Zwolftontechnik

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Mit den Begriffen Zwolftontechnik und Reihentechnik bzw. Dodekaphonie (von griechisch dodeka ‚zwolf‘ und phone ?Stimme‘) und Zwolftonmusik werden kompositorische Verfahren zusammengefasst, die von einem Kreis Wiener Komponisten um Arnold Schonberg , der sogenannten ?Schonberg-Schule“ oder ? Wiener Schule “, in den Jahren um 1920 entwickelt wurden.

Grundlage der Zwolftontechnik ist die Methode des Komponierens mit zwolf nur aufeinander bezogenen Tonen . [1] Die Zwolftonreihe und ihre regelrechten Modifikationen dienten als neues Ordnungsprinzip des musikalischen Materials und wurden zeitlich nach der keinen spezifischen Regeln unterworfenen freien Atonalitat entwickelt.

Die ?Totalitat der Zwolftontechnik“ im Verstandnis von Schonberg erfuhr im musiktheoretischen Diskurs der Folgezeit vielfache Erweiterungen. Als ?Reihentechnik“ oder ?serielle Technik“ beschaftigte sie sich auch mit nicht zwolftonigen Reihen. Die Ausdehnung des Reihenprinzips auf alle Parameter des Tones erweiterte die Zwolftontechnik zur seriellen Technik , die sich in den fruhen 1950er Jahren im franzosisch-, italienisch- und deutschsprachigen Raum verbreitete.

Die Erfindung der Zwolftontechnik hat Arnold Schonberg allein sich selbst zugeschrieben. Gleich ihm haben aber auch Komponisten wie Josef Matthias Hauer , Herbert Eimert , Anton Webern , Josef Rufer und Alban Berg in den fruhen Jahren wichtige Beitrage zur Entwicklung der Zwolftontechnik geleistet. Josef Matthias Hauer hat 1919 von allen als Erster mit seiner 12-tonigen Komposition Nomos , op. 19 in diesem System komponiert. [2]

Die Zwolftontechnik hat sowohl in der kompositorischen Praxis als auch im analytischen Denken vielfaltige und tiefgreifende Auswirkungen auf die Musik der Moderne und der Avantgarde gehabt. Sie zahlt zu den einflussreichsten musikgeschichtlichen Entwicklungen in der westlichen Musik des 20. Jahrhunderts. Da sie sich vom fruhesten Anfang an in die verschiedensten Schulen und Individualstile verastelt hat, werden in diesem Artikel Diskussionen und Nachwirkungen nicht geschlossen an den Schluss gestellt, sondern im Zusammenhang mit ihren jeweiligen Auslosern besprochen.

Arnold Schonberg hat in seinem erstmals 1935 gehaltenen Vortrag Composition With Twelve Tones eine einfache Einfuhrung in die Zwolftontechnik gegeben.

?Diese Methode besteht […] aus der standigen und ausschließlichen Verwendung einer Reihe von zwolf verschiedenen Tonen. Das bedeutet naturlich, daß kein Ton innerhalb der Serie wiederholt wird und daß sie alle zwolf Tone der chromatischen Skala benutzt, obwohl in anderer Reihenfolge [als in der chromatischen Skala].“ [3]

Oktavlagen und Enharmonische Verwechslungen bleiben bei dieser zunachst abstrakten Reihenformulierung unberucksichtigt; etwa vertritt cis 1 alle anderen Tone cis/Cis, bzw. des/Des.

Eine Grundreihe enthalt also jeden Ton genau einmal. Dabei wird versucht, die einzelnen Tonreihen zu spiegeln oder auch aufsteigend und absteigend einzusetzen. Die Grundreihe aus Schonbergs Klavierstuck op. 33a lautet:

Schönberg, Klavierstück op. 33a: Grundreihe
Schonberg, Klavierstuck op. 33a: Grundreihe

Abgeleitet von einer Grundreihe (G) werden

  • die Umkehrung (U) oder Spiegelung: Jedes Intervall, das in der Grundreihe aufwarts gerichtet war, ist nun abwarts gerichtet, und umgekehrt. Aus der absteigenden Quart b 1 -f 1 wird die aufsteigende Quart b 1 -es 2 .
  • der Krebs (K): Die Grundreihe ruckwarts.
  • die Krebsumkehrung (KU): die Umkehrung des Krebses bzw. der Krebs der Umkehrung.

Das ergibt fur Schonbergs op. 33a:

Schönberg, Klavierstück op. 33a: Grundreihe, Umkehrung, Krebs, Krebsumkehrung
Schonberg, Klavierstuck op. 33a: Grundreihe, Umkehrung, Krebs, Krebsumkehrung
Schonberg, Klavierstuck op. 33a: Reihentabelle 1 (Grundreihen, Krebsformen)
Schonberg, Klavierstuck op. 33a: Reihentabelle 2 (Umkehrungen, Krebsumkehrungen)

In der kompositorischen Umsetzung sind die Oktavlagen der einzelnen Tone frei wahlbar. Aus der absteigenden Quart b 1 -f 1 zu Beginn der Grundreihe kann die aufsteigende Quint b 1 -f 2 werden sowie jede andere Kombination von Oktavlagen.

Jede dieser vier Reihenformen kann auf jede der zwolf chromatischen Stufen transponiert werden. Damit steht der Komposition ein Vorrat von insgesamt 48 verschiedenen Reihenformen zur Verfugung, die ublicherweise in einer Reihentabelle zusammengefasst werden.

Schonberg bezeichnete in seinen Kompositionsskizzen die Reihenformen durch Intervallsymbole: K+2 bedeutet Krebs um eine große Sekunde (+2) nach oben transponiert; K?3 dementsprechend um eine kleine Terz (?3) tiefer. [4] Andere Komponisten nummerieren jeweils von 1 bis 12 durch; oder der jeweilige Anfangston wird zur Bezeichnung herangezogen: Grundreihe auf fis; oder KU(e) = Krebsumkehrung mit dem Anfangston/auf e.

Die 48 Reihenformen sind das Material fur horizontale (melodische) Ablaufe genauso wie fur vertikale Bildungen (Akkorde). Mehrere verschiedene Reihenformen konnen gleichzeitig ablaufen; aus einer Reihe, die eine Melodie bildet, konnen aber auch Teile in begleitende Akkorde ausgelagert sein. Unmittelbare Tonwiederholungen sind erlaubt, aber weder Oktavsprunge noch Oktavzusammenklange, auch nicht, wenn zwei chromatisch gleiche Tone in unterschiedlichen Oktavlagen verschiedenen gleichzeitig ablaufenden Reihenformen angehoren. Auch Interpolationen sind moglich: Ein Ausschnitt einer anderen Reihenform wird in einen Reihenablauf eingelagert; der Rest dieser anderen Reihenform erscheint an anderer Stelle in der Komposition.

