Die
Tragodie
(auch Trauerspiel) ist ein
Drama
, das mit dem ? oft todlichen ? Scheitern des tragischen Helden endet. Im Gegensatz zu sonstigen Formen des Dramas, die eine Handlung mit unterschiedlichen, moglichen Ergebnissen darstellen, ist bei der Tragodie das Ende durch die Ausgangskonstellation schon festgelegt: Der Held ist in unlosbare Konflikte verstrickt, und deshalb ist es gleichgultig, wie er sich entscheidet.
Neben der
Komodie
ist sie die bedeutendste Vertreterin dieser Gattung. Sie lasst sich bis in das
antike Griechenland
zuruckfuhren.
Der Begriff ?Tragodie“
Das Wort ?Tragodie“ entstammt dem
Theater der griechischen Antike
und bezeichnet einen ?Bocksgesang“ bzw. ?Gesang um den Bockspreis“ (
altgriechisch
τραγωδ?α
tragodia
). Beim
Dionysoskult
wurde ein ?
Komos
“ (
κ?μο?
k?mos
) veranstaltet, ein festlicher Straßenumzug oder eine Prozession mit Gesang, verkleidet mit Maske und Bocksfell (
τρ?γο?
tragos
?[Ziegen-]Bock“), zur Darstellung des Gottes selbst oder der ihn begleitenden
Satyrn
. So entwickelte sich die Form der Tragodie aus einem im
Chor
gesungenen
Mythos
, der Dichtung einer meist
heldischen
Vergangenheit. Die Chorpartien der erhaltenen Dramen sind
Rudimente
dieser Urform, der Dialog und die dargestellte Handlung spatere Entwicklungen, in historischer Sicht sekundar. Trager der Handlung im Drama war ursprunglich ein einziger Schauspieler, ein Sprecher, der mehrere Figuren reprasentieren konnte, indem er ihre Reden ubernahm. Erst
Aischylos
fuhrte einen zweiten Schauspieler ein. Das Chorlied entwickelte seine eigene Chorlyrik, es entstanden Spezialformen mit eigenen Bezeichnungen,
Hymne
,
Paian
,
Dithyrambus
,
Epinikion
,
Epithalamium
, und andere mehr.
Im Kontext der Tragodie bedeutet ?tragisch“ im Gegensatz zur Alltagssprache aber nicht, dass etwas sehr traurig ist, sondern dass jemand aus einer hohen Stellung ?schuldlos schuldig“ wird und damit den Sturz uber eine große ?
Fallhohe
“ (siehe
Standeklausel
) erlebt, wie zum Beispiel
Odipus
,
Orestes
,
Hamlet
oder
Maria Stuart
.
Fur
Hegel
steht nicht der
tragische Held
, sondern die tragische Kollision im Mittelpunkt der Tragodie. Der Konflikt besteht fur ihn ?nicht zwischen Gut und Bose, sondern zwischen einseitigen Positionen, von denen jede etwas Gutes enthalt“.
[1]
Walter Benjamin
unterscheidet mit Ruckgriffen auf
Franz Rosenzweig
und
Georg Lukacs
die Tradition des christlichen Trauerspiels von der griechischen Tragodie und kritisiert damit die Idee einer historischen Kontinuitat des Sagenstoffes bei
Wagner
und
Nietzsche
.
[2]
Wichtig ist, dass Walter Benjamin die Tragodie nicht mit dem Trauerspiel gleichsetzt. Nach Aristoteles ist die Tragodie die ?Nachahmung einer guten, in sich geschlossenen Handlung mit guter Sprache und Abwechslungsreichtum in der Geschichte“. Hierbei bedient sie sich mythologischer Figuren. Das Trauerspiel jedoch bedient sich geschichtlicher Figuren.
Wirkung auf den Zuschauer
Die Gattung
Tragodie
ist wesentlich durch ihre Wirkung auf den Zuschauer bestimmt. Hier unterscheiden sich die vielen Theorien uber die Tragodie. Es handelt sich dabei um ein Ubersetzungs- und Deutungsproblem der drei Begriffe
eleos
,
phobos
und
Katharsis
aus der Poetik des Aristoteles. In einer aktuellen Ubersetzung definiert Aristoteles die Tragodie wie folgt:
?Die Tragodie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Große, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden. Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer
(eleos)
und Schaudern
(phobos)
hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszustanden bewirkt.
[3]
“
Die Begriffe
eleos
und
phobos
wurden jedoch lange Zeit mit ‘Mitleid’ und ‘Schrecken’ ubersetzt. In
Gottscheds
Poetik wurden diese beiden Ubersetzungen um den Begriff ‘Bewunderung’ erweitert, den er von
Corneille
ubernommen hatte. In der Zeit der Aufklarung stellte sich
Lessing
vehement gegen diese Auslegung und verbannte den bei Aristoteles nicht vorkommenden Begriff
Verwunderung
wieder. Zudem passte die Ubersetzung von
phobos
nicht in seine Tragodienkonzeption, weshalb er das Wort umdeutete:
?Das Wort, welches Aristoteles braucht, heißt Furcht; Mitleid und Furcht, sagt er, soll die Tragodie erregen.
