Die
Textkritik
(von
altgriechisch
κριτικ??
und
lateinisch
criticus
als Bezeichnung des
Philologen
) dient der wissenschaftlichen Untersuchung uberlieferter Texte und ihrer Varianten. Je nach Erkenntnisinteresse, Uberlieferungslage und methodischem Ansatz steht dabei die Rekonstruktion eines Stammbaums (
Stemma codicum
) der
Textzeugen
oder allein die Dokumentation vorkommender Varianten im Mittelpunkt.
Soweit die textkritische Untersuchung ein prazises Modell der Uberlieferung ergibt, erlaubt dies auch die Rekonstruktion nicht erhaltener Textstufen. Dies wird meistens genutzt, um die ursprungliche Fassung eines historischen Textes (oft ?Original“ oder ?Urtext“ genannt) oder zumindest die ursprunglichste erschließbare Fassung (?Archetyp“) anhand mehrerer, aber im Wortlaut unterschiedlicher Textzeugen zu rekonstruieren. Auch andere Textstufen, zum Beispiel die am weitesten verbreitete Fassung, konnen Ziel der Rekonstruktion sein.
Das Ergebnis textkritischer Arbeit ist in jedem Fall ein Text, der als gesicherte Grundlage der
Textinterpretation
bzw.
Exegese
dienen kann; er kann auch den
Obertext
einer
historisch-kritischen Ausgabe
des Textes bilden.
Textkritik wird in allen historisch arbeitenden Disziplinen, die sich mit der Interpretation uberlieferter Texte befassen, betrieben (insbesondere
Philologie
,
Theologie
,
Philosophie
und
Geschichtswissenschaft
). Die junge Disziplin der
Editionswissenschaft
reflektiert die Methoden und die Begrifflichkeit der Textkritik und anderer Aspekte der Erstellung
historisch-kritischer Editionen
.
Die am haufigsten angewandte Methode der Textkritik ist die stemmatologische (oder genealogische), die von
Karl Lachmann
und anderen Philologen im 19. Jahrhundert entwickelt wurde und oft auch ?Lachmann’sche Methode‘ genannt wird.
[1]
Wahrend es schon lange Verbesserungen von Texten auf breiter Handschriftenbasis gegeben hatte, war diese Methode die erste, die auf ein eigenstandiges Modell der Uberlieferung eines Textes abzielte. Damit beansprucht die Methode nicht nur, das Original rekonstruieren zu konnen, sondern auch die Entstehung aller anderen Textzeugen einschließlich ihrer Fehler und Lucken erklaren zu konnen.
A.)
Der
erste Schritt
erfolgt in vier Stufen:
1.
Heuristik
: Samtliche erhaltenen
Textzeugen
werden gesucht und gesammelt. Fragmente und mutmaßliche fruhere Fassungen werden ebenso erfasst wie sekundare Bezeugungen, d. h. Zitate aus dem fraglichen Text bei zeitgenossischen oder jungeren Autoren. Auch Ubersetzungen konnen als sekundare Bezeugungen gelten, da abhangig von der Texttreue des Ubersetzers aus der Ubersetzung auf die der Ubersetzung vorliegende Fassung geschlossen werden kann. Die sekundaren Zeugen werden zuweilen als ?Testimonien“ von den primaren Zeugen begrifflich unterschieden.
2.
Kollation
: Die vorhandenen Textzeugen werden miteinander verglichen und Varianten (
Lesarten
) festgestellt.
3.
Recensio
: Die Varianten werden analysiert, insbesondere im Hinblick auf ihr Entstehen. Gemeinsame Lesarten, insbesondere bestimmte Fehler (sogenannte Leitfehler) sind Indizien, dass Textzeugen voneinander oder einer gemeinsamen Vorlage abhangen. Dadurch kann auf die Existenz und den Wortlaut verlorener Vorlagen geschlossen werden, die zwischen dem Archetyp (der gemeinsamen Vorlage aller Zeugen, die vom ?Original‘ oft durch eine jahrhundertelange Abschreibetradition mit Fehlern getrennt sein kann) und den erhaltenen Textzeugen stehen; sie werden
Hyparchetypen
[2]
genannt. Die Abhangigkeitsbeziehungen zwischen erhaltenen Textzeugen und erschlossenen Hyparchetypen werden oft in Form eines Stammbaums (
Stemma codicum
genannt) dargestellt. Textzeugen, die nur Abschriften anderer erhaltener Zeugen sind, konnen von der weiteren Betrachtung ausgeschlossen, ?eliminiert“ werden, sofern sie nicht sinnvolle Konjekturen enthalten. Die Anwendung dieser Methode setzt voraus, dass jeder Textzeuge nur von genau einer Vorlage abhangt (?geschlossene Uberlieferung“); wo hingegen Handschriften auf mehrere Vorlagen zuruckgehen und durch deren Varianten ?kontaminiert“ sind, liegt eine offene Uberlieferung vor, fur die die Beziehungen zwischen den Textzeugen nicht mit Sicherheit rekonstruiert werden konnen. Im Fall einer solchen, offenen Uberlieferung eines Textes sind die Konstruktion eines
Stemma
, die Eliminierung von Textzeugen und auch die Rekonstruktion des Archetyps nicht oder nur mit Einschrankungen moglich.