Arnold Schonberg

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Stil und Gedanke

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Die erstmals 1950 in New York erschienene Sammlung Style and Idea (deutsch 1976 als Stil und Gedanke [5] ) enthalt Schonbergs wichtigste Schriften zur Zwolftontechnik. Es handelt sich um eine Sammlung von Essays und Vortragen, deren Urfassungen Schonberg großtenteils nach seiner Emigration in die USA auf Englisch geschrieben hatte. Sie befassen sich mit verschiedenen musikalischen, aber auch mit politischen Themen.

Fur die Zwolftontechnik sind insbesondere folgende Texte von Bedeutung:

  • Composition With Twelve Tones (Komposition mit zwolf Tonen): Ein erstmals 1935 an der University of Southern California gehaltener Vortrag, der eine Einfuhrung in die Technik gibt und, neben verschiedenen weiteren technischen und asthetischen Reflexionen, das Konzept der ?Entwickelnden Variation“ erlautert.
  • Brahms the Progressive (Brahms, der Fortschrittliche): Typoskript, datiert mit 28. Oktober 1947. [6] Es enthalt fur Schonbergs Zwolftontechnik wesentliche Reflexionen uber ?Form“ und ?Faßlichkeit“, außerdem den umstrittenen Versuch, Brahms’ kompositorische Strukturen im Sinne einer Vorlauferschaft zur Zwolftontechnik intervallisch zu analysieren.

Wesentlich ist außerdem:

  • Composition With Twelve Tones (Komposition mit zwolf Tonen): Ein nur im Titel mit dem Vortrag von 1935 gleichlautendes Typoskript; der Text wurde nicht in Style and Idea aufgenommen. [7]

Die Thesen dieser Schriften werden im folgenden Kapitel im Zusammenhang mit der Darstellung der Kompositionstechnik besprochen.

Die Zwolftonreihe in der Komposition

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Das Klavierstuck op. 33a

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In den Notenbeispielen sind die Tone der Reihenformen durch Zahlen neben den Notenkopfen gekennzeichnet. Wie in der oben gegebenen Reihentabelle sind Grundreihe und Umkehrung mit 1 bis 12, die Krebsformen mit 12 bis 1 nummeriert.

Schönberg, op. 33a, Takt 1 bis 5 mit Reihenanalyse
Schonberg, op. 33a, Takt 1 bis 5 mit Reihenanalyse

Takt 1 bringt die mit b beginnende Grundreihe, zu Vierergruppen zusammengefasst als vierstimmige Akkorde; Takt 2 verfahrt entsprechend mit der mit a beginnenden Krebsumkehrung. Die Takte 3 bis 5 schichten zwei Reihenformen ubereinander, in der rechten Hand KU(a), in der linken K(e). Entscheidend bei der Zuordnung sind nicht die Spielhand oder das System , in das die Note geschrieben ist, sondern die Instrumentierung: Das dis 3 in Takt 5 wird von der linken Hand gespielt (original mit Violinschlussel ins untere System notiert), gehort aber in die Reihe KU(a) und ist daher in den klanglich oberen Bereich gesetzt, wahrend die Quart f 1 -b 1 der rechten Hand innerhalb des Gesamtklangs am tiefsten liegt und in die untere Ebene K(e) gehort.

Die Grundreihe lauft im ersten Takt zwar vollstandig und korrekt ab, ware aus ihm allein aber nicht ableitbar. Da sich die Reihe indifferent gegenuber der Oktavlage verhalt, also nur eine zeitliche Reihenfolge der Tone definiert, nicht aber ihr raumliches Ubereinander, lasst sie sich aus gleichzeitig eintretenden Tonen nicht eindeutig rekonstruieren. Im ersten Akkord sind die ersten vier Reihentone konsequent von oben nach unten angeordnet, im zweiten ist die Anordnung schon verandert: der gemaß Reihe zeitlich fruheste Ton, der 5. (a), ist der tiefste, der folgende 6. (fis) der oberste; die beiden ubrigen dieser Vierergruppe liegen in der Mitte. Aus dem Anfangstakt lasst sich also nur ableiten, welche vier Tone den Anfang der Reihe bilden, welche vier die Fortsetzung und welche vier den Schluss, nicht aber, welche Reihenfolge innerhalb der Vierergruppen gilt. In vielen zwolftonigen Kompositionen muss die vom Komponisten gemeinte Folge aus verschiedenen Stellen rekonstruiert werden.

Ab Takt 3 laufen die Reihenformen im Prinzip als melodische Bildungen ab (vor allem Anfang von Takt 4, Anfang von Takt 5; jeweils rechte Hand), sind aber mehrfach als Zusammenklange ineinandergeschoben: in Takt 3 werden in der rechten Hand die Tone 12 bis 9 nacheinander angeschlagen, aber gehalten, so dass sie sich zu einem Akkord zusammensetzen; in der Linken treten die Tone 12 und 11 sofort als Zusammenklang ein.

Die Takte 14 bis 18 zeigen einen freieren Umgang mit der Reihenfolge der Tone:

Schönberg, op. 33a, Takt 14 bis 18 mit Reihenanalyse
Schonberg, op. 33a, Takt 14 bis 18 mit Reihenanalyse

Konsequent einstimmig ist die untere Schicht U(es); die obere G(b) (die in Takt 17 und 18 in der originalen Partitur teilweise ins untere System notiert und von der linken Hand zu spielen ist) ist zu drei- und zweistimmigen Gebilden zusammengeschoben. In Takt 14 lauft die Grundreihe in der rechten Hand bis zum 5. und 6. Ton und daraufhin wieder zuruck zum Anfang; Takt 15 ist eine fast wortliche Wiederholung. Die strenge Reihenfolge der Tone steht also durchaus zur Disposition. Ahnlich die untere Schicht vom letzten Viertel des Taktes 16 bis zum Anfang von Takt 18: Die Tone 7 und 8 werden in der normalen Reihenfolge eingefuhrt, nach einem Ruckgriff auf 7 und wiederum 8 erscheint 9. Nach dem 10. Ton F beginnt beim Ubergang zu Takt 18 wieder die Folge 7-8-9. ? Zu beachten ist die Stimmkreuzung zwischen den Reihen in Takt 15: Der 3. Ton der unteren Ebene des 1 liegt uber dem h der oberen Ebene. Der Unterschied in der Artikulation ist allerdings deutlich genug, um keinen Zweifel uber die Zusammenhange aufkommen zu lassen; auch wird der Pianist vermutlich die untere Ebene leicht hervorheben.

