Ein
Zeichentrickfilm
ist eine Spezialform der
Animation
und besteht aus vielen, meist per Hand hergestellten Zeichnungen, die zeitlich nacheinander prasentiert werden. Durch geringfugige Anderung des Inhalts, von Bild zu Bild, entsteht beim Betrachter der Eindruck, dass es sich um ein
Bewegtbild
handelt.
Die technisch einfachste Art, den Effekt eines Zeichentrickfilms zu erzeugen, ist das Durchblattern eines
Daumenkinos
.
Die ersten gezeichneten Filme schuf der
Franzose
Emile Reynaud
, mit Hilfe des von ihm entwickelten
Praxinoskops
. Um 1877 stellte er mit diesem Verfahren, das als Vorlaufer der
Kinematographie
galt, seine ersten animierten Bilder vor. 1906 gilt als das Geburtsjahr des Zeichentrickfilms, als der
US-Amerikaner
J. Stuart Blackton
mit
Humorous Phases of Funny Faces
seinen ersten vollstandig animierten Film prasentierte. Zwei Jahre spater veroffentlichte der Franzose
Emile Cohl
seine ersten Zeichentrickfilme, die er direkt auf Filmstreifen zeichnete.
Besonders popular wurden die Filme des
Karikaturisten
Winsor McCay
, der 1911 seine
Comicreihe
Little Nemo
in einem Kurzfilm umsetzte und 1914 mit
Gertie the Dinosaur
die erste populare Zeichentrickfigur schuf. Infolgedessen entstanden Anfang der 1920er Jahre viele Studios, deren bekannteste die von
Max Fleischer
(
Koko der Clown
,
Betty Boop
,
Popeye
), Pat Sullivan (
Felix the Cat
),
Bud Fisher
(
Mutt and Jeff
) und
Walt Disney
(
Micky Maus
)
waren. In diesen Studios wurde das arbeitsteilige System von Spezialisten entwickelt, welches bis heute besteht, und den bis dahin allein arbeitenden Animator abloste.
Der erste Animationsfilm in Spielfilmlange war der in Argentinien von
Quirino Cristiani
geschaffene Film ?
El Apostol
“ aus dem Jahr 1917; jedoch handelte es sich dabei nicht um Zeichentrick, sondern um einen
Flachfigurenfilm
. Bei einem Brand im Jahr 1926 wurden samtliche Kopien des Films zerstort. In Europa wurde mit dem schwedischen ?Kapitan Grogg“ eines der fruhen Werke des Zeichentrickfilms geschaffen. In Deutschland wirkten Rudolf Leonard, Otto Dely sowie
Lotte Reiniger
, die mit ihren
Silhouetten-Animations
-Filmen große Popularitat erlangten. In Osterreich waren
Ladislaus Tuszy?ski
und
Peter Eng
die ersten Trickfilmzeichner.
[1]
In den Anfangen wurden die Zeichnungen noch direkt auf den Film gezeichnet. Kurze Zeit spater wurde dieser Prozess durch ein leicht verbessertes Verfahren abgelost, bei dem die Papierblatter mit den Zeichnungen unter die Kamera gelegt und aufgenommen wurden. Etwa ab 1920 wurden die Zeichnungen auf Folien (?
Cels
“) ubertragen, welche es ermoglichten, die Animation mit aufwendigen Hintergrunden zu kombinieren. 1928 kam der Ton hinzu, ab 1930 die Farbe (in dem
Revuefilm
King of Jazz
mit dem Orchester
Paul Whiteman
). 1933 entwickelte der Erfinder und Zeichner
Ub Iwerks
, der bis 1930 fur Disney gearbeitet hatte, die
Multiplan-Kamera
, mit der flache Hintergrundelemente auf verschiedenen Ebenen unabhangig voneinander bewegt werden konnten, und so einen raumlicheren Eindruck erzeugten. In den 1950er Jahren adaptierte Iwerks das Xerox-Kopiersystem, welches die Zeichnungen direkt auf Folie kopierte. Die glatten per Hand ?geinkten“ Umrisslinien wurden von einem viel raueren Bleistiftstrich abgelost. Stephen Bosustov entwickelte bei
UPA
einen neuen, grafisch orientierten Stil mit weniger Details, der besser fur das neue Medium Fernsehen geeignet war. In der Folge entwickelten er und andere Studios die ?Limited Animation“. Um nicht standig komplette Figuren neu zeichnen zu mussen, wurde eine Figur so auf mehrere Ebenen verteilt, dass nur noch die sich tatsachlich bewegenden Teile neu gezeichnet werden mussten. Diese von Kritikern beklagte Entwicklung war vor allem dem geringen Budget des Fernsehens geschuldet.
