Wladimir Nikolajewitsch Tschelomei
(
russisch
Владимир Николаевич Челомей
, * 17. Juni
jul.
/
30. Juni
1914
greg.
in
Siedlce
,
Russisches Kaiserreich
, heute
Polen
; †
8. Dezember
1984
in
Moskau
) war ein
sowjetischer
Konstrukteur von
Lenkwaffen
und
Raketen
.
Wladimir Tschelomei wurde in der kleinen
masowischen
Stadt Siedlce in eine Lehrerfamilie geboren. Als er drei Monate alt war, zog die Familie wegen des Ersten Weltkriegs nach
Poltawa
, als er zwolf Jahre alt war, nach
Kiew
.
1932 wurde er fur das
Polytechnische Institut Kiew
zugelassen, wo er herausragende Leistungen zeigte. Schon 1936 veroffentlichte er sein erstes Buch uber
Vektoranalysis
. 1937 schloss er das Studium mit Auszeichnung ab und wechselte an die
Akademie der Wissenschaften der Ukrainischen SSR
, wo er 1939 den Titel
Kandidat der Wissenschaften
erhielt und anschließend als Wissenschaftler im Institut fur
angewandte Mathematik
in der Akademie arbeitete.
1941 wechselte Tschelomei an das
Zentralinstitut fur Flugmotoren ?P. I. Baranow“
(ZIAM) in Moskau, wo er als Wissenschaftler und als Dozent fur Mechanik und Luftfahrtantriebstheorie arbeitete. Ein Stipendium ermoglichte ihm die
Dissertation
und 1942 wurde Tschelomei Leiter der Abteilung fur
Strahltriebwerke
.
Zusammen mit einigen Mitarbeitern konstruierte Tschelomei das erste sowjetische
Pulsstrahltriebwerk
, das allerdings mit der Leistung und der Larmentwicklung hinter den Erwartungen zuruckblieb.
Am 14. Juni 1944 wurde Tschelomei zum Verantwortlichen der Flugzeugindustrie,
Georgi Malenkow
, in den
Kreml
gerufen. Man zeigte ihm eine erbeutete deutsche
Fieseler Fi 103
(V1), die den Sowjets von den Briten ubergeben worden war. Malenkow wollte wissen, ob dieser Flugkorper nachgebaut werden konne. Nachdem Tschelomei dies zusagte, wurde ihm die Leitung einer neuen Abteilung mit 100 Mitarbeitern am
Zentralinstitut fur Flugmotoren
ubertragen. Im Herbst 1944 wurde Tschelomei zum Chefkonstrukteur des
Konstruktionsburo
(OKB) 51 mit angeschlossenem Werk ernannt, das davor vom kurz zuvor verstorbenen Konstrukteur
Nikolai Polikarpow
geleitet worden war. Im Dezember 1944 hatte Tschelomei die deutsche V1 nachgebaut und arbeitete an einer Weiterentwicklung, die die Bezeichnung 10ch (
russisch
10X
) erhielt. Sie sollte von
Bombern
des Typs
Pe-2
,
Tu-2
und
Tu-4
getragen und mehrere hundert Kilometer vor dem Ziel ausgeklinkt werden. Die Erprobung begann im Dezember 1944. Anfang 1945 war die Waffe einsatzbereit. 1947 wurde die 10X auf dem Flugtag in
Tuschino
vorgefuhrt.
Der
Volkskommissar
fur die Flugzeugindustrie
Alexei Schachurin
behauptete in seinen Erinnerungen, dass die gefechtsbereiten Staffeln nicht eingesetzt wurden, um den deutschen V-Waffen-Einsatz gegen die britische Zivilbevolkerung nicht mit Gleichem zu vergelten.
[1]
In den ersten Jahren der Nachkriegszeit wurde Tschelomei Opfer verschiedener politischer Intrigen. Minister
Anastas Mikojan
setzte sich dafur ein, die Konstruktion von sowjetischen Marschflugkorpern dem Konstruktionsburo
OKB-155 Mikojan-Gurewitsch
(MiG) zu ubertragen, das von seinem Bruder
Artjom Mikojan
geleitet wurde. Auch Geheimdienstchef
Lawrenti Beria
hatte personliche Interessen an dieser Entscheidung, weil sein Sohn Sergei dort beschaftigt war.
Dies fuhrte dazu, dass im Februar 1953 Tschelomeis Bereich in Mikojans OKB-155 eingegliedert wurde. Tschelomei verlor seinen Posten als Chefkonstrukteur und wurde Professor an der
Staatlichen Technischen Universitat Moskau ?N. E. Bauman“
.
Nach
Stalins
Tod im Marz 1953 wurde Georgi Malenkow zunachst der machtigste Mann der UdSSR. Er erinnerte sich an den jungen Konstrukteur und forderte ihn. Am 8. Juni 1954 wurde Tschelomei Leiter der Spezialabteilung 10 (SKG-10) der Fabrik 500 in
Tuschino
bei Moskau. Diese Gruppe von 80 Personen arbeitete an der Entwicklung von
U-Boot-gestutzten Lenkwaffen
.