Typischerweise werden folgende
Korruptelen
gefunden:
- Abschreibversehen:
- doppelte Satze, Zeilen, Worte oder Buchstaben (
Dittographie
),
- ausgelassene Satze, Zeilen, Worte oder Buchstaben (
Haplographie
), insbesondere wenn sich Satze, Worte oder Phrasen wortlich oder fast wortlich wiederholen,
- Verwechslung von Buchstaben mit ahnlicher Form oder ahnlicher Aussprache (solche Fehler sind haufig aufschlussreich fur die Datierung von Textfassungen, da im Laufe der Zeit unterschiedliche Schriften und Aussprachen in Gebrauch waren),
- Schreibfehler, orthographische Anderungen;
- ein schwieriger Text wurde vereinfacht,
- ein kurzer Text wurde erganzt,
- ein ungebrauchlicher Wortlaut wurde einem gebrauchlichen angeglichen.
4.
Examinatio
(?Uberprufung“): Die Qualitat der Lesarten wird nach den Kriterien Sprache, Stil und innere Schlussigkeit beurteilt; es ergibt sich die Rekonstruktion des
Archetyps
. Haufige Argumentationsmuster dabei sind:
- Die ursprunglichere Lesart ist die, die das Zustandekommen der anderen Lesarten am besten erklaren kann. (Dieses Prinzip kann mit der Ermittlung der
Phylogenese
eines Lebewesens in der Biologie verglichen werden.)
- Es gilt das Prinzip:
lectio difficilior potior
, das heißt, dass die schwierigere Lesart wahrscheinlich die altere ist. Dieses Prinzip beruht auf der Annahme, dass ein Text bei seiner Abschrift eher vereinfacht und geglattet als komplexer und unverstandlicher wiedergegeben wird. Komplizierte Satze werden vereinfacht, veraltete Worter, Wortformen und Formulierungen durch modernere ersetzt. Im Falle von Verderbnis wird ein nicht mehr verstandlicher oder offenkundig sinnloser Text zu einem leichter verstandlichen abgeandert. Gleichzeitig besteht aber die Gefahr, durch unreflektierte Anwendung dieses Prinzips einen Text kunstlich zu verkomplizieren. Vollends problematisch, wenn nicht sinnlos, wird ein Vorgehen nach der
lectio difficilior
bei Texten, die schon an sich selbst keinen hohen literarischen Anspruch stellen.
- Je ursprunglicher ein Textzeuge, desto weniger Abschreibefehler wird er wahrscheinlich enthalten. Dabei ist zu berucksichtigen, dass jungere Abschriften auch sehr alte oder hochwertige Vorlagen gehabt haben konnen
(recentiores [codices], non deteriores)
und dass umgekehrt auch sehr alte Handschriften minderwertig sein konnen, wenn sie von einem unfahigen Schreiber angefertigt wurden.
B.)
Wo die so ermittelte Textfassung des Archetyps als fehlerhaft erkannt wird, wird im
zweiten Schritt
angestrebt, den ursprunglichen Text des Autors durch
Divination
(kluge und begrundete Vermutung) wiederherzustellen (
Emendation
). Auch hier urteilt der Herausgeber nach seiner Kenntnis des historischen Umfelds, des Sprachgebrauchs des Autors und seiner Zeit bzw. der Schreibergewohnheiten zur mutmaßlichen Entstehungszeit des Archetyps, der inneren Struktur des zu edierenden Textes, sowie seiner Einbettung in das literarische Umfeld (intertextuelle Bezuge). Zwei Mittel stehen zur Verfugung:
- Konjektur
: Der Herausgeber ersetzt den Text des Archetyps durch einen anderen, nirgends uberlieferten. Haufig, aber nicht immer, ahnelt die Konjektur im Schriftbild dem uberlieferten Text, sodass sich leicht eine plausible Hypothese bezuglich eines moglichen Verschreibungsvorgangs angeben lasst. Konjekturen konnen vollig unterschiedlichen Grad an Sicherheit aufweisen, vom hochspekulativen Vorschlag, der eher dazu dient, die Aufmerksamkeit auf eine problematische Stelle zu lenken (?diagnostische Konjektur“), bis hin zur offensichtlichen und uber jeden Zweifel erhabenen Richtigstellung, einer sogenannten
coniectura palmaris
(?auf der Hand liegende Konjektur“, von
palma
, ?Handflache“).