[4]
“
Lessings Ubersetzung wurde lange Zeit beibehalten, jedoch von der neueren Forschung teils scharf kritisiert, sodass etwa
Manfred Fuhrmann
eleos
und
phobos
die Begriffe als ‘Jammer’ und ‘Schaudern’ ubersetzt.
[5]
Noch problematischer ist der Katharsis-Begriff. Selbst bei Aristoteles ist es nicht ganz klar, wie er den Genitiv, der sich auf die Reinigung bezieht, meint. So haben wir es schließlich mit gleich drei zur Wahl stehenden Genitiven zu tun:
- dem
genitivus objectivus
(die Reinigung DER Leidenschaften im Sinn einer Intensivierung, um die tragischen Leidenschaften gegenuber anderen herauszustellen);
- dem
genitivus subjectivus
(die Reinigung VERMITTELS der Leidenschaften, verstanden als eine sittlich lauternde Verwandlung der Leidenschaften in Tugenden);
- dem
genitivus separativus
(die Reinigung VON den Leidenschaften, wobei hier wiederum drei Interpretationen moglich sind:
- a
. die Reduzierung allzu leidenschaftlicher Empfindung auf ein gesundes Mittelmaß,
- b
. die Abhartung gegen die Leidenschaften,
- c
. die Befreiung von den Leidenschaften im Sinne einer lustvollen Erleichterung).
[6]
In der Praxis werden die Gefuhle des Zuschauers einer Tragodie oft durch ein geschickt angelegtes Wechselspiel der Ereignisse zwischen der Sympathie mit dem Helden, dem Erschrecken vor dem naher ruckenden, unabanderlichen Ende und der immer wieder angeregten Hoffnung auf einen gunstigeren Ausgang hin und her gezogen. Um dieses Wechselbad der Gefuhle zu erzeugen, wenden die Autoren bestimmte Hilfsmittel an.
Eines dieser Hilfsmittel ist die Einfugung einer possenhaften Szene unmittelbar vor einem wichtigen Ereignis, um die Spannung zu entlasten (
Comic relief
). Beispiele hierfur sind der Auftritt des Leichenwachters in
Sophokles’
Antigone
oder der ubernachtigte Torwachter in
William Shakespeares
Macbeth
.
Haufig hort man zu Beginn des Spiels die Ankundigung, der ?Held“ werde sterben. Damit wird die moralische Wirkung auf den Zuschauer erhoht, denn die Ankundigung wird zwar ernst und in sich glaubwurdig vorgetragen, die weiteren Umstande der Szene bewegen den Zuschauer jedoch dazu, sich selbst zu tauschen und die Voraussage als unsinnig abzutun. Im Prolog von Shakespeares
Romeo und Julia
wird etwa schon verkundet, dass die Liebenden sterben werden, der Spannung und Dramatik des Stucks tut dies aber keinen Abbruch.
Geschichte
Antike Tragodie
→
Siehe auch:
Griechische Tragodie
Die Tragodie hat ihre Ursprunge in Griechenland und erlebte dort von 490 bis 406 v. Chr. ihre Blutezeit. Die bedeutendsten Tragodiendichter der Antike waren die Griechen
Aischylos
(525?456 v. Chr.),
Sophokles
(496?406 v. Chr.) und
Euripides
(480?406 v. Chr.). In
Die Geburt der Tragodie aus dem Geiste der Musik
vertritt
Friedrich Nietzsche
die Auffassung, dass die Tragodie aus dem rituellen Chortanz des Dionysoskultes entstanden und nach dem Tod von Sophokles und Euripides vom kritischen
sokratischen
Geist zerstort worden sei.
→
Siehe auch:
Romische Tragodie
Die romische Tragodie wurde stark von den großen griechischen Tragodiendichtern beeinflusst. Deren bedeutendste Vertreter waren
Quintus Ennius
(239?169 v. Chr.) und
Lucius Accius
(170?90/80 v. Chr.), von denen nur Fragmente uberliefert sind, sowie spater
Lucius Annaeus Seneca
(4 v. Chr.?65 n. Chr.).
