Tradition

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Beispiel einer Brauch­tums­tradi­tion: wandernde Gesellen

Tradition (von lateinisch tradere ?hinuber-geben“ oder traditio ?Ubergabe, Auslieferung, Uberlieferung“) bezeichnet die Weitergabe (das Tradere ) von Handlungsmustern , Uberzeugungen , Glaubensvorstellungen oder Anderem oder das Weitergegebene selbst (das Traditum , beispielsweise in Gepflogenheiten, Konventionen , Brauche oder Sitten). Tradition geschieht innerhalb einer Gruppe oder zwischen Generationen und kann mundlich oder schriftlich uber Erziehung , Vorbild oder spielerisches Nachahmen erfolgen.

Die soziale Gruppe wird dadurch zur Kultur oder Subkultur . Weiterzugeben sind jene Verhaltens- und Handlungsmuster, die im Unterschied zu Instinkten nicht angeboren sind. Dazu gehoren einfache Handlungsmuster wie der Gebrauch von Werkzeugen oder komplexe wie die Sprache . Die Fahigkeit zur Tradition und damit die Grundlage fur Kulturbildung beginnt bei Tieren, wie beispielsweise Krahen oder Schimpansen , und kann im Bereich der menschlichen Kulturbildung umfangreiche religios-sittliche, politische, wissenschaftliche oder wirtschaftliche Systeme erreichen, die durch ein kompliziertes Bildungssystem weitergegeben wurden. Tradition kann ein Kulturgut sein.

Aus dem Wort Tradition werden zwei Adjektive abgeleitet: In der Gemeinsprache wird in der Regel nur der Ausdruck traditionell verwendet. Semantisch korrekt wird damit etwas bezeichnet, das auf einer alteren Geschichte aufbaut, das jedoch nicht unverandert weiterhin gultig ist. Soll diese auf die Zukunft projizierte Gultigkeit konkret enthalten sein, spricht man in der Bildungssprache von traditional . [1]

Der sichtbare Ausdruck der Traditionen einer Ethnie oder eines indigenen Volkes wird als Folklore bezeichnet (siehe auch Folklorismus ).

Zwei Hauptbedeutungen [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Die Redeweise ?Es ist Tradition, dass …“ bezieht sich in der Regel auf das Uberlieferte (traditum) , haufig im Sinne von ?Es ist seit langer Zeit ublich, dass …“. Umgangssprachlich seltener wird mit Tradition der Uberlieferungsvorgang an sich (tradere) bezeichnet. Zur Unterscheidung wird im Deutschen manchmal von ?Tradition“ im Sinne von traditum und ?Tradierung“ entsprechend dem tradere gesprochen. Diese Unterscheidung verweist auf zwei Hauptbedeutungen von Tradition:

  1. kulturelles Erbe
  2. Tradierung

Forschungen zum Begriff und zum Verhaltnis der beiden Hauptbedeutungen fallen in den Bereich der Traditionstheorie ( siehe unten ).

Tradition im Sinne eines kulturellen Erbes [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Tradition alter, bauerlicher Techniken: Dreschen mit dem Dreschflegel
Das Wiederauflebenlassen eines historischen Ereignisses, wie es von den Einwohnern Visbys jahrlich bei der ? Medeltidsveckan “ geschieht, ist keine Tradition, sondern Living History , eine moderne Erscheinung

Unter Tradition wird in der Regel die Uberlieferung der Gesamtheit des Wissens , der Fahigkeiten sowie der Sitten und Gebrauche einer Kultur oder einer Gruppe verstanden. Nach Hans Blumenberg besteht Tradition daher nicht aus Relikten, also dem aus der Geschichte ubrig Gebliebenen, sondern aus ? Testaten und Legaten .“ [2] Tradition ist in dieser Hinsicht das kulturelle Erbe (Legat), das in Arbeits - und Kommunikationsprozessen von einer Generation zur nachsten weitergegeben wird. Wissenschaftliches Wissen und handwerkliches Konnen gehoren ebenso dazu, wie Rituale , kunstlerische Gestaltungsauffassungen, moralische Regeln und Speiseregeln. Traditionen im Sinne von Brauchtum und kulturellem Erbe begegnen beispielsweise bei Hochzeiten, Dorffesten und im Zusammenhang mit kirchlichen Feiertagen. Auch Alltagsgesten bei Begrußung und Verabschiedung sind Brauchtumstraditionen. Die Ethnologie untersucht, wie solches Brauchtum konkret entsteht und tradiert wird.