- Athetese
: Der Herausgeber scheidet Text aus, den er als spatere Zutat erkannt hat und der demnach nicht zum ursprunglichen Text des Autors gehort hat; dies wird durch eckige Klammern angezeigt. Oft handelt es sich dabei um Randnotizen, Erklarungen oder Kommentare eines Schreibers, die von einem spateren Abschreiber als Teil des Textes angesehen wurden (
Interpolation
).
Umgekehrt kann der Herausgeber auch der Meinung sein, dass originaler Text ausgefallen ist (
Lacuna
); Handschriften haben manchmal Locher im Schreibmaterial oder Teile der Seite sind zerstort oder abgerissen, einzelne Buchstaben oder Worte sind uberschrieben, verwischt oder nicht mehr lesbar. Erganzte Worter oder Buchstaben werden in spitze Klammern gesetzt, langere Lucken zumeist mit Asterisken angedeutet. Nur in seltenen Fallen werden auch langere Lucken mit passend erfundenem Text gefullt. Bei großeren Lucken kann der Herausgeber eine Zusammenfassung dessen geben, was in dem verlorenen Text mutmaßlich inhaltlich enthalten war.
Eine Alternative zur stemmatologischen Methode sind Editionen nach dem
Leithandschrift
-Prinzip (auch
copy edit
-Ausgaben genannt). Sie findet vor allem bei volkssprachlichen Texten des Mittelalters und bei neuzeitlichen Texten Anwendung. Auch hier wird zunachst die Uberlieferung gesammelt (Lachmanns ?Heuristik‘) und uberpruft, aber die
recensio
findet normalerweise nicht in Form einer Kollationierung aller Textzeugen statt. Stattdessen wird
eine
Handschrift als Leithandschrift ausgewahlt; die Edition folgt dem Wortlaut dieser Handschrift entweder vollstandig oder weicht nur in wenigen Fallen von ihr ab (z. B. bei Beschadigungen der Handschrift). Abweichungen konnen auf Basis anderer Handschriften oder auch als Konjektur erfolgen, der Grad der Normalisierung ist unterschiedlich. Editionen, die der Leithandschrift besonders eng folgen (Orthographie, Layout usw.) nennt man
diplomatische Edition
en.
Anders als die stemmatologische Methode kann das Leithandschrift-Prinzip auf alle Uberlieferungssituationen angewandt werden, also auch bei einer sogenannten kontaminierten Uberlieferung. Ein weiterer Vorteil ist die Zeitersparnis, da die
recensio
weitaus weniger aufwendig ist. Außerdem prasentiert eine Edition nach dem Leithandschrit-Prinzip einen Text, der zumindest so oder sehr ahnlich zumindest in Form der Leithandschrift auch historisch wirksam wird, wahrend stemmatologischen Editionen teilweise vorgeworfen wird, einen Text, den es so nie gab, zu konstruieren. Andererseits enthalt eine Edition nach dem Leithandschrift-Prinzip deutlich weniger Informationen uber die Entwicklung eines Textes im Laufe der Uberlieferung und erhebt auch nicht den Anspruch, verlorene Uberlieferungsstufen (einschließlich des Originals) zu rekonstruieren. Auch ist keineswegs sicher, dass die ausgewahlte Leithandschrift eine weiter verbreitete Fassung reprasentiert.
Das Leithandschrift-Prinzip wird in der Praxis sowohl auf Texte angewandt, von denen es sehr wenige Textzeugen gibt (bei denen die Wahl der Leithandschrift oft leicht fallt) als auch auf solche, von denen es so viele Textzeugen gibt, dass eine vollstandige Kollationierung faktisch unmoglich ist.
In der Praxis konnen die stemmatologische Methode und das Leithandschrift-Prinzip auch kombiniert werden, wenn z. B. die Leithandschrift auf Basis eines stemmatologisch erstellten Modells der Uberlieferung ausgewahlt wird oder der Text zwar nach der stemmatologischen Methode erstellt wurde, aber hinsichtlich der Orthographie einer Leithandschrift gefolgt wird.
Das Ergebnis der textkritischen Arbeit ist eine begrundete Vermutung daruber, welchen Wortlaut der ursprungliche Text hatte und auf welche Weise die erhaltenen Textzeugen entstanