984:
Strong Democracy: Participatory Politics for A New Age.
Berkeley: University of California Press (deutsch 1994 als
Starke Demokratie ? Uber die Teilhabe am Politischen-
Berlin: Rotbuch).
- 1988:
The Conquest of Politics: Liberal Philosophy in Democratic Times.
Princeton: Princeton University Press.
- 1988 (mit Patrick Watson):
The Struggle for Democracy. Book of the CBC/PBS television series “The Struggle For Democracy.”
Toronto: Lester Orpen & Dennys.
- 1992:
An Aristocracy of Everyone: The Politics and Education and The Future of America
. New York: Ballantine Books.
- 1996:
Jihad vs. McWorld. How Globalism and Tribalism are Reshaping The World
. New York: Ballantine Books.
ISBN 0-345-38304-4
. (deutsch 1996 als
Coca Cola und Heiliger Krieg. Wie Kapitalismus und
Fundamentalismus
Demokratie und Freiheit abschaffen,
Munchen: Scherz, und 2000 als
Demokratie im Wurgegriff. Kapitalismus und Fundamentalismus ? eine unheilige Allianz,
Frankfurt/Main: Fischer).
- 1998:
A Passion for Democracy: American Essays.
Princeton: Princeton University Press.
- 1998:
A Place For Us: How To Make Society Civil and Democracy Strong.
New York: Hill and Wang/Farrar & Strauss.
- 2001:
The Truth of Power: Intellectual Affairs in The
Clinton
White House
. New York: W.W. Norton.
- 2003:
Fear’s Empire: War, Terrorism and Democracy in an Age of Intedependence
. New York: W.W. Norton (deutsch 2003 als
Imperium der Angst. Die USA und die Neuordnung der Welt.
Munchen: Beck.
ISBN 3-406-50954-1
).
- 2004:
Soziale Gerechtigkeit, Neue Antworten in der globalisierten Okonomie?
Klartext-Verlagges.,
ISBN 3-89861-320-8
.
- 2007:
Consumed!
(
Consumed! Wie der Markt Kinder verfuhrt, Erwachsene infantilisiert und die Burger verschlingt.
395 S., C.H. Beck, Munchen 2007,
ISBN 978-3-406-57159-6
)
[7]
- Wie demokratisch ist das Internet?
In:
Telepolis
, 9. April 1998.
- Ein Krieg ?jeder gegen jeden“: Terror und die Politik der Angst
.
In:
Aus Politik und Zeitgeschichte
B 18/2002, 22. Mai 2002. Ubersetzung aus dem Englischen von Dagmar Schittly. Benjamin Barber versucht, mogliche Ursachen fur die Terroranschlage vom 11. September 2001 aufzuzeigen. Dabei geht er zuerst auf die Wirkungen des modernen Terrorismus ein,.
- ?Raumen Sie doch mal auf!“ Ein ZEIT-Gesprach uber die Zukunft der Demokratie.
Die Zeit
45/1998, archiviert vom
Original
am
3. Dezember 2013
;
abgerufen am 30. April 2017
.
- Vom Ende der Neocons
.
In:
Cicero
, November 2005.
- Die ambivalenten Auswirkungen digitaler Technologie auf die Demokratie in einer sich globalisierenden Welt
.
Wissensgesellschaft.org, Website der
Heinrich-Boll-Stiftung
, 2002
- Schwacht oder starkt E-Technologie die Demokratie?
, in:
Robertson-von Trotha, Caroline Y.
(Hrsg.):
Kultur und Gerechtigkeit
(= Kulturwissenschaft interdisziplinar/Interdisciplinary Studies on Culture and Society, Bd. 2), Baden-Baden 2007.
- ↑
Dr Benjamin Barber ? August 2 1939 ? April 24 2017
In:
globalparliamentofmayors.org.
(englisch).
- ↑
Zum ganzen Absatz: Katrin Schmidt:
Benjamin R. Barber: In welcher Welt wollen wir leben?
Zur gleichnamigen Ausstellung des Dilemma Verlags, 29. Januar 2004 (pdf, 131 kB).
- ↑
Nach Peter Massing, Gotthard Breit:
Demokratie-Theorien: Kapitel ?Benjamin Barber“.
Schriftenreihe, Bd. 424.
Bundeszentrale fur politische Bildung
, 15. September 2003, archiviert vom
Original
am
12. Dezember 2007
;
abgerufen am 30. April 2017
.
- ↑
Zitiert nach der deutschen Ausgabe, Seite 15.
- ↑
Zitiert nach der englischen Ausgabe, S. 6/8, Unterstreichungen hinzugefugt.
- ↑
Starke Demokratie
, S. 281.
- ↑
Jorg Plath:
Buchkritik: Das Ende der Tugend-
Deutschlandradio Kultur
, 18. Marz 2008, abgerufen am 30. April 2017.