An diesen Takten wird die Problematik der Aussage deutlich, die Reihe organisiere sowohl die horizontalen (melodischen) Bezuge als auch die vertikalen (akkordischen). Die genauere Fassung lautet: Die Reihe organisiert entweder das eine oder das andere; beides gleichzeitig ist nicht moglich. Die kleine Sept es 1 -des² in der rechten Hand in Takt 16 wird gebildet aus dem 7. und 8. Reihenton, ahnlich die große Sept as 1 -g 2 im folgenden Takt aus 9 und 10. Dadurch entsteht in der Oberstimme aus dem 7. und 9. Ton, also zwei in der Reihe an sich nicht als benachbart vorgesehenen Tonen, eine sehr auffallige melodische Bewegung des²-g 2 . Ahnlich ist in Takt 14 der Akkord c 1 -f 1 -b 1 der rechten Hand durch die Zusammenruckung der ersten drei Tone der Grundreihe gebildet (freilich entsteht schon drei Achtel spater durch das Uberhalten des Tons b 1 die reihenfremde Zusammensetzung 1-6-5), aber mit Eintritt des Tons es in der linken Hand entsteht aus der Ubereinanderschichtung zweier unterschiedlicher Reihenformen ein Akkord, der keiner Reihenform entstammt.

Die Zwolftonreihe als Tonalitatsvermeidung

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?Die Konstruktion einer Grundreihe von zwolf Tonen geht auf die Absicht zuruck, die Wiederholung jedes Tones solange wie moglich hinauszuschieben. Ich habe in meiner Harmonielehre dargelegt, daß die Betonung, die ein Ton durch verfruhte Wiederholung erfahrt, ihn in den Rang einer Tonika zu erheben vermag. Dagegen werden durch die regelmaßige Verwendung einer Reihe von zwolf Tonen alle anderen Tone auf die gleiche Weise betont, und dadurch wird der einzelne Ton des Privilegs der Vorherrschaft beraubt. [8]

Als Schonberg das schrieb, war die Vermeidung der Tonalitat noch ein virulentes Problem. Die Horweisen nicht nur der Horer, sondern auch der Komponisten waren durch eine traditionelle Musiksprache gepragt; die heute im musikalischen Horen gewohnlich gewordene Atonalitat wirkte fremd und fur viele Horer erschreckend. Zwar waren auch vor Schonbergs Ankunft in den USA die amerikanischen Komponisten Henry Cowell und Charles Ives bereits zu atonalen Strukturen vorgestoßen; eine Breitenwirkung zumindest in musikalischen Kreisen, wie sie dann von Schonbergs Zwolftontechnik ausgehen sollte, war ihnen aber versagt geblieben. Insofern war Schonbergs Versuch, eine neue musikalische Sprache zunachst durch die Abgrenzung von einer alten, fest etablierten zu stabilisieren, vermutlich nicht nur naheliegend, sondern unvermeidlich.

Schonberg ist mit seiner Berufung auf seine Harmonielehre von 1911 allerdings ein aufschlussreicher Gedachtnisfehler unterlaufen. Seine Argumentation in dem um Jahrzehnte alteren Buch beschaftigt sich tatsachlich mit Wiederholungen von Tonen in reinen Tonsatzubungen zur traditionellen tonalen Musik (also kurzen Akkordfolgen ohne kunstlerischen Anspruch) [9]

?Und damit sind wir bei einer zweiten Anforderung angelangt, die fur die Entwerfung guter Satzchen in Betracht kommt: das Verlangen nach Abwechslung. Es laßt sich das schwer behandeln, ohne auch von der gegenteiligen Anforderung, von der Wiederholung zu sprechen. Denn bringt die erste Mannigfaltigkeit hervor, so gibt die zweite der ersten Zusammenhang, Sinn, System. Und System kann nur auf Wiederholung beruhen. Von der Wiederholung Gebrauch zu machen, werden wir nur wenig Gelegenheit finden […]“

Es folgt eine Reihe von Fallen, in denen eine Tonwiederholung innerhalb einer Tonsatzubung kein oder nur ein geringes Problem ist. Dann:

?Die schlechteste Form der Wiederholung wird die sein, die den hochsten oder den tiefsten Ton einer Linie zweimal setzt. […] Insbesondere der Hohepunkt wird wohl kaum wiederholt sein. […] Wenn etwa in einem Schubert-Lied nachgewiesen werden sollte, daß der hochste Ton in einer Melodie ofters vorkommt (beispielsweise: ?Mit dem grunen Lautenbande‘), so ist das naturlicherweise ein anderer Fall, denn andere Mittel besorgen hier die notige Abwechslung.“

(Vgl. hierzu die ausfuhrliche Analyse von Mit dem grunen Lautenbande im Artikel Die schone Mullerin .)

Tatsachlich zeigt eine Analyse von Schuberts Mit dem grunen Lautenbande , dass der hochste Ton der Melodie Gegenstand einer bewussten Dramaturgie ist: er ist zunachst Ziel einer konsequenten melodischen Aufwartsentwicklung, erscheint dann noch gesteigert als auffallige Dissonanz, wird schließlich, wenn die Melodie sich in eine andere Richtung entwickelt, spielerisch in die Beilaufigkeit entlassen. Gleichzeitig aber zeigt die Analyse eines anderen Tons als des Hochtons ? der also aus dem Inneren des Tonraums stammt ?, dass nicht alle Tone so empfindlich auf Wiederholung reagieren, sich daher auch nicht zum Gegenstand einer gezielten Dramaturgie machen lassen.

Ein Komponist der tonalen Musik kann also mit einigen wenigen exponierten Tonen in seinen melodischen Linien spielen. Fur alle anderen Tone ist die Tatsache der Wiederholung meistens gleichgultig; viel zu stark sind die Sinnstrukturen, die vor allem durch die Harmonik gesetzt werden. Vollig anders ist die Situation in der Musik, die auf die Sinnstrukturen der Tonalitat verzichtet. Bela Bartok baut weite Teile seines vierten Streichquartetts (1928) auf einem Motiv auf, das erstmals im Takt 7 des ersten Satzes im Violoncello auftritt:

Bela Bartok, 4. Streichquartett 1. Satz: Motiv des Violoncellos in Takt 7

Der 4. und 5. Ton sind Wiederholungen des 2. und 1. Wie sehr ihre Wirkung dadurch abgeschwacht ist, zeigt die dramatische Wirkung des Schlusstons b, der neu ist und durch diese Neuheit ? nach der Schwache der vorhergehenden ? eine dynamisch forttreibende Wirkung erhalt. Nimmt man jedoch die diesem Motiv von Takt 7 vorhergehenden Tone hinzu, dann andert sich die Wirkung grundlegend: [10]