Franzosische Klassik
Eine sehr große Rolle spielte die Gattung Tragodie in der Literatur der
franzosischen Klassik
des 17. und fruhen 18. Jahrhunderts. Ihre bedeutendsten Autoren waren
Pierre Corneille
,
Jean Racine
und
Voltaire
. Nach der von ihnen etablierten Praxis hatte eine Tragodie in furstlichen Kreisen zu spielen und die
drei Einheiten
der Zeit, des Ortes und der Handlung einzuhalten. Die Stoffe stammten ganz uberwiegend aus der antiken griechischen und romischen Geschichte sowie aus der Mythologie. Versmaß war in aller Regel der paarweise reimende
Alexandriner
mit ?
alternance
“ d. h. regelmaßigem Wechsel mannlicher und weiblicher Reime.
Burgerliches Trauerspiel
Im Zuge der Emanzipationsbewegung des 18. Jahrhunderts entstand das
Burgerliche Trauerspiel
, das sich vom Zwang nach adeligen Hauptpersonen entfernte und die Tragodie fur das
Burgertum
erschloss. Als man den Gedanken verwarf, dass nur der Adel die Fahigkeit zum tragischen Erleben habe, eroffneten sich auch neue Thematiken wie der Konflikt zwischen Adel und Burgertum (Friedrich Schiller,
Kabale und Liebe
) oder Konflikte innerhalb des
Standes
(
Friedrich Hebbel
,
Maria Magdalena
oder
Goethes
Faust. Eine Tragodie
).
Siehe auch
Literatur
- Walter Benjamin
:
Der Ursprung des deutschen Trauerspiels.
Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000 (zuerst Berlin 1928).
- Ralf Bogner, Manfred Leber
:
Tragodie. Die bleibende Herausforderung
.
Saarbrucken: universaar 2011,
ISBN 978-3-86223-026-6
.
- Fritz Bruggemann
:
Die Anfange des burgerlichen Trauerspiels in den Funfziger Jahren
; Leipzig, 1934; Unveranderter reprografischer Nachdruck Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1976,
ISBN 3-534-02920-8
- Klassische Texte zur Tragik
. Parodos, Berlin 2006,
ISBN 3-938880-03-1
.
- Heinrich Duntzer
:
Goethes Ansicht uber das Wesen der Tragodie.
Goethe-Jahrbuch
, Band 3 (1882), S. 132?158:
Digitalisat
- Werner Frick
(Hrsg.):
Die Tragodie. Eine Leitgattung der europaischen Literatur.
Gottingen: Wallstein, 2003.
- Hans-Dieter Gelfert
:
Die Tragodie. Theorie und Geschichte.
Gottingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1995.
- Walter Kaufmann
:
Tragodie und Philosophie.
J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tubingen 1980,
ISBN 3-16-942682-6
(zuerst New York 1969).
- Joachim Latacz
:
Einfuhrung in die griechische Tragodie.
Gottingen 1993, zweite, durchgehend aktualisierte Auflage 2003. (Auch in turkischer Sprache, 2006),
ISBN 978-3-8252-1745-7
.
- Friedrich Nietzsche
:
Die Geburt der Tragodie aus dem Geiste der Musik Oder: Griechenthum und Pessimismus
.
Reclam, Stuttgart 1993,
ISBN 3-15-007131-3
.
- Ulrich Profitlich
(Hg.):
Tragodientheorie. Texte und Kommentare. Vom Barock bis zur Gegenwart.
Rowohlt, Hamburg 1999,
ISBN 3-499-55573-5
.
- Gustav Adolf Seeck
:
Die griechische Tragodie
. Reclam, Stuttgart 2000,
ISBN 3-15-017621-2
.
- Peter Szondi
:
Versuch uber das Tragische.
Erstausgabe 1961, ND in: ders.,
Schriften I
, Neuauflage: Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996,
ISBN 3-518-27819-3
.
- Peter Szondi
:
Die Theorie des burgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert
. Suhrkamp 1973,
ISBN 3-518-07615-9
.
- Dieter Teichert
:
Praktische Vernunft
, Emotion und Dilemma ? Philosophie in der Tragodie
, in: C. Schildknecht, D. Teichert (eds.): Philosophie in Literatur, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1996, 202?229.
- Benno von Wiese
:
Die deutsche Tragodie von Lessing bis Hebbel.
2 Bande. Hoffmann und Campe, Hamburg 1948; Neuauflage 1961.
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑
Walter Kaufmann:
Tragodie und Philosophie.
J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) Tubingen 1980, S. 223.
ISBN 3-16-942682-6
(zuerst New York 1969)
- ↑
Walter Benjamin:
Der Ursprung des deutschen Trauerspiels
Suhrkamp Frankfurt am Main 2000 (zuerst Berlin 1928)
- ↑
Poetik
Kap. 6, 1449b24ff., Ubersetzung von Manfred Fuhrmann. Die Zitate wurden der
aktuellen Rechtschreibung
angepasst.
- ↑
Lessing,
Hamburgische Dramaturgie
78.
- ↑
Vgl. Fuhrmann,
Nachwort
S. 161?163.
- ↑
Dressler 1996, S. 84ff.