Im deutschsprachigen Raum wird in mancherlei Variationen gern der Aphorismus zitiert: ?Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme“. Er soll von Thomas Morus oder anderen Geistesgroßen stammen oder jedenfalls verwendet worden sein. [3] [4] Die Version ?Tradition ist Bewahrung des Feuers und nicht Anbetung der Asche“ wird falschlich Gustav Mahler zugeschrieben. [5]

Belege werden dafur regelmaßig nicht prasentiert und sind auch sonst nicht zu finden. Die Gegenuberstellung: Bewahrung der Asche oder der Flamme, benutzte allerdings schon John Denham in seinem Gedicht To Sir Richard Fanshaw , upon his Translation [6] of Pastor Fido . Denham vergleicht dort eine poesielose, an den Worten klebende Ubersetzung Wort fur Wort und Zeile fur Zeile mit Fanshaws lebendiger, sinngemaßer Ubertragung im Geist des Originals:

?That servile path thou nobly dost decline
Of tracing word by word, and line by line.[…]
A new and nobler way thou dost pursue
To make translations and translators too.
They but preserve the ashes, thou the flame,
True to his sense, but truer to his fame:“ [7] .

Das Bremer Sonntagsblatt. Organ des Kunstlervereins brachte am 12. Mai 1861 unter der Uberschrift Englische Dichtungen eine Verdeutschung von Georg Pertz :

Nicht sclavisch hebst du Deines Dichters Schatz,
Ihm folgend Wort fur Wort und Satz fur Satz; […]
Die neue, edl’re Bahn erschlossest du
Der Kunst, stolz rufend ihren Jungern zu:
?Nicht Asche ? wahrt der Flamme Heiligthum!
Seid treu dem Dichter ? mehr noch seinem Ruhm!“

Darunter folgten Ubertragungen Pertz’ ?nach Th. Moore “. [8] Dies konnte dazu beigetragen haben, dass spater, als jemand die Asche/Flamme-Metapher von Ubersetzungen auf Traditionspflege ubertrug, irrtumlich Thomas Morus zu ihrem Urheber avancierte.

Tradition im Sinne von Tradierung [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Seltener bezeichnet Tradition die Tradierung, also den Prozess der Uberlieferung selbst, auch wenn in systematischer Hinsicht der Tradition sprozess die Grundlage fur die Tradition als kulturelles Erbe bildet. Die altere Traditionstheorie hat den Traditionsprozess als einen Vorgang beschrieben, bei dem ein Tradent einem Empfanger etwas uberliefert. Neuere Ansatze kritisieren diese Auffassung als zu starke Vereinfachung. So wie das schlichte Sender-Empfanger-Modell in der Kommunikationstheorie tatsachliche Kommunikation unsachgemaß beschreibt, ist das vergleichbare Tradent-Empfanger-Modell unzulanglich. Die Entdeckung des Subjekts in der Neuzeit macht es nach dieser Auffassung notig, eine Wechselbeziehung anzunehmen, wie es beispielsweise der Kultursoziologe Stuart Hall fur das Sender-Empfanger-Modell vorgeschlagen hat. Der vormalige ?Empfanger“ wird als aktiver Teil von Traditionsprozessen verstanden (Tradent-Akzipient-Modell) [9] .

Traditionstheorien in den Kultur- und Geisteswissenschaften [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Traditionstheorien gibt es in sehr unterschiedlichen Zusammenhangen: In der Ethnologie , der Volkskunde , der Soziologie , der Philosophie , der Theologie , der Literaturwissenschaft und der Rechtswissenschaft . Dabei konzentrieren sich die einzelnen Wissenschaften jeweils auf Teilaspekte des Phanomens Tradition . Bislang liegt kein Ansatz fur eine systematisch entwickelte Traditionstheorie vor.