Bartok, 4. Streichquartett 1. Satz: Linie des Violoncellos in Takt 4 bis 7

Das b hat sich in Takt 6 schon ausgebreitet, und es wurde auf vergleichbare Weise erreicht wie der Schlusston, uber c 1 und h. Der Schlusston des Motivs, der im ersten Notenbeispiel neu war, ist nun ein wiederholter. In dieser Version kehrt das Motiv in sich zuruck, es verliert seine dynamisch-forttreibende Wirkung, es schließt, wirkt wie eine Zusammenfassung des Vorhergehenden. Das hat mit einem Grundton im traditionellen Sinn nicht das geringste zu tun; niemand, der dieses Quartett einmal gehort hat, wird daran zweifeln, dass es durch und durch atonal ist. Dennoch liegt darin eine starke die Tone gewichtende Wirkung; das Schluss-b im ersten Notenbeispiel ist etwas ganz anderes als das Schluss-b im zweiten. Da die Uberlagerung durch die starken Sinnstrukturen der Funktionsharmonik fortfallt, verandert die Tatsache der Neuheit oder der Wiederholung in einem atonalen Zusammenhang die Wirkung eines Tones fundamental ? und zwar jedes Tons, nicht nur einiger Spitzentone. Die Ergebnisse dieses Phanomens sind fur einen die tonale Sprache gewohnten Komponisten unvorhersehbar ? sie werden durch die Verwendung verschiedener Intervalle noch kompliziert ? und von einschuchternder Kraft. Ein pathetisch inszenierter Zielton etwa wirkt unertraglich banal (weil nicht durch eine entsprechende Harmonik uberdeckt wird, dass er kurz zuvor schon erklang); oder er wirkt gar nicht als Zielton, sondern als Ausgangspunkt fur etwas Neues, das der Komponist nicht vorgesehen hat; oder er klingt ? horribile dictu in atonaler Musik ? einfach falsch. Die Atonalitat ist alles andere als ein Land der Gesetzlosigkeit, und ein Komponist, der sich von den Zwangen der Tonalitat gerade frei gemacht hat, mithin halb und halb noch darinsteckt, und der nun glaubt, nach Belieben schalten und walten zu konnen, kann bose Uberraschungen erleben.

Im Zitat zu Anfang dieses Kapitels spricht Schonberg eindeutig nicht von der Tonikawirkung innerhalb eines fraglos tonalen, funktionsharmonischen Zusammenhangs ? eine solche kommt jedenfalls nicht durch Tonwiederholung zustande ?, sondern von Tonwiederholungen in einem atonalen Zusammenhang. Diese werden in der Harmonielehre nicht diskutiert. Dennoch hat Schonbergs Hinweis auf das Buch einen wenn auch unabsichtlichen Sinn. Denn als die Harmonielehre entstand ? sie erschien erstmals 1911 ?, tat Schonberg gerade seine ersten Schritte im damals vollig neuen Gebiet der Atonalitat; deren erste kompositorische Probleme und die Arbeit an dem Buch, das an anderen Stellen durchaus die neuen Entwicklungen reflektiert, durften sich in seiner Erinnerung vermischt haben. Noch in der viel spateren Außerung uber die Zwolftontechnik schwingt die exorbitante Anstrengung nach, die, bei aller Entdeckerfreude, die ersten Schritte in die Atonalitat zweifellos erforderten, sowie vielleicht die Frustration daruber, dass eine Unzahl engagierter Versuche in klanglichen Wechselbalgern endeten, die die Vorstellungen des Komponisten in keiner Weise wiedergaben. Was Schonberg also als ein Verfahren zur Tonalitatsvermeidung bezeichnet, ist tatsachlich die Reaktion auf eine genuin atonale Problemstellung. Hier scheint sich ein fur beide Komponistenpersonlichkeiten bezeichnender Vergleich mit Bartok anzubieten: Bartok, der in den unvorhergesehenen Wirkungen der Tone eine große Chance sah und ihrer konzentrierten Erforschung und Erprobung ganze Streichquartette widmete; Schonberg, der diese Wirkungen zu furchten gelernt hatte und ein System zu ihrer Vermeidung erdachte.

Aber diese Formulierung trifft den Sachverhalt nicht. Schon weil das System nicht funktioniert.

?Die Verwendung von mehr als einer Reihe war ausgeschlossen, weil in jeder folgenden Reihe ein Ton oder mehrere Tone zu bald wiederholt worden waren. [11]

Wenn etwa in der ersten Reihe cis der 10. Ton ist, in der folgenden Reihe, die eine veranderte Reihenfolge bringt, aber der 3., dann wird cis wiederholt, bevor die ubrigen elf Tone vollstandig durchliefen, und dadurch unangemessen bevorzugt. Das schlosse aber auch die Verwendung verschiedener Reihenformen aus. Nur solange immer ein und dieselbe Reihenform hintereinander ablauft, wird die verfruhte Wiederholung eines Tons verhindert; sobald auf eine Reihenform eine andere folgt, rucken Wiederholungen von Tonen unregelmaßig aneinander und auseinander. Vgl. dazu in Takt 2 von op. 33a (Notenbeispiel oben ) den obersten Ton d 1 des letzten Akkords (4. Ton von KU(a)), der sich schon im folgenden Takt eine Oktave tiefer als erste obere Note der linken Hand wiederholt (11. Ton von K(e)). Ebenso in Takt 3 den letzten Ton der linken Hand G (9. Ton von K(e)), der nur durch zwei Tone von g 1 (Takt 4, rechte Hand, dritte Note; 6. Ton von KU(a)) getrennt ist. Solche Falle sind haufig. Erst auf großere Strecken hin entsteht durch den Einsatz immer vollstandiger Reihenformen eine statistische Gleichverteilung der Tone, falls der Komponist es nicht durch kompositorische Mittel verhindert.