Der Computer zog relativ spat in die Zeichentrickwelt ein. Zuerst in den Kameraraum, wo ungefahr ab 1970 Kamerafahrten vom Rechner kalkuliert und ausgefuhrt wurden. In den 1990er Jahren ersetzte das Einscannen das fruhere Kopieren der Zeichnungen; nachfolgende Arbeitsschritte wie Kolorieren und Kamera fanden jetzt im Computer statt. Heutige Produktionssysteme in großen Studios automatisieren moglichst viele Arbeitsgange, aber immer noch ist ein Zeichentrickfilm vor allem eine handwerkliche Arbeit, die entweder mit Bleistift und Papier oder auf einem
Grafiktablett
ausgeubt wird. An einem abendfullenden Zeichentrickfilm arbeiten etwa 20 bis 400 Menschen und es werden mehrere zehntausend Zeichnungen angefertigt.
Neuere Entwicklungen integrieren haufig auch dreidimensional am Computer erstellte Objekte, die hauptsachlich fur Fahrzeuge oder sich bei Kameraschwenks bewegende Objekte eingesetzt werden. Aber auch bei Charakteren werden teilweise
Computeranimationen
eingesetzt, die beispielsweise realistisch fallendes Haar ermoglichen, sich aber in die klassisch erstellten Zeichnungen integrieren.
Der klassische Arbeitsablauf großer Studios beginnt mit einem Drehbuch und dem Entwurf der handelnden Figuren. Das
Drehbuch
ist Grundlage fur das
Storyboard
, in dem fur jede Einstellung mindestens eine Zeichnung steht, aus der Kameraeinstellung, Bewegung der Figuren und Art des Hintergrundes erkennbar sind. Nach dem Storyboard werden
Layouts
gezeichnet, und zwar in der Große, in der sowohl
Animatoren
wie Hintergrundkunstler arbeiten. Fur jede Figur existiert ein
Model Sheet
einschließlich einer
Figurine
, die die verbindlichen Vorlagen fur alle Zeichner darstellen.
Ublicherweise werden, wenn das Drehbuch komplett ist, die Dialoge der Figuren aufgenommen. Ein
Trackreader
(heutzutage oft eine Software) ubertragt sie Laut fur Laut in die X-Sheets (?
exposure sheets
, auch dope sheet“). Das X-Sheet ist ein einzelbildgenaues Drehbuch fur jede einzelne Einstellung (die im Animationsbereich ?Szene“ genannt wird), das fur den Animator und den Kameramann verbindlich ist. Pro Einzelbild enthalt es eine Zeile, in der eingetragen wird, welcher Laut gerade zu horen ist und welche Zeichnungen unter die Kamera gelegt werden sollen. Außerdem werden samtliche Kamerabewegungen festgehalten.
Der Animator erhalt das Storyboard, die notigen Modelsheets, eine Kopie des Layouts und das X-Sheet. Er entwirft nun mit einigen skizzenhaften Zeichnungen das Gerust der Animation, die
Schlusselbilder
(engl.