Soziologie [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Da Tradition zu den Grundlagen des sozialen Lebens und Handels gehort, hat sich insbesondere die Soziologie mit dem Phanomen Tradition befasst. Robert Spaemann sieht im Franzosischen Traditionalismus gar eine der Wurzeln der Soziologie selbst. [10] In jedem Fall hat die soziologische Auseinandersetzung mit der Tradition die geistes- und kulturwissenschaftlichen Diskussionen insgesamt gepragt. Insbesondere Max Webers Verstandnis von Tradition als einem von vier Grundtypen sozialen Handelns ist wirkungsgeschichtlich kaum zu uberschatzen. Weber grenzt die Orientierung an Tradition von der zweck- und wertrationalen Orientierung des Handelns ab. [11] Er greift damit ein Traditionsverstandnis auf, das am Ende des 19. Jahrhunderts vorrationale Tradition und rational orientierte Moderne gegenuberstellt. Diese Gegenuberstellung ist auch die Folge einer kritischen Abwendung vom Traditionsverstandnis des Traditionalismus.

Neben seinem Versuch, den Traditionsbegriff mit vier Grundtypen sozialen Handelns greifbar zu machen, formuliert Weber gleichsam eine Theorie der politischen Herrschaft , wobei er zwischen charismatischer , rationaler , legaler und traditioneller Herrschaft unterschied. [12] Hierbei knupfte er den Begriff der Tradition eng an eine herrschende Einzelperson, die uber einen von ihm abhangigen Verwaltungsstab verfugt. Merkmal der auf Tradition beruhenden Herrschaft sei Weber zufolge, dass die politische Ordnung primar auf uberliefertem Wissen beruhe, auf personlichem Gehorsam basiere und ? im Gegensatz zur charismatischen Herrschaft ? einen alltaglichen Charakter habe. [12]

Laut Samuel Eisenstadt ist das Traditionsverstandnis von Max Weber nur bedingt geeignet, das Phanomen der Uberlieferung und Ubernahme zwischen den Generationen und den Einfluss auf die Bildung sozialer Gruppen angemessen zu beschreiben. Ware es so, dass der Modernisierungsprozess das Uberkommene allmahlich abstreift, musste dieses Phanomen weltweit zu beschreiben sein. Tatsachlich biete der Modernisierungsprozess aber ein differenziertes Bild: Zum Teil wurden Traditionen von modernen Entwicklungen und Auffassungen abgelost (Traditionsabbruch), zum Teil gerieten Moderne und Tradition in einen unuberwindbaren Konflikt (Traditionalismus, Fundamentalismus ), zum Teil bestunden Tradition und Moderne konfliktlos nebeneinander oder erganzten sich sogar ( Alternativmedizin ). Wie wenig sich die Begriffe ausschließen, zeige sich aber insbesondere daran, dass Modernitat selbst zu einer neuen ?großen Tradition“ [13] geworden ist. Statt Tradition als vormodern zu betrachten, was zu kurz greifen wurde, gilte es darum, die soziale Funktion der Tradition auch in modernen und post-modernen Gesellschaften zu beschreiben. Fur Anthony Giddens besteht diese Funktion darin, das kollektive Gedachtnis einer Gesellschaft zu organisieren. [14]

Fur die soziologische Analyse des Phanomens Tradition bieten sich nach Edward Shils drei Aspekte an: 1. formal, 2. inhaltlich und 3. strukturell. In formaler Hinsicht ist Tradition abhangig vom Prozess der Tradierung. Inhalte, die nicht tradiert wurden bzw. werden, mogen kulturhistorisch interessant sein, sind aber soziologisch uninteressant fur die Betrachtung von Tradition. Inhaltlich zeichnen sich Traditionen durch eine besondere Wertschatzung oder einen besonderen Anspruch aufgrund der Vergangenheitsorientierung aus. Strukturell ist Tradition auf Wiederholung , Weitergabe und Ritualisierung angelegt. In der Perspektive dieser drei Aspekte wird deutlich, wie Tradition kulturelle Leitmuster (guiding patterns) ausbildet und so die Vergangenheit in die Gegenwart hineinreicht und diese beeinflusst. [15]

In Anlehnung an Shils definiert der amerikanische Organisationspsychologe Karl E. Weick Tradition als etwas, das in der Vergangenheit erzeugt, durchgefuhrt oder geglaubt wurde oder von dem [heute] geglaubt wird, dass es existierte, ausgefuhrt oder in der Vergangenheit geglaubt wurde und das von einer Generation zur nachsten weitergegeben wird oder wurde. Weiter spezifizieren Shils und Weick: ?Um als Tradition zu qualifizieren muss ein Muster mindestens zweimal in drei Generationen ubergeben werden.“ [16]

Ethnologie [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

In der Ethnologie bildete sich ab 1982 eine eigene Debatte zum Thema Tradition , die durch das Verstandnis von Tradition als kulturellem Konstrukt gepragt ist (siehe auch Sozialkonstruktivismus ). Ausgangspunkt waren Anfang der 1980er Jahre die Arbeiten des Briten Eric Hobsbawm und des Amerikaners Roger Keesing. Großen Einfluss auf die Diskussion hatte 1983 die These von der ? erfundenen Tradition “, welche die beiden Sozialhistoriker Eric Hobsbawm und Terence Osborn Ranger in ihrem Sammelband The Invention of Tradition ausfuhrten. Danach sind viele Traditionen, denen eine alte Herkunft zugeschrieben wird, verhaltnismaßig jung, aufgezeigt auch am Beispiel schottischer und walisischer Kultur, deren Wurzeln zumeist im 19. Jahrhundert liegen. Bekanntestes Beispiel ist die so genannte Highlander-Tradition mit Kilt und Dudelsack , die als Protestkleidung erst nach der Vereinigung mit England aufkam, aber als ursprungliche Highland-Tradition angesehen wird. [17] Ein Jahr zuvor hatten Roger Keesing und Robert Tonkinson in ihrem Aufsatz Reinventing Traditional Culture auf der Basis von ethnologischen Forschungen in Melanesien am Beispiel der Bezeichnung kastom (ein Pijin -Wort auf den Salomonen , vom englischen custom abgeleitet, ubersetzbar als ?Tradition“) versucht aufzuzeigen, dass das kulturelle Selbstverstandnis stark von kolonialen Einflussen gepragt ist und sich deutlich vom vorkolonialen Brauchtum unterscheidet.

Jocelyn Linnekin und Richard Handler verstanden 1984 Tradition als symbolische Konstruktion und Reprasentation. [18] Sie grenzten ihren analytischen Gebrauch des Wortes vom Alltagsverstandnis ab, wonach Tradition wie eine Sache erscheint, die weitergegeben werden kann. Dagegen betonten Linnekin und Handler, Traditionen seien als symbolische Konstruktionen der aktuellen Generation immer Interpretationen und konnten durch die Interpretation verandert werden. Dadurch entsteht, was Linnekin und Handler das ?Paradox der Tradition“ nennen: Der Versuch, eine Tradition authentisch zu bewahren, bedarf der Interpretation dieser Tradition, und genau dadurch verandert sie sich. Kern dieser symbolischen Konstruktion ist die Verwendung von Material aus der Vergangenheit, um Handlungen, Verhalten, Beziehungen und Artefakte in der Gegenwart zu verstehen.

Weitere wichtige ethnologische Positionen vertreten Geoffrey Miles White und Lamont Lindstrom (Tradition als Diskurs) sowie Kathleen M. Adams (Tradition und Agency) .

Geschichtswissenschaft [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

In der Geschichtswissenschaft wird unter ?Tradition“ die mundliche oder schriftliche Uberlieferung von Informationen zum Zweck der Erhaltung fur die Nachwelt verstanden. Der Begriff dient zur Unterscheidung von Tradition als bewusster Uberlieferung vom Uberrest als unbewusster Uberlieferung, etwa in Form Gebrauchstexten und -gegenstanden wie Rechnungen, Bestandslisten etc. (vgl. Artikel Tradition (Geschichtswissenschaft) ). Der in der Sozialgeschichte eingefuhrte Begriff der ? erfundenen Tradition “ nimmt im Unterschied zum Begriffspaar ?Tradition/Uberrest“ die umgekehrte Perspektive der (bewussten oder unbewussten) Traditionskonstruktion der Nachwelt in den Blick und betont die soziale Konstruktion der Geschichtsschreibung selbst.