Die Gleichberechtigung der Tone

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Genau das hat Schonberg immer wieder getan. Das spektakularste Beispiel ist die Musette aus der Suite fur Klavier op. 25, in deren Anfangs- und Schlussabschnitt ein Ton (g) aus der Reihe ausgliedert ist und als Orgelpunkt standig mitlauft. Aber daruber hinaus ist die Bildung langer Flachen aus einigen wenigen Reihentonen eines von Schonbergs haufigsten kompositorischen Mitteln. Zu Anfang des 3. Streichquartetts op. 30 wiederholen zweite Violine und Bratsche abwechselnd zwolf Takte lang ein aus funf Tonen gebildetes Motiv, uber dem ab dem 5. Takt die Hauptstimme der ersten Violine steht. Die Takte 19 und 20 des Klavierstucks op. 33a lauten so:

Schönberg, op. 33a, Takt 19 bis 20 mit Reihenanalyse
Schonberg, op. 33a, Takt 19 bis 20 mit Reihenanalyse

Ab dem Ende von Takt 19 entsteht durch standige Wiederholungen und Ruckgriffe von jeweils 4 in ihrer Oktavlage festgelegten Tonen aus K(e) und KU(a) eine harmonisch stehende, aber in sich durch scharf umrissene Rhythmen stark bewegte Flache. Solche Flachen gehoren zu den gewohnlichsten kompositorischen Mitteln von Schonbergs zwolftonigen Werken. Sie nahern sich in auffalliger Weise Kompositionstechniken Bartoks: Der Tonsatz schießt sich auf ein paar Tone ein, die, mit ganz bestimmten, immer wiederkehrenden Rhythmen verbunden, uber eine langere Strecke festgehalten werden, so dass die daraufhin neu eintretenden Tone eine starke Erneuerungswirkung haben. Schonberg wirkt in der Anwendung dieser Mittel allerdings im Allgemeinen nervoser als Bartok; seine Strecken sind kurzer, und oft erscheint ihre Fortfuhrung nicht, wie bei Bartok, als logische Konsequenz, sondern als Affektbruch.

Innerhalb derartiger Passagen wird die Reihenfolge der Tone grundlegend fragwurdig; sie fuhren aber regelmaßig auch zu einem starken Uberwiegen einer bestimmten Gruppe von Tonen uber die restlichen zumindest fur einen gewissen Zeitraum.

?Man wird feststellen, daß die Folge der Tone entsprechend ihrer Anordnung in der Reihe immer streng beachtet worden ist [namlich bei den in der Fortsetzung von Schonbergs Text angefuhrten Musikbeispielen]. Man konnte vielleicht im spateren Teil des Werkes, wenn die Reihe dem Ohr schon vertraut geworden ware, eine leichte Abweichung von dieser Folge dulden (entsprechend dem gleichen Prinzip, das in fruheren Stilen eine entfernt gelegene Variante gestattete). Am Anfang eines Stuckes wurde man jedoch nicht so abweichen. [12]

Man muss diese Außerung nicht ablehnen, es genugt einige Großzugigkeit bei ihrer Interpretation. Wahrscheinlich war Schonberg 1935 noch zu sehr daran interessiert, das Formbildende, Logikstiftende der Zwolftonreihe nach außen hin zu etablieren, als dass er vor einem Publikum, dem die Zwolftontechnik neu war, hatte ausfuhren wollen, welchen Grad an Freiheit er zu diesem Zeitpunkt schon gewonnen hatte. Nimmt man das ?vielleicht“ und die ?leichte Abweichung“ im zweiten Satz dieses Zitats als starke Verkleinerungen, dann kommt man zu einer durchaus zutreffenden Beschreibung: Am Anfang (und, wie die Tabelle zu op. 33a zeigt, am Schluss) des Stucks werden Reihenfolge und Vollstandigkeit der Reihentone mehr oder weniger prazise beibehalten, in der Mitte des Stucks treten zum Teil tiefgreifende Abweichungen auf.

Die Zwolftonreihe als Tonalitatsersatz

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Schonberg empfand den Verzicht auf die Tonalitat nicht nur als Fortschritt.

?Fruher hatte die Harmonie nicht nur als Quelle der Schonheit gedient, sondern, was wichtiger war, als Mittel zur Unterscheidung der Formmerkmale. Fur den Schluß wurde zum Beispiel nur eine Konsonanz als passend erachtet. Befestigende Funktionen erforderten andere Harmoniefolgen als schweifende; eine Vorbereitung, eine Uberleitung erforderte andere Folgen als ein Schlußgedanke […]“ [13]

An einem Buch uber Die formbildenden Tendenzen der [tonalen] Harmonie hat Schonberg noch bis 1948 gearbeitet. [14] Dass mit dem etwa 1909 erfolgten Ubergang in die Atonalitat diese formbildenden Tendenzen fortgefallen waren, fuhrte zunachst zur Komposition nur kurzer Stucke; langere Stucke waren auf einen Text angewiesen, der die Formbildung zu ubernehmen schien.

?Nach vielen erfolglosen Versuchen in einem Zeitraum von annahernd zwolf Jahren legte ich den Grund zu einem neuen musikalischen Konstruktionsverfahren, das geeignet schien, jene strukturellen Differenzierungen zu ersetzen, fur die fruher die tonalen Harmonien gesorgt hatten.“ [15]

Eine Tabelle zeigt den Einsatz der Reihe in Schonbergs Klavierstuck op. 33a:

Einsatz der Reihe in Schonbergs ?Klavierstuck“ op. 33a
Takt 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Taktart, Tempo 4/4 Maßig ? poco rit a tempo ? poco rit ?
Dynamik p mf p mf fp cresc
rechte Hand G(b) KU(a) KU(a) ... ... G(b) KU(a) G(b) 1, 3, 4 in zwei Oktavlagen ... G(b) KU(a) U(es)
linke Hand K(e) ... ... U(es) 1, 4 in zwei Oktavlagen ... U(es) K(e) G(b)
Takt 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24
T, T 2/4 molto rit 4/4 a tempo heftiger ? poco rit ruhiger ? rit ?
D f p p cantabile f martellato p ? p ?
r H ... G(b) ... ... ... ... K(e) 12-3 ... G(b) 7-9, 5, 11-12 ... G(b) 1-6 ...
l H ... U(es) ... ... ... ... KU(a) 12-3 ... G(b) 3, 1/6, 2, 4 (fehlt 10) ... U(es) 1-6 ...
Takt 25 26 27 28 29 30 31
T, T a tempo steigernd
D f energisch, ff, ? p ? scherzando ? ? p martellato, cresc f ? f dim ? mp ? cresc
r H G(b) ... K(e) 12-7; KU(a) 6-1 G(c) 1-6; U(b) 1-6; G(c) ...; U(b) ...; U(b) ...; K(h)
l H KU(a) ... KU(es) 7-12 (!); K(e) 6-1; U(f) 1-6 ...; G(f) 1-6; U(f) ...; G(f) ...; G(f) ...; KU(e)
Takt 32 32 nach Generalpause mit Fermate 33 34 35 36 37 38 39 40
T, T 5/4 9/8 6/8 ? rit 4/4 ruhig ? steigernd ? 3/4 rit
D ff p p dolce p cresc f ff
r H ... G(b) ...; KU(a) ... K(e) ... G(b); KU(a) U(es); K(e) G(b) ...
l H ... U(es) ...; K(e) ... KU(a) ... U(es) ...

Anmerkungen: Die Aufstellung ist vereinfacht; einzelne Schlusstone am Taktanfang und Auftakte sowie Sforzati sind nicht berucksichtigt.