Keyframes
) oder Hauptphasen. Das sind jene Zeichnungen, die die Bewegung definieren. Um seine Arbeit zu uberprufen, nimmt er sie mit dem
linetester
auf, einer Software, die per Videokamera aufgenommene Zeichnungen auf einem Rechner abspielt. Dabei kann er jede Zeichnung so lange in der Zeit verschieben, bis das Timing passt. Sind der Animator und der Regisseur mit der Szene zufrieden, geht die ?
rough animation
“ zum Assistenten des Animators. Der zeichnet die ?cleanups“, also Reinzeichnungen der Schlusselbilder, getreu nach den Vorgaben des Modelsheets, und fugt evtl. ?
breakdowns
“ hinzu. Das sind Zeichnungen zwischen den Schlusselbildern, die die Bewegung noch genauer definieren. Der wachsende Stapel Papier gelangt nun zum
Inbetweener
oder Zwischenphasenzeichner, der die immer noch fehlenden Zeichnungen zwischen die bereits existierenden einfugt.
Fur normale Bewegungen genugen 12 Zeichnungen pro Sekunde Film. Bei extrem schnellen Bewegungen oder Bewegungen quer durchs Bild braucht es bis zu 24 Zeichnungen, damit die Abstande zwischen den Positionen nicht so groß werden und die Bewegungsillusion nicht zerstort wird. Bei Studios wie Disney liegt der Durchschnitt bei etwa 18 Zeichnungen pro Sekunde. TV-Serien kommen stellenweise mit 6 Zeichnungen pro Sekunde aus. Im Laufe der Jahre wurden viele Techniken entwickelt, um Zeichnungen zu sparen, und die Bewegungsillusion statt durch Anfertigung vieler Zeichnungen durch die Wahl der Bildausschnitte, Schnitte oder Kamerafahrten uber Standbilder zu erzeugen.
Des Weiteren ist es ublich, die Zeichnungen in verschiedene Ebenen aufzuteilen: In Dialogszenen wird zum Beispiel nur die Mundbewegung animiert, der Korper jedoch nur wenig. Auch werden oft Zeichnungen wiederverwendet. In einer Dialogszene wird zum Beispiel der Korper in einer Schleife animiert, um eine naturliche Bewegung zu simulieren. Dieses Aufteilen in Ebenen wird normalerweise durch den Keyanimator vorgenommen. Daher hat das X-Sheet zwar eine Zeile pro Belichtung, aber mehrere Spalten fur die verschiedenen Ebenen.
Sind samtliche Zeichnungen vorhanden und ist die Szene mehrfach getestet und abgenommen, kann sie koloriert werden. Fruher wurden samtliche Zeichnungen auf Folie ubertragen oder kopiert und diese dann per Hand auf der Ruckseite ausgemalt. Heutzutage findet das Kolorieren immer mehr im Computer statt. Der
Colorist
arbeitet am Bildschirm an den eingescannten Zeichnungen. Animationssoftware kann dabei viel automatisieren, per Hand wird beispielsweise nur noch das erste Bild einer Szene koloriert, dann koloriert der Computer alle weiteren Phasen, und schließlich werden nur noch eventuelle Fehler per Hand korrigiert.
In der Zwischenzeit werden die Hintergrunde gemalt. Fruher trafen sich die Hintergrunde mit den bemalten Folien unter der Kamera wieder, heute werden auch sie eingescannt oder sogar ganz am Computer gemalt. Das Zusammenstellen (
Compositing
) der verschiedenen Teile der Animation uber dem Hintergrund bietet Gelegenheit, noch Spezialeffekte einzufugen. Sind alle Einzelteile eingefugt, wird die Szene
gerendert
und entweder digital gespeichert oder auf Film ausbelichtet.
Fur sich wiederholende Bewegungen oder Ablaufe werden
Endlosschleifen
oder Animationszyklen erstellt. Beispiele hierfur sind Fließbewegungen in Gewassern, laufende oder fliegende Tiere oder sich bewegende Fahrzeuge, die vor einen sich andernden Hintergrund gelegt werden. Im Falle einer schreitenden Vorwartsbewegung wird die Figur animiert, einen Schritt mit dem einen Fuß, dann einen Schritt mit dem anderen Fuß zu machen und dieses dann in einen
Loopzyklus
gesetzt, so dass die Bewegungen sich nahtlos aneinanderreihen.