Rechtswissenschaft [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

In der antiken Rechtssprache ( Romisches Recht ) war Tradition ( traditio ) der Ubergabeakt einer (beweglichen) Sache zum Beispiel bei der Vererbung und beim Kauf . Daher ruhrt auch die noch heute manchmal begegnende Verwendung von Tradition als Auslieferung (vergleiche englisch: trade ).

Auch im heutigen deutschen Zivilrecht ist zur rechtsgeschaftlichen Ubertragung des Eigentums an einer beweglichen Sache grundsatzlich neben der dinglichen Einigung die Ubergabe der Sache erforderlich, es gilt also das Traditionsprinzip . Jedoch wird das Traditionsprinzip haufig durchbrochen, indem die Ubergabe durch eines der gesetzlich vorgesehenen Ubergabesurrogate ersetzt wird (zum Beispiel Vereinbarung eines Besitzkonstitutes oder Abtretung des Herausgabeanspruchs).

In der modernen Rechtswissenschaft bezeichnet Traditionstheorie einen bestimmten Ansatz zur Abgrenzung des offentlichen Rechts vom Privatrecht . Die Traditionstheorie bezeichnet danach die Auffassung, dass bestimmte Rechtsgebiete traditionell dem offentlichen Recht zugeordnet werden. Dazu gehoren zum Beispiel Rechtsstreitigkeiten innerhalb des Verwaltungsrechtes .

Neben der Traditionstheorie gibt es als weitere Abgrenzungstheorien die Interessentheorie , die Subordinationstheorie (auch: Subjektstheorie) und die modifizierte Subjektstheorie .

Im Bereich der Historischen Hilfswissenschaften ist eine der rechtswissenschaftlichen Bedeutung nahe liegende Verwendung gebrauchlich, wenn die Ubertragungen von Grundeigentum an Kloster und ihre Beurkundung als Tradition bezeichnet wird (vgl. Traditionsbuch )

Philosophie [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

In der Philosophie spielt der Traditionsbegriff kaum eine Rolle. Selbst in etablierten Handbuchern fehlt haufig eine Erorterung des Themas und eine Analyse des Begriffs. Der Philosoph Karl Popper sah die Entwicklung einer Traditionstheorie vor allem als Aufgabe der Soziologie, nicht der Philosophie. Insofern wird in der Regel auf soziologische oder sozialanthropologische Begriffsklarungen zuruckgegriffen. Dennoch haben sich einige Philosophen wie Josef Pieper , die sogenannte Ritter-Schule und Alasdair MacIntyre mit der Theorie der Tradition befasst. Pieper hat vor allem die Verbindung von mittelalterlicher Philosophie und Katholizismus in den Blick genommen. Die Ritter-Schule hat Tradition vor allem wegen der geschichtlichen Einbettung allen kulturellen Lebens diskutiert. MacIntyre hat als Kommunitarist auf die Notwendigkeit traditionaler und regional gultiger Maßstabe fur die gegenwartige Ethik und Politik verwiesen. In Abgrenzung zu Pieper und MacIntyre und im Ruckgriff insbesondere auf die Diskurstheorie von Jurgen Habermas hat in jungster Zeit Karsten Dittmann versucht Tradition als Bedingung entgrenzter, generationsubergreifender Diskurse zu verstehen, die langwahrende Wandlungsprozesse wie das Projekt der Aufklarung erst verstandlich machen. Chesterton verweist auf die Parallelen zwischen Tradition und Demokratie und betont, dass die Tradition aus Regeln und Uberzeugungen besteht, die in einer Gesellschaft in der Vergangenheit mehrheitlich entschieden wurden. In diesem informellen Prozess liegen nach Chesterton die gleichen Prinzipien wie in formalisierten demokratischen Entscheidungen und er formuliert plakativ, dass ?alle Demokraten gegen den Ausschluss von Menschen aufgrund des Zufalls ihrer Geburt“ seien, wahrend die ?Tradition gegen ihren Ausschluss aufgrund des Zufalls ihres Todes“ argumentiere. [19]

Tradition und Religion [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Allgemein [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Der Begriff Traditionelle Religion wird nicht selten als Synonym fur die mundlich uberlieferten Ethnischen Religionen verwendet, deren Vorstellungen praktisch ausschließlich auf den Tradierungsprozess zuruckgehen. Doch auch in den Weltreligionen spielen Traditionen eine wichtige Rolle:

Tradition im Judentum [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Tradition ist im Judentum immer im Zusammenhang von Tradierung, Lehre und Erinnerung gesehen worden. In Deuteronomium 6 (5. Mose 6) findet sich die Anweisung, das judische Glaubensbekenntnis als Summe des (gottlichen) Gesetzes an den Sohn weiterzugeben, dass dieser es an seinen Sohn weitergebe. Außerdem soll die Erinnerung an die Geschichte des eigenen Volkes, seine Entstehung und an den mit Gott am Berge Sinai geschlossenen Bund tradiert werden.

Kern des judischen Traditionsverstandnisses ist das Gesetz, die Tora . Bei der Uberlieferung der Tora wird unterschieden zwischen der schriftlichen Tora (die sogenannten funf Bucher Mose) und der mundlichen Tora, der (zunachst) mundlich uberlieferten Auslegung der schriftlichen Tora. Diese ist wiederum zum Teil verschriftlicht im Talmud .

Einen eigenen Begriff fur solche Tradition gibt es im Tanach nicht. Es gibt wohl das Wort magan , das uberliefern im Sinne von ausliefern meint, nicht aber im hier behandelten Sinn. Ein solches Wort entwickelt sich erst spater aus dem Wort masorat (das Verpflichtende, Bindende). Daraus leiten sich die Bezeichnung Masoreten ab, die im Speziellen fur eine judische Gelehrtengruppe des Mittelalters gebraucht wird. Die Masoreten bemuhten sich um eine moglichst genaue schriftliche Uberlieferung der Tora . Sie erstellten unter hinzufugen der Masora , einem umfangreichen textkritischen Apparat, den sogenannten Masoretischen Text . Masora gilt heute als Kernbegriff des judischen Uberlieferungsverstandnisses.

Eine bekannte Tradition im Judentum ist die Brit Mila ( Beschneidung mannlicher Neugeborener kurz nach der Geburt). Brit Shalom , die unblutige Variante, ist wenig verbreitet.

Tradition im Christentum [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Katholizismus [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

In der romisch-katholischen Kirche wird unter Tradition die neben der Bibel stehende, aber genauso verbindliche Glaubenslehre seit den Aposteln und Kirchenvatern verstanden. Als Traditionsprinzip dient diese Glaubenslehre in der romisch-katholischen Exegese zur Auslegung der christlichen Heiligen Schrift ; nach romisch-katholischer Auffassung kann die wahre Aussage christlich-biblischer Texte nur durch die Auslegungstradition der Kirche verstanden werden. Das Traditionsprinzip erganzt demnach das Schriftprinzip .

Seit der Reformationszeit ist der Bezug auf Tradition zu einem besonderen Merkmal vor allem des konservativen Katholizismus geworden. So widmete sich das Tridentinum , das als Beginn der Gegenreformation gilt, in seiner ersten Sitzungsperiode von 1545 bis 1547 dem Verhaltnis von Bibel und Tradition. Im ?Dekret uber die Annahme der heiligen Bucher und der Uberlieferungen“ wird der Anspruch der Tradition in Abgrenzung zur protestantischen Auffassung dokumentiert. Allerdings wird zu diesem Zeitpunkt der Traditionsbegriff selbst noch nicht ausdrucklich reflektiert. Das geschieht erst mit dem Franzosischen Traditionalismus, der eine konservative, katholische Reaktion auf die Franzosische Revolution darstellt, getragen von katholischen Adligen und Gelehrten wie Louis-Gabriel-Ambroise de Bonald und Joseph de Maistre . Der ausdruckliche Bezug auf Tradition und die Vorrangstellung der Tradition gegenuber der Vernunft bringt der Bewegung die Bezeichnung ? Traditionalismus “ ein, die seither fur viele reform- und aufklarungskritische, anti-moderne Auffassungen steht. Im 20. Jahrhundert steht fur solche traditionalistischen Auffassungen des Katholizismus insbesondere die Priesterbruderschaft St. Pius X.

Christliche Orthodoxie [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Der Begriff der Orthodoxie verweist bereits auf die beiden wesentlichen Aspekte des orthodoxen Traditionsverstandnisses: Orthodoxie heißt zugleich ?richtiger Glaube“ und ?richtiger Lobpreis“. Die ?Rechtglaubigkeit“ bezieht sich vor allem auf die biblische Uberlieferung. Fur den orthodoxen Glauben ist wichtig, sich dem Ursprunglichen zuzuwenden und diesem Ursprunglichen treu zu bleiben. Der biblische Text gilt als Garant, Herzstuck und Kern der Tradition. An diesem Punkt unterscheidet sich die Orthodoxie wesentlich vom romischen Katholizismus, der die kirchliche Lehrtradition eher gleichberechtigt neben die Bibel stellt. In den Anfangen der Reformation sahen die ersten Reformatoren in den orthodoxen Kirchen mogliche Verbundete. Erste Kontaktaufnahmen bereits in der ersten Halfte des 16. Jahrhunderts blieben am Ende aber folgenlos.

Assyrische Christen in Mossul zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die der syrisch-orthodoxen Kirche angehoren und damit Anhanger der syrischen Tradition des Christentums sind.

Der ?rechte Lobpreis“ bezieht sich auf den liturgischen Gottesdienst. Die sogenannte ? Gottliche Liturgie “ geht im Kern auf judische und fruhestchristliche Formen zuruck; seit gut 1000 Jahren wird sie in unveranderter Form gefeiert. Allerdings haben sich unterschiedliche Varianten dieser Liturgie entwickelt. Die bekannteste Form geht auf die Liturgie aus Konstantinopel zuruck und ist in allen orthodoxen Kirchen in Gebrauch. Diese liturgische Tradition, zu der neben den Texten auch Melodien, Handlungsablaufe, Gewander, liturgische Gerate, der Kirchenbau selbst, Ikonen etc. gehoren, hat eine ebenso große Bedeutung wie die biblische Lehre und wird auch oft zur Auslegung der Bibel herangezogen.

Protestantismus [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Seit der Reformationszeit , in der das romisch-katholische Traditionsverstandnis kritisiert wurde, entwickelte sich der Begriffsgegensatz von christlicher Heiliger Schrift und Tradition. Das Traditionsprinzip wurde zugunsten des Schriftprinzips als notwendiges Element des wahren Schriftverstandnisses aufgegeben; nach evangelischer Lehre ist die heilige Schrift selbsterklarend und deshalb allein die Schrift verbindlich fur Fragen des Glaubens (vergleiche sola scriptura ). In einer gewissen Spannung hierzu stehen die neuen Traditionen, die sich in den einzelnen evangelischen Konfessionen herausgebildet haben.

Die neuzeitliche Traditionskritik der Aufklarung verdankt sich wesentlich des traditionskritischen Impulses der Reformation, ging aber auch wesentlich daruber hinaus, indem sie auch die Bibel selbst als zu kritisierende Tradition verstand.

Traditionskritik [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Traditionskritik ist zum einen der Name einer Methode in der historisch-kritischen Textforschung, zum anderen eine Bezeichnung der Kritik an Tradition und den tradierten Inhalten selbst.

  1. Traditionskritik als historisch-kritische Methode dient dazu, in verschriftlichten Texten die zugrundeliegenden mundlich verbreiteten Fassungen zu rekonstruieren (beispielsweise bei biblischen Texten, Lehrmarchen, Gebetssammlungen, Mythen). Die Traditionskritik steht im Verbund mit anderen historisch-kritischen Methoden, zum Beispiel der Textkritik und der Formkritik , und lasst sich aus diesem Forschungszusammenhang nicht als eigenstandige Methode herauslosen.
  2. Traditionskritik meint auch Kritik an Tradition als dem uberlieferten, kulturellen Bestand. Tradition wird dann problematisch, wenn sich Formen verselbstandigen, deren ursprunglicher Sinn verloren gegangen ist: ?Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage“ (Goethe).

In Europa begann mit der Reformation , spater mit Rationalismus und Aufklarung, ein kritisches Infragestellen uberlieferter Formen des Wissens , Glaubens und der Moral . Mit der Betonung des Vernunftprinzips (das an die Stelle des reformatorischen Schriftprinzips trat) wurde die Gultigkeit jedes Traditionsprinzips in Frage gestellt. Darauf reagierte schon fruhzeitig der Franzosische Traditionalismus , Ausdruck der Reaktion . Das Kraftemessen von Tradition und Vernunft halt bis in die Gegenwart an. Zusammen mit der Eigendynamik eines rationalisierenden Kapitalismus und den Folgen kultureller und okonomischer Globalisierung ist derzeit eine weltweite Revision uberkommener Werte und Uberlieferungen zu beobachten. Als Gegenreaktion sind ebenfalls weltweit fundamentalistische Tendenzen zu verzeichnen. Wie schon der Franzosische Traditionalismus ist die Reaktion in der Gegenwart haufig religios motiviert und gewaltbereit.

Siehe auch [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Literatur [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Weblinks [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Commons : Traditionen  ? Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wiktionary: Tradition  ? Bedeutungserklarungen, Wortherkunft, Synonyme, Ubersetzungen

Einzelnachweise [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

  1. Andreas Korber: Noch einmal Sinnbildungsmuster: ?traditional“ vs. *?traditionell“ . In: Historisch Denken Lernen / Learning to Think Historically. Universitat Hamburg, Fakultat fur Erziehungswissenschaft, 16. Februar 2015, abgerufen am 9. Februar 2019.
  2. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M., 1981, S. 375.
  3. Tradition ist ... 21. Oktober 2003, archiviert vom Original ; abgerufen am 20. September 2023 .
  4. Irrwege einer Metapher , Wiener Zeitung, 10. Juni 2017.
  5. ZITATFORSCHUNG: "Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche.“ In: ZITATFORSCHUNG. 10. Juni 2017, abgerufen am 24. Oktober 2021 .
  6. Il pastor fido The faithfull shepherd : a pastorall / written in Italian by Baptista Guarini, a Knight of Italie ; and now newly translated out of the originall. London: Printed by R. Raworth, 1647, lib.umich.edu
  7. Poems and translations with the Sophy / written by the Honourable Sir John Denham, Knight of the Bath. London: Printed for H. Herringman …, 1668. p. 120 lib.umich.edu
  8. Bremer Sonntagsblatt 12. Mai 1861, S. 152 books.google
  9. Karsten Dittmann: Tradition und Verfahren, Norderstedt 2004 (Online-Fassung, Kapitel 12) , ISBN 3-8334-0945-2 . Abgerufen am 9. Februar 2019.
  10. Robert Spaemann : Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration. Studien uber L.G.A. de Bonald , ISBN 3-608-91921-X
  11. Max Weber : Soziologische Grundbegriffe, § 2 Bestimmungsgrunde sozialen Handelns: ?Das streng traditionale Handeln steht … ganz und gar an der Grenze und oft jenseits dessen, was man ?sinnhaft‘ orientiertes Handeln uberhaupt nennen kann.“
  12. a b Daniel Ursprung: Herrschaftslegitimation zwischen Tradition und Innovation . Kronstadt 2007, S. 27 ff., ISBN 3-929848-49-X .
  13. Shmuel N. Eisenstadt : Tradition, Wandel und Modernitat. 1979, S. 227, ISBN 3-518-57901-0 .
  14. Anthony Giddens : Tradition in der post-traditionalen Gesellschaft. Soziale Welt 44/1993, S. 445?485.
  15. Edward Shils : Tradition. S. 32.
  16. Karl E. Weick: Sensemaking in Organizations. Sage, 1995, ISBN 978-0-8039-7177-6 , S. 124.
  17. Hugh Trevor-Roper : The Highland Tradition of Scotland. In: Eric Hobsbawm , Terence Osborn Ranger , 1983, S. 15 ff.
  18. Tradition, Genuine or Spurious. Archiviert vom Original ; abgerufen am 20. September 2023 .
  19. Gilbert Keith Chesterton: Orthodoxie . Die Ethik des Elfenlandes.