  • Drei Punkte: Die im vorhergehenden Takt beginnende Reihe wird weitergefuhrt. (Bei unvollstandigen Reihen stehen die insgesamt vorhandenen Tone gleich hinter dem Kurzel).
  • Arabische Ziffern bezeichnen Reihentone.
  • Gedankenstrich vor einer Tempo- oder Dynamikvorschrift: steht am Ende des Taktes;
  • Gedankenstrich zu beiden Seiten einer Tempo- oder Dynamikvorschrift: steht in der Mitte des Taktes.

Uber weite Strecken des Stucks begnugt Schonberg sich mit vier Reihenformen: G(b), K(e), U(es) und KU(a). Schönberg, Klavierstück op. 33a: die vier hauptsächlich verwendeten Reihen

Es handelt sich also nur um zwei wirklich verschiedene Reihen, die entweder vorwarts oder ruckwarts ablaufen. Sobald zwei Reihenformen gleichzeitig ablaufen, sind das immer die Kombinationen G(b)-U(es) und K(e)-KU(a). Dazu schrieb Schonberg:

?Spater [d. h. nach dem Blaserquintett op. 26] […] anderte ich meinen Einfall, wenn notig, damit er den folgenden Bedingungen entsprach […]: Die Umkehrung der ersten sechs Tone […] auf der Quine tiefer sollte keine Wiederholung eines dieser sechs Tone hervorbringen, sondern die bisher unbenutzten sechs Tone der chromatischen Skala ergeben.“ [16]

Die jeweils ersten sechs Tone der Grundreihe auf b und der Umkehrung auf es (der Anfangston steht also eine Quint tiefer) ergeben samtliche zwolf chromatischen Tone ohne Wiederholung eines Tons (was automatisch auch fur die jeweiligen Tone 7 bis 12 gilt). Damit konnte Schonberg diese beiden Reihenformen gleichzeitig ablaufen lassen, ohne innerhalb der Reihenhalften eine zu fruhe Wiederholung eines Tons, der zwei unterschiedlichen Reihenformen angehort, befurchten zu mussen: Takt 14 bis 16 (zweite Note) ergibt ein vollstandiges und wiederholungsfreies Zwolftonfeld; ebenso Takt 16 (Einsatz der rechten Hand) bis Ende Takt 18, obwohl die Reihenablaufe fur sich genommen unvollstandig sind (siehe das Notenbeispiel oben ).

Nur in Takt 27 Ende bis Takt 32 Anfang benutzt Schonberg zusatzliche Reihenformen:

G(f) K(h)
U(b) KU(e)
G(c)
U(f)

Auch hier haben die Anfangstone der untereinander stehenden Reihenformen den Abstand einer Quint, so dass sie ubereinandergeschichtet werden konnen. G(f)-K(h) und U(b)-KU(e) beziehen sich wiederum als Krebsformen aufeinander.

In Stil und Gedanke schrieb Schonberg:

?Wahrend ein Stuck meistens mit der Grundreihe selber beginnt, werden die Spiegelformen und andere Ableitungen wie etwa die elf Transpositionen aller vier Grundformen erst spater verwendet; besonders die Transpositionen dienen, wie die Modulationen in fruheren Stilen, dazu, Nebengedanken zu bilden.“ [17]

Die Grundreihe ? in op. 33a wohl eher die in den ersten Takten exponierten vier Hauptreihen ? fungiert also in etwa wie die Haupttonart traditioneller tonaler Musik: sie bildet einen Ausgangspunkt, von dem das Stuck zuerst in andere Tonarten ? in andere Reihenformen ? wegmoduliert und dann zum Ausgangspunkt zuruckmoduliert. Diese Formung ist aus der Anordnung der Reihenformen in op. 33a klar ablesbar. Die Takte 27 bis 32 entsprechen also einem in anderen Tonarten stehenden Mittelteil in der tonalen Musik.

?[…] jeder Ton [erscheint] immer in der Nachbarschaft zweier anderer Tone in unveranderlicher Kombination, die ein enges Verhaltnis schafft, welches dem Verhaltnis einer Terz und einer Quint zum Grundton außerst ahnlich ist. Es ist naturlich bloß ein Verhaltnis, aber sein wiederholtes Vorkommen kann psychologische Effekte hervorrufen, die jenen naheren Beziehungen [innerhalb eines Dreiklangs] sehr ahnlich sind.“ [18]

Diskussion und Kritik

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Theodor W. Adorno

Fur die musikasthetische und geschichtsphilosophische Untermauerung der Zwolftontechnik ist der deutsche Philosoph Theodor W. Adorno (1903?1969) zu nennen, der die Zwolftontechnik als die progressive Antwort auf die in seinen Augen reaktionar gewordene Tonalitat interpretierte und auch selbst Stucke mittels der Zwolftontechnik komponierte. Allerdings war sein Umgang mit den Zwolftonreihen nie so strikt wie etwa bei Schonberg, sondern er verteidigte, auch theoretisch, eine gewisse kunstlerische Freiheit, die er durch einen allzu orthodoxen Umgang mit der Zwolftontechnik in Gefahr geraten sah. So erweiterte er z. B. fur die Vertonung des Trakl-Gedichts Entlang (op. 5, Nr. 4) die Tonreihe auf 98 Tone. [19] Im Ubrigen beriet Adorno Thomas Mann fur seinen Roman Doktor Faustus musikalisch, insbesondere hinsichtlich der musiktheoretischen Reflexionen uber die Zwolftonmusik bzw. -technik. [20]

Spatere Entwicklungen

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Die regelhafte Zwolftontechnik

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Eine regelhafte Kodifizierung der um 1920 entstandenen Zwolftontechnik ist nicht vor den vierziger Jahren fassbar. Von den ?klassischen“ Komponisten der Zwolftontechnik (Schonberg, Berg, Webern) hat nur Schonberg einen theoretischen Beitrag zur Erklarung der Technik geliefert. Sein erstmals 1935 an der University of Southern California gehaltener Vortrag Composition With Twelve Tones wird von Vertretern der regelhaften Zwolftontechnik allerdings als ?zumindest enttauschend“ [21] empfunden. Nach Schonbergs Emigration im Jahr 1933 und dem Beginn seiner Lehrtatigkeit in den USA verbreitete sich die Zwolftontechnik an amerikanischen Hochschulen, wo sie sehr bald zu einer in hohem Maß verschulten Satztechnik geworden zu sein scheint. Daruber hinaus beriet Schonberg in seinen letzten beiden Lebensjahren Josef Rufer bei der Abfassung von dessen 1952, ein Jahr nach Schonbergs Tod, erschienenem Buch Die Komposition mit zwolf Tonen  ? in einem allerdings nicht mit letzter Genauigkeit bestimmbaren Umfang; Schonberg war nach dem Krieg nicht nach Europa zuruckgekehrt, Rufer andererseits nie emigriert. Neben Rufers Buch waren es die Schriften von Rene Leibowitz ( Schonberg et son ecole 1946, Introduction a la musique de douze sons 1949), in zweiter Linie auch die Lehrbucher von Herbert Eimert und Hanns Jelinek , die das bis heute in Allgemeinen Musiklehren und Nachschlagewerken verbreitete Bild von der Zwolftontechnik als einer in erster Linie regelhaften Anordnungsanweisung fur Noten pragten.