Im Sommer 1955 wurde Tschelomei Chefkonstrukteur des neu gegrundeten Konstruktionsburos
OKB-52
mit Sitz in
Reutow
bei Moskau.
Im Marz 1966 wurden einige Konstruktionsburos dem neu gegrundeten Maschinenbau-Ministerium von
Sergei Afanassjew
unterstellt. Bei dieser Umstrukturierung wurde das OKB-52 in Zentrales Konstruktionsburo fur Maschinenbau (ZKBM) umbenannt.
Eine weitere Namensanderung fur den Betrieb erfolgte 1983, als aus ZKBM ?NPO Maschinostrojenija“ mit der Kurzform ?NPO Masch“ wurde.
In den 28 Jahren, in denen Tschelomei an der Spitze des Unternehmens stand, war es ihm gelungen, sein Konstruktionsburo unter die fuhrenden der sowjetischen Rustungs- und Raumfahrtindustrie zu bringen und dort zu halten.
Er stand in standiger Konkurrenz zum Konstruktionsburo OKB-1 (spater ZKBEM und
RKK Energija
) unter der Leitung von
Sergei Koroljow
(spater
Wassili Mischin
und
Walentin Gluschko
), das wesentlich großer und besser finanziert war.
Die sowjetische Fuhrung vergab Projekte nicht immer nach technischen oder wirtschaftlichen Gesichtspunkten, sodass personliche Beziehungen und Intrigen eine große Rolle spielten. Der Aufstieg des OKB-52 war sicher der Forderung durch Malenkow und Staatschef
Nikita Chruschtschow
zu verdanken. Dessen Sohn
Sergei
arbeitete seit 1958 bei Tschelomei.
[2]
Nach Chruschtschows Sturz 1964 war die neue Fuhrung aber auch ablehnend gegenuber allem eingestellt, was Chruschtschow unterstutzt hatte. Ein gespanntes Verhaltnis bestand zwischen Tschelomei und Verteidigungsminister
Dmitri Ustinow
, der fur die Entwicklung der militarischen Raumfahrt zustandig war.
Tschelomei ging im Oktober 1983 in den Ruhestand. Im Dezember 1984 wurde er von seinem eigenen Auto erfasst, als er das Garagentor schloss. Er wurde mit einem gebrochenen Bein in ein Moskauer Krankenhaus eingeliefert, wo er am 8. Dezember 1984 an einer
Thrombose
starb. Tschelomeis Grab ist auf dem Moskauer
Nowodewitschi-Friedhof
.
Unter der Leitung von Wladimir Tschelomei wurden vielerlei Projekte entwickelt:
Marschflugkorper:
Die
P-5 Pitjorka
war die erste Lenkwaffe, die Tschelomei bei der sowjetischen Marine einfuhren konnte. Weitere erfolgreiche Typen waren
P-70 Ametist
und
P-500 Basalt
.
Wiederverwendbare Raumgleiter:
Tschelomei entwarf Ende der 1950er-Jahre einen Raumflugkorper, der senkrecht starten und waagerecht landen und gleichermaßen fur Passagier- und Frachttransport wie fur militarische Zwecke einsetzbar sein sollte. Aufgrund einer Vorgabe der Regierung und im Auftrag der
sowjetischen Luftstreitkrafte
fuhrte er dieses Konzept namens
Raketoplan
vornehmlich mit dem Ziel eines weltraumgestutzten Bombers fort.
[2]
Letztlich wurde es jedoch in keiner der angedachten Varianten verwirklicht. Neben der Raketoplan gab es den Plan zum
Kosmoplan
, einem Raumschiff das primar Missionen zum Mond, Mars und Venus absolvieren sollte, in einer "fruhen Version"
[2]
jedoch auch militarische Aufklarungseinsatze im tiefen
Orbit
. Nach Wiedereintritt in die Erdatmosphare im Innern eines spater abzuwerfenden schutzenden Konus (in der ursprunglichen Version) sollte es mit Unterstutzung von Turbojetriebwerken wie ein konventionelles Flugzeug landen. Dieses erste Konzept wurde am 13. Mai 1961 aufgegeben.
[3]
Es folgten neue Studien, genannt R-1 und R-2. Wahrend der Entwicklung der Projekte flogen zwei Testgerate zum Test von Hitzeschild-Materialien und Bremsklappen, erstens im Jahr 1961 der 1750 kg schwere "Bremssystem-Demonstrator"
[3]
MP-1
, sowie als Zweites im Jahr 1963 das
M-12
.
MP-1
war dank Pressluft im Suborbit manovrierbar und beim Wiedereintritt durch Klappen.
[4]
Die Tests lieferten auch Daten fur Sprengkopfe von Interkontinentalraketen, speziell die Form des beim Wiedereintritt verlorenen M-12 entsprach einem verkleinerten
AB-200
-Sprengkopf.
[5]
[6]
1964 kam das Ende fur die Raketoplan-Projekte, einerseits aufgrund des Wegfalls der Unterstutzung von
Chrustschow
, andererseits, weil das Buro stark ausgelastet war durch das Mond-Umflugs-Projekt
LK-1
sowie durch den Fakt, dass ein Teil der Aufgaben, fur die die Konzepte vorgesehen waren, bereits durch Satelliten ubernommen worden war.
[5]
[4]
1975 prasentierte Tschelomei die
Raumfahre LKS
(
russisch
Лёгкий Космический Самолёт
, dt. ?Leichtes Kosmos-Flugzeug“), seine Idee von einer kleineren und gunstigeren Antwort der Sowjetunion auf das US
Space Shuttle
. Jedoch wurde diese kleine Raumfahre zugunsten der großeren
Buran
verworfen. Vom LKS wurde ein
Mock-Up
in Originalgroße hergestellt.
[7]
Raketen:
Die leichte Interkontinentalrakete
UR-100
wurde in großen Stuckzahlen in der Sowjetunion stationiert. Aus der großeren UR-500 ging die
Proton-Rakete
hervor. Fur einen bemannten Mondflug wurde die UR-700, fur einen Marsflug die nuklear betriebene UR-900 entworfen, doch beide wurden nicht gefertigt.
Satelliten:
Das OKB-52 entwickelte
Poljot
, den ersten Satelliten, der in der Umlaufbahn manovrieren konnte, den Forschungssatellit
Proton
, der hochenergetische kosmische Partikel in der Erdumlaufbahn untersuchte, und einige andere Satelliten.
Raumschiffe:
Das Raumschiff LK1 wurde fur eine
bemannte Mondumrundung
entworfen. Es sollte mit einer speziellen Version der Tragerrakete
Proton
gestartet werden. Mit Wirkung vom 25. Dezember 1965 wurde das ursprungliche Umrundungsprojekt UR-500/LK-1 Tschelomeis in das Projekt UR-500/L1 uberfuhrt und ging damit in wesentlichen Teilen an das OKB-1 von
Sergei Koroljow
uber. Beim Raumschiff handelte es sich jetzt um eine spezielle Version (7K-L1) des
Sojus
-Raumschiffes. Aus dem Entwurf des LK1 leitete Tschelomei das
TKS-Raumschiff
ab. Es sollte fur die Versorgung der Almaz-Raumstationen sorgen und wurde unbemannt als Frachter fur die Raumstationen
Saljut 6
,
Saljut 7
und
Mir
eingesetzt.
Raumstationen:
Drei Exemplare der militarischen Raumstation
Almaz
wurden ins All gebracht. Weitere Exemplare wurden zu unbemannten Aufklarungssatelliten umgerustet, doch Tschelomei erlebte ihren Start nicht mehr.
Tschelomei erhielt vielerlei Ehrungen und Auszeichnungen:
Ab 1958 war Tschelomei korrespondierendes Mitglied der
sowjetischen Akademie der Wissenschaften
, ab 1962 Vollmitglied. 1974 wurde er Mitglied der
International Academy of Astronautics
.
In Moskau und Reutow wurden Straßen und Platze nach ihm benannt, außerdem tragt der 1976 entdeckte Kleinplanet
8608 Chelomey
seinen Namen.
Tschelomei war verheiratet. Sein Sohn Sergei arbeitete ebenfalls in seinem Betrieb. Er bewarb sich Ende der 1970er als Kosmonautenanwarter, bestand die medizinischen Prufungen, wurde aber nie zur Kosmonautenausbildung nominiert.
[8]
- ↑
A. I. Schachurin,
Flugel des Sieges
. Berlin 1989, S. 226.
- ↑
a
b
c
Bart Hendrikx, Bert Vis:
Energiya-Buran The Soviet Space Shuttle,
Kapitel:
The roots of Buran,
Seite 28.
ISBN 978-0-387-69848-9
- ↑
a
b
Christian Lardier, Stefan Barensky: The Proton Launcher: History and Developments, Verlag John Wiley & Sons, 2018,
ISBN 9781119510505
, Seite 79
- ↑
a
b
Anatoly Zak:
Raketoplan.
In:
RussianSpaceWeb.com.
7. Oktober 2015,
abgerufen am 2. September 2018
(englisch).
- ↑
a
b
Bart Hendrikx Bert Vis: Energiya-Buran The Soviet Space Shuttle, Kapitel:The roots of Buran Seite 30.
ISBN 978-0-387-69848-9
- ↑
Soviet SSM Warheads
, auf globalsecurity.org
- ↑
Giuseppe De Chiara:
“LKS” ? The Chelomei alternative to Buran.
(PDF; 6,4 MB) In:
forum.nasaspaceflight.com.
31. August 2012,
abgerufen am 24. Juli 2018
(englisch).
- ↑
Hall, Shayler, Vis:
Russia’s Cosmonauts
. Springer, Berlin 2005,
ISBN 978-0-387-21894-6