Die
Produktion
von abendfullenden Zeichentrickfilmen furs Kino ist seit 2004 zuruckgegangen. Der Erfolg von
Pixar
und anderen Produzenten von
CGI
-Animationsfilmen bewog das Management der
Walt Disney Company
, keine klassischen Zeichentrickfilme mehr zu produzieren.
Die Kuhe sind los
(2004) sollte der vorlaufig letzte Kino-Zeichentrickfilm der Disney-Studios sein. Mit
Kuss den Frosch
kehrte Disney 2009 jedoch zum klassischen Zeichentrickfilm zuruck. Auch andere Studios sind von der Umorientierung ihrer Geldgeber weg vom 2-D, hin zum 3-D-Film betroffen, obwohl der wirtschaftliche Erfolg Pixars eher in seiner inhaltlichen und kunstlerischen Virtuositat begrundet liegt. Nachdem Disney Pixar fur 7,4 Milliarden US-Dollar ubernommen hat, entschied
John Lasseter
als neuer kunstlerischer Leiter Disneys, diese Managemententscheidung ruckgangig zu machen.
Weltweit werden weiterhin lange Zeichentrickfilme, vor allem aber Fernsehserien produziert. Disney selbst betreibt Studios in Japan und Australien, die in klassischer Technik hauptsachlich fur den wachsenden Home-Video-Markt arbeiten. In Japan (
Studio Ghibli
), Korea (
SEK Trickfilmstudios
in
Nordkorea
), Taiwan und China wachst die Trickfilmindustrie, die entweder als Zulieferer fur europaische und amerikanische Firmen arbeitet oder mit Produktionen in Eigenregie vor allem den heimischen Markt beliefert. Herausragende kunstlerische Personlichkeiten wie
Hayao Miyazaki
verweigern sich grundsatzlich dem 3-D-Boom: ?Wir benutzen die Technik, die grafisch am besten aussieht. Und
Handzeichnungen
sind dazu immer noch die geeignetste Methode.“
In Europa werden dank des
Cartoon-Programms
der EU in den letzten Jahren verstarkt abendfullende Zeichentrickfilme hergestellt, die meisten davon fur Kinder. Durch die Fortschritte der computergestutzten Produktion verschwimmen die Grenzen zwischen 2D und 3D zusehends, entscheidend fur die Wahl eines Produktionsdesigns sind nicht mehr so sehr die Kosten, sondern hauptsachlich kunstlerische und Marketing-Grunde.
- Matthias C. Hanselmann:
Der Zeichentrickfilm. Eine Einfuhrung in die Semiotik und Narratologie der Bildanimation.
Schuren, Marburg, 2016.
ISBN 978-3-89472-991-2
.
- Walt Disney, Bob Thomas, Paul Hartley:
Die Kunst des Zeichenfilms.
Bluchert, Hamburg 1960,
DNB
450148025
.
- Frank Thomas
,
Ollie Johnston
:
Disney Animation. The Illusion of Life
. Abbeville Press, New York 1981,
ISBN 0-89659-698-2
.
- Rolf Giesen
(Hrsg.):
Das große Buch vom Zeichenfilm.
Comicaze Verlagsgesellschaft, Berlin 1982,
ISBN 3-923266-00-6
.
- Leonard Maltin
:
Der klassische amerikanische Zeichentrickfilm.
(OT:
Of Mice and Magic
). Heyne, Munchen 1991,
ISBN 3-453-86042-X
.
- Jerry Beck (Hrsg.):
The 50 Greatest Cartoons. As Selected by 1000 Animation Professionals
. JG Press / Layla, North Dighton 1998,
ISBN 1-57215-271-0
.
- Rolf Giesen:
Lexikon des Trick- und Animationsfilms. Die große Welt der animierten Filme.
Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 2003,
ISBN 3-89602-523-6
.
- ↑
S. Walter Fischer:
Technisches.
In: L’Estrange Fawcett:
Die Welt des Films.
Amalthea-Verlag, Zurich, Leipzig, Wien 1928, S. 213.