Die Regelsysteme zum Ausgangspunkt einer akademischen Kompositionsweise geworden, die, abgesehen von unzahligen Nachfolgern in Europa nach 1945, vor allem um die Mitte des 20. Jahrhunderts an den Hochschulen Nordamerikas verbreitet war. Glenn Gould hat in einem 1974 geschriebenen Aufsatz diese Atmosphare der Zwolfton-Orthodoxie charakterisiert. 1953 war der in die USA emigrierte Ernst Krenek ? als Osterreicher und als bekannter Komponist eine Kapazitat auf dem Gebiet der Zwolftonkomposition ?, zur Abhaltung einer Meisterklasse an das Konservatorium Toronto gekommen, an dem Gould studierte.

?Ich erinnere mich, daß ich ihm einmal die Partitur von Schonbergs Klavierkonzert vorlegte, fur das ich eine Fehlerliste vorbereitet hatte ? eine Zusammenstellung von Abweichungen von der jeweils angewendeten Reihenform. ?Konnte irgendetwas davon mehr sein als ein Fluchtigkeitsfehler?‘ fragte ich. ?Ich meine, konnte irgendetwas davon moglicherweise (errot . . . stotter . . . also, das war 1953, und die meisten von uns waren verbockte Konstruktivisten) das Ergebnis von (schluck) Inspiration sein?‘
?Ich weiß auch nicht, was in Schonbergs Kopf vorgegangen ist,‘ antwortete Krenek, ?aber sehe nicht ein, warum es keine Inspiration gewesen sein sollte.‘“ [22]

Gould lasst keinen Zweifel daran, dass schon geringfugige Abweichungen von der Norm an einer nordamerikanischen Musikhochschule der funfziger Jahre fur Aufsehen sorgten.

Mathematische Ansatze

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1966 erschien der Aufsatz Zur Theorie einiger Reihen-Kombinationen von Eberhardt Klemm . Klemm ersetzt in der Grundreihe aus Schonbergs Violinkonzert op. 36 die Tone durch Zahlen: den Anfangston a durch die 0, die weiteren Tone durch die Zahl der Halbtone, die sie uber dem Anfangston stehen (das folgende b also durch eine 1, den dritten Ton es durch eine 6 usw.).

?Diese Zahlenreihe ist eine andere Anordnung, algebraisch ausgedruckt eine Permutation der Zahlen 0, 1, ..., 11, welche als die ?reduzierten Reprasentanten nach dem Modul 12‘ anzusehen sind. [23]

Es folgt eine Reihe algebraischer Transformationen. Klemm bezieht sie nur sporadisch auf real komponierte Strukturen, und der Bezug zu vom Komponisten moglicherweise intendierten kunstlerischen Aussagen bleibt locker. ≫In der vorliegenden Studie geht es weniger um die Beschreibung kompositorischer Sachverhalte als um theoretische Einsichten in die Struktur der Zwolftonreihen.≪ [24]

Klemms Ansatz steht im Zusammenhang mit einem starken Interesse an mathematischen Analysemethoden, das durch die zweite Halfte des 20. Jahrhunderts anhielt und sich mit dem gesamten verfugbaren Musikrepertoire nicht nur der westlichen Welt befasste. Durchgesetzt hat sich aber die Mitte der sechziger Jahre von Allen Forte begrundete Theorie der pitch class sets , die mehrfach auf Werke der Wiener Schule angewendet wurde.

Durch ihre Affinitat zur Algebra ist die regelhafte Zwolftontechnik das fruheste Beispiel fur moderne Kompositionsmethoden, in der kompositorische Entscheidungen nicht durch das Gehor, sondern mithilfe mathematischer Verfahren gefallt werden. Inwieweit einzelne Komponisten, die zur Definition von Tonhohenfolgen mehr oder weniger komplizierte mathematische, aber deshalb nicht unbedingt serielle Verfahren verwendeten ? vor allem Iannis Xenakis , aber (teilweise) auch Gyorgy Ligeti  ?, einer Anregung durch die Zwolftontechnik folgten oder doch eher einem durch den Aufstieg naturwissenschaftlichen Denkens gepragten Zeitgeist , wird sich schon deshalb oft nicht entscheiden lassen, weil keiner dieser Komponisten auf eine Auseinandersetzung sowohl mit der modernen Naturwissenschaft als auch mit der Zwolftontechnik verzichten konnte. Die bekannteste direkte Nachfolge der regelhaften Zwolftontechnik ist die Serielle Musik im Europa der funfziger Jahre. Ihre Vertreter ( Pierre Boulez , Karlheinz Stockhausen , Henri Pousseur und viele weitere) beriefen sich auf Anton Webern, nicht auf Schonberg. Ihre Webern-Analysen sind allerdings seit den siebziger Jahren von verschiedenen Seiten scharf kritisiert worden. In der Seriellen Musik unterliegen nicht nur die Tonhohen, sondern auch alle anderen Parameter des musikalischen Satzes, wie Tondauer, Lautstarkeangaben, Artikulation usw. der Organisation in voneinander unabhangigen Reihen. Die Zahl Zwolf spielt nur fur die Ordnung der chromatischen Tone noch eine Rolle. Vor allem die rhythmischen Verhaltnisse geraten dabei aufgrund intrikater Zahlenverhaltnisse oft in die Gefahr sowohl der vollstandigen Unausfuhrbarkeit als auch der Unuberprufbarkeit durch den Komponisten. Fur die Vereinigten Staaten ist Milton Babbitt Pionier der seriellen Musik. Babbitt beschrieb erstmals systematisch das auch fur die Reihe von op. 33a gultige Phanomen der Hexachordkomplementaritat, welches er unter dem Begriff Combinatoriality als konstruktives Prinzip eines seriellen Tonsatzes etablierte. [25]

