Theorie der Geschichte

aus Wikipedia, der freien Enzyklopadie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Die Theorie der Geschichte , Geschichtstheorie oder Historik (von lateinisch ars historica ?Historische Kunst[lehre]“; englisch historiology ) erlautert und begrundet die Grundlagen der Geschichtswissenschaft . Sie ist von der quellenbasierten Geschichtsforschung, der Geschichtsdidaktik und der Geschichtsphilosophie zu unterscheiden. Nicht gemeint sind hier insbesondere geschichtsphilosophische (?materiale“) Theorien uber den Gang oder Sinn der ganzen Geschichte (von Augustinus von Hippo , Karl Marx bis zu Francis Fukuyama ), die auch oft als Geschichtstheorien bezeichnet werden.

Johann Gustav Droysen hat im 19. Jahrhundert die grundlegende Geschichtstheorie im deutschen Sprachraum verfasst. Er schrieb in seinem Grundriss der Historik (1857):

?Das Gegebene fur die historische Forschung sind nicht die Vergangenheiten, denn diese sind vergangen, sondern das von ihnen in dem Jetzt und Hier noch Unvergangene, mogen es Erinnerungen von dem, was war und geschah, oder Uberreste des Gewesenen und Geschehenen sein.“

Geschichte ist demnach nicht einfach die Vergangenheit, sondern einerseits das in der Vergangenheit Geschehene selbst (lateinisch res gestae ), andererseits das Schreiben oder Erzahlen uber das Geschehene (lateinisch historia rerum gestarum ).

Die Geschichtstheorie untersucht die allgemeinen ?formalen“ Bedingungen der Erkenntnis von Vergangenem. Konkret sind es Fragen nach der Systematik der wissenschaftlichen Methodenlehre ( Methodik und Quellenkunde ), Hermeneutik und Heuristik , nach der Eigenart des historischen Denkens oder einer historischen Erklarung , nach den Interessen des Forschers im Prozess oder nach der gesellschaftlichen Bedeutung der historischen Wissenschaften. [1]

Die Theorie der Geschichte begann in der antiken Literatur als rhetorisch -didaktische Lehre der Geschichtsschreibung , zum Beispiel bei Plutarch . Im Mittelalter musste sich eine Geschichte der weltlichen Dinge gegenuber der aus christlicher Sicht wurdigeren Heiligenvita rechtfertigen, so bei Einhard in Auseinandersetzung mit Sulpicius Severus . Die theoretische Diskussion schritt durch die Aufklarung und den Historismus fort zur Methodenlehre der Geschichtsforschung und zur Erkenntnistheorie des historischen Denkens. Sie integrierte auch Teile der Geschichtsphilosophie .

Bereits Wilhelm Wachsmuth publizierte 1820 einen theoretischen Entwurf, das grundlegende Werk des deutschen Historismus aber ist Johann Gustav Droysens Historik (1857).

Friedrich Nietzsches Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie fur das Leben (1874) hat in seiner Kritik einer zu stark historisierenden Weltsicht, die er dem zeitgenossischen Historismus vorwarf (?Gotzendienst des Tatsachlichen“), die zentrale Frage nach den Lebensleistungen der Wissenschaft gestellt. Erst die kritische Sicht der Geschichte erlaubt es, die Last der erinnerten Geschichte immer wieder abzuschutteln. Fur ihn steht die Geschichte nahe zur Kunst . In der Gegenwart stehen dieser Position Diskurstheorien wie etwa von Michel Foucault oder Paul Veyne nahe. Viele Historiker wehren sich aber gegen eine Auflosung der Vergangenheit in eine bloße subjektive Konstruktion, darunter Eric Hobsbawm . Die Relevanz von Geschichte ergibt sich aus der fur den Menschen unausweichlichen Gegenwartigkeit des Vergangenen.

Fur die deutsche Entwicklung nach 1945 fuhrte die staatliche Teilung zur Kontroverse zwischen marxistischer und sogenannter ? burgerlicher “ Geschichtsschreibung in Ost und West. Dabei standen die Gesetzmaßigkeit der Geschichte und die Parteilichkeit des Historikers im Mittelpunkt. Eine Ubersicht gibt dazu Karl-Georg Faber . Innerhalb der bundesdeutschen Debatte vertrat die Bielefelder Schule die Theoriebedurftigkeit von empirischer Geschichtsforschung gegen Theorieskeptiker wie zum Beispiel Konrad Repgen . Auch pladierte sie fur eine aufklarerische Rolle von Geschichte gegen historische Mythen und fur das Offenlegen der eigenen Voraussetzungen bzw. gegen ihre stillschweigende Setzung, wie den Primat der Außenpolitik . In den 1970er und 1980er Jahren befasste sich ein Arbeitskreis mit geschichtstheoretischen Fragen, in dem neben Jurgen Kocka vor allem Thomas Nipperdey und Reinhart Koselleck hervortraten (siehe Literatur). In den 1980er Jahren entwickelte Jorn Rusen in mehreren Banden eine neue geschichtstheoretische Grundlegung uber Droysen hinaus, die auch in der Geschichtsdidaktik aufgegriffen wurde. Fur ihn ist Geschichte ?Sinnbildung uber Zeiterfahrung“. Er setzt den deutschen Begriff Historik mit dem englischen Wort Metahistory gleich und versteht darunter die spezifische Selbstreflexion der Geschichtswissenschaften.

International wurde das Selbstverstandnis der Geschichtswissenschaft durch die Arbeiten von Hayden White herausgefordert (? linguistic turn “), der die Narrativitat als Form jeder Geschichtsschreibung klarte.

Heute gehoren die postmodernen Debatten um die Mentalitatsgeschichte , die Gedachtnistheorie und ihre Folgen fur die Oral History (zum Beispiel bei Harald Welzer ), und die Diskurstheorien in ihren Konsequenzen fur die Geschichtswissenschaft oder neuerdings die Ikonische Wende mit der explosiven Vermehrung des Quellenmaterials sowie die Neue Kulturgeschichte zu den ?heißen“ Themen.

Theoretische Legitimation

[ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Alfred Heuß beklagte 1959 den Verlust der Geschichte als Bildungsmacht im Nachkriegsdeutschland. Ein Hinweis auf private Liebhaberei reiche nicht aus, etwa zur Begrundung eines Schulfaches Geschichte. Kann man aus der Geschichte etwas lernen ( historia magistra vitae )?

Jurgen Kocka , Vertreter der Bielefelder Schule , fasste die sozialen Funktionen der Geschichte 1975 folgendermaßen zusammen:

  • Historische Erklarung gegenwartiger Probleme durch Aufdeckung ihrer Ursachen und Entwicklung (Beispiel Antisemitismus )
  • Vermittlung von modellhaften Kategorien und Einsichten politischer Bildung zur Erkenntnis und Orientierung in der Gegenwart
  • Legitimation und Stabilisierung sozialer und politischer Herrschaftsverhaltnisse, Rechtfertigung politischer Entscheidungen (Beispiel Revolutionsfeiern der USA 1976 und Frankreichs 1989 )
  • Traditions- und Ideologiekritik , Kritik an historischen Mythen und Legenden (Bsp. Dolchstoßlegende )
  • Schaffung eines Moglichkeitsbewusstseins durch Verflussigung des Gegenwartigen, Aufzeigen von Alternativen
  • Orientierung von Individuen und Gruppen in ihrer Gegenwart, auch durch Aufzeigen des Verschutteten, Nichtaktuellen
  • Erziehung zum konkreten und kritischen Denken gegen vorschnelle Absolutheitsformeln, Einsicht in die Relativitat von historisch-politischen Perspektiven
  • ?zwecklose“ Freizeitbeschaftigung, Unterhaltung, Vergnugen

Bedingungsfaktoren historischer Erkenntnis

[ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Jorn Rusen (1983?1989) hat funf Faktoren, die historische Erkenntnis bedingen, in einer disziplinaren Matrix zusammengefasst:

  • Orientierungsbedurfnisse in der Gegenwart,
  • leitende Hinsichten auf die menschliche Vergangenheit,
  • methodische Verfahren,
  • Darstellungsformen,
  • Funktionen der Daseinsorientierung.

Zentrale Probleme der Geschichtstheorie sind nach Karl-Georg Faber (1971):

Im Grenzbereich zur Philosophie auch

  • Auffassung vom Menschen ( Anthropologie )
  • Sinn der Geschichtswissenschaft

Klassiker und Literatur bis 1990

[ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]
  • Johann Gustav Droysen : Historik. Vorlesungen uber Enzyklopadie und Methodologie der Geschichte. HKA hg. v. K. Hubner, Stuttgart 1977, ISBN 3-486-40858-5 .
  • Marc Bloch : Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers. Klett-Cotta, Stuttgart 2002 (franzosisch 1949), ISBN 3-608-94170-3 .
  • Edward Hallett Carr : What is History? London 1961 (deutsch: Was ist Geschichte? Stuttgart 1963).
  • Robin George Collingwood : The Idea of History. Clarendon Press, Oxford 1946 (deutsch: Philosophie der Geschichte , Stuttgart 1955).
  • Kurt Kluxen : Vorlesungen zur Geschichtstheorie. 2 Bande. Paderborn 1974?1981.
  • Karl-Georg Faber : Theorie der Geschichtswissenschaft. 4. erw. Auflage Beck, Munchen 1978, ISBN 3-406-06173-7 .
  • Jurgen Kocka : Geschichte wozu? (zuerst 1975), In: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.): Uber das Studium der Geschichte. dtv, Munchen 1990, ISBN 3-423-04546-9 (auch in: Geschichte , bsv-Studienmaterial, Munchen 1976, ISBN 3-7627-6020-9 )
  • Reinhart Koselleck : Geschichte, Historie. In: O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland (Geschichtliche Grundbegriffe). Band 2. Stuttgart 1975, S. 647?715.
  • Jacques Le Goff : Geschichte und Gedachtnis. Ullstein, Berlin 1999, (ital. 1971) ISBN 3-548-26552-9 .
  • Jorn Rusen : Grundzuge einer Historik. 3 Bande:
    • l: Historische Vernunft. Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft . Vandenhoeck und Ruprecht, Gottingen 1983, ISBN 3-525-33482-6 .
    • 2: Rekonstruktion der Vergangenheit. Die Prinzipien der historischen Forschung . Vandenhoeck und Ruprecht, Gottingen 1986, ISBN 3-525-33517-2 .
    • 3: Lebendige Geschichte. Formen und Funktionen des historischen Wissens . Vandenhoeck und Ruprecht, Gottingen 1989, ISBN 3-525-33554-7 .
  • Wilhelm Wachsmuth : Entwurf einer Theorie der Geschichte , Halle 1820
  • Hayden White : Tropics of Discourse . Deutsch: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Klett-Cotta, Stuttgart 1986.
  • Reihe: Theorie der Geschichte. Beitrage zur Historik. 6 Bande, dtv, Munchen 1977?1990. (Tagungsberichte des Arbeitskreises ?Theorie der Geschichte“)
    • Reinhart Koselleck u. a. (Hrsg.): Objektivitat und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft. 1977.
    • Karl-Georg Faber, Christian Meier (Hrsg.): Historische Prozesse. 1978.
    • J. Kocka, Thomas Nipperdey (Hrsg.): Theorie und Erzahlung in der Geschichte. 1979.
    • R. Koselleck, Heinrich Lutz , Jorn Rusen (Hrsg.): Formen der Geschichtsschreibung. 1982.
    • Christian Meier, Jorn Rusen (Hrsg.): Historische Methode. 1988, ISBN 3-423-04390-3 .
    • Karl Acham, Winfried Schulze (Hrsg.): Teil und Ganzes. 1990.

Einfuhrungen und jungere Schriften

[ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]
  • Hans-Jurgen Goertz : Umgang mit Geschichte. Eine Einfuhrung in die Geschichtstheorie. rororo, Reinbek 1995, ISBN 3-499-55555-7 .
  • Stefan Jordan : Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft. Orientierung Geschichte. Schoningh, Paderborn 2009, ISBN 978-3-8252-3104-0 .
  • Lothar Kolmer: Geschichtstheorien . UTB, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-8252-3002-9 .
  • Lutz Raphael : Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart. Beck, Munchen 2003, ISBN 3-406-49472-2 .
  • Jorn Rusen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft , Bohlau, Koln u. a. 2013.
  • Erhard Wiersing: Geschichte des historischen Denkens: zugleich eine Einfuhrung in die Theorie der Geschichte. Schoningh u. a., Paderborn 2007.
  • Martin Tschiggerl, Thomas Walach , Stefan Zahlmann: Geschichtstheorie . Springer VS, Wiesbaden 2019, ISBN 978-3-658-22882-8
  1. Stefan Haas: Was ist Geschichte? In: geschichtstheorie.de. Abgerufen am 23. April 2023 .