chronologisch

  • Arnold Schonberg: Harmonielehre. Wien 1911.
  • Anton Webern: Der Weg zur Neuen Musik (16 Vortrage 1932). Universal Edition, Wien 1960.
  • Arnold Schonberg: Stil und Gedanke. In: Gesammelte Schriften 1. Stil und Gedanke, Aufsatze zur Musik. Hg. von Ivan Vojtech. Frankfurt am Main 1976. (Auch als Fischer Taschenbuch, 1992) Darin vor allem:
    • Brahms der Fortschrittliche. Vortrag vom 12. Februar 1933 im Frankfurter Rundfunk (liegt nicht mehr vor), englische Fassung datiert vom 28. Oktober 1947 (Brahms the Progressive) .
    • Komposition mit zwolf Tonen. Vortrag gehalten zuerst 1935 in der University of Southern California (Composition With Twelve Tones) .
  • Rene Leibowitz: Schoenberg et son ecole (1947). Janin, Paris 1947.
  • Rene Leibowitz: Introduction a la musique de douze sons (1949). L’Arche, Paris 1949.
  • Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik. Tubingen 1949.
  • Ernst Krenek: Studies in Counterpoint (1940), deutsch: Zwolfton-Kontrapunkt-Studien. Schott, Mainz 1952.
  • Herbert Eimert: Lehrbuch der Zwolftontechnik . Breitkopf & Hartel, Wiesbaden 1952.
  • Josef Rufer: Die Komposition mit zwolf Tonen. Berlin/Wunsiedel 1952.
  • Luigi Nono: Die Entwicklung der Reihentechnik. In: Darmstadter Beitrage zur neuen Musik. Mainz 1958.
  • Gyorgy Ligeti: Die Komposition mit Reihen. In: Osterreichische Musikzeitschrift. Nr. XVI, Wien 1961.
  • Eberhard Klemm: Zur Theorie einiger Reihen-Kombinationen. In: Archiv fur Musikwissenschaft . XXIII, 1966 S. 170?212.
  • Hanns Jelinek: Anleitung zur Zwolftonkomposition (1952?58), 2 Teile in 4 Banden. Wien 1967 (= UE. 1967 2teA).
  • Michael Beiche: Artikel Zwolftonmusik im Handworterbuch der musikalischen Terminologie , herausgegeben von Hans Heinrich Eggebrecht (jetzt: Albrecht Riethmuller). Steiner, Wiesbaden 1971 ff. ( Digitalisat ).
  • Eberhard Freitag: Schonberg . Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1973.
  • Arnold Schonberg. Gedenkausstellung 1974 (Katalog, Redaktion Ernst Hilmar) Universal Edition, Wien 1974.
  • Christian Mollers: Reihentechnik und musikalische Gestalt bei Arnold Schonberg. Eine Untersuchung zum III. Streichquartett op. 30 (=  Beihefte zum Archiv fur Musikwissenschaft , Band XVIII). Wiesbaden 1977.
  • Rudolf Stephan:  Zwolftonmusik. In: Ludwig Finscher (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart . Zweite Ausgabe, Sachteil, Band 9 (Sydney ? Zypern). Barenreiter/Metzler, Kassel u. a. 1998, ISBN 3-7618-1128-4  ( Online-Ausgabe , fur Vollzugriff Abonnement erforderlich)

Zur Aufschlusselung der Kurztitel vgl. die Literaturliste

  1. Arnold Schonberg: Stil und Gedanke. Fischer, Frankfurt a. M. 1995 S. 75.
  2. Joseph Matthias Hauer . In: Riemann Musiklexikon . Schott-Mainz, 2012, Band 4, S. 343.
  3. zitiert nach der Taschenbuchausgabe: Stil und Gedanke , S. 110
  4. vgl. das Faksimile von Schonbergs Reihentabelle zum 4. Streichquartett in: Arnold Schonberg. Gedenkausstellung 1974 (Katalog, Redaktion Ernst Hilmar) Universal Edition, Wien 1974, S. 150 (Erlauterung S. 339).
  5. Arnold Schonberg: Stil und Gedanke. Aufsatze zur Musik hg. von Ivan Vojtech, S.Fischer-Verlag Bayern 1976 (= Gesammelte Schriften 1). Die Ausgabe enthalt außer Stil und Gedanke unter der Uberschrift Aufsatze zur Musik noch weitere Texte aus dem Umkreis der ursprunglichen Sammlung. Der 1992 im Fischer Taschenbuch Verlag erschienene Band Stil und Gedanke , der nur die ursprungliche Sammlung als Nachdruck der Gesammelten Schriften bringt, korrigiert stillschweigend einige Fehler, leider ohne Nachweis, ob dafur das Original erneut konsultiert wurde.
  6. Die deutsche Urfassung, vermutlich 1933 im Frankfurter Rundfunk gesendet, wurde erst nach dem Erscheinen der Gesammelten Schriften wiederaufgefunden und 1990 gedruckt in: Festschrift Rudolf Stephan zum 65. Geburtstag , Laaber-Verlag, Laaber 1990; sowie in: Albrecht Dumling: Verteidigung des musikalischen Fortschritts. Brahms und Schonberg , Argument Verlag, Hamburg 1990 (nach der Anmerkung der Taschenbuchausgabe von Stil und Gedanke ).
  7. Es fehlt dementsprechend in der deutschen Taschenbuchausgabe, ist aber in den Gesammelten Schriften , Band 1, enthalten.
  8. Komposition mit zwolf Tonen (Typoskript) Gesammelte Schriften , Band 1, S. 380
  9. Josef Rufer (Hrsg.): Harmonielehre . 7. Auflage. 1966, S. 142 f.
  10. Um der deutlicheren Lesbarkeit willen ist die Enharmonik verandert.
  11. Komposition mit zwolf Tonen (Vortrag) Taschenbuchausgabe S. 111
  12. Komposition mit zwolf Tonen (Vortrag) Taschenbuchausgabe S. 118 f.
  13. Komposition mit zwolf Tonen (Vortrag). Taschenbuchausgabe S. 108
  14. Structural Functions of Harmony , posthum erschienen 1954.
  15. Komposition mit zwolf Tonen (Vortrag). Taschenbuchausgabe S. 109 f.
  16. Komposition mit zwolf Tonen (Vortrag). Taschenbuchausgabe S. 117
  17. Komposition mit zwolf Tonen (Vortrag). Taschenbuchausgabe S. 119
  18. Komposition mit zwolf Tonen (Typoskript). In: Gesammelte Schriften Band 1 S. 381
  19. Stefan Muller-Doohm: Adorno. Eine Biographie .
  20. Gerhard Schweppenhauser : Theodor W. Adorno zur Einfuhrung .
  21. Klemm S. 171.
  22. ubersetzt nach: A Festschrift for “Ernst Who???” . In: Tim Page (Hrsg.): The Glenn Gould Reader . New York 1984, S. 189
  23. Klemm S. 173. Die Kurzungspunkte stehen im Original.
  24. Klemm S. 170.
  25. Andrew Mead : An Introduction to the Music of Milton Babbitt. Princeton University Press, Princeton 1994 S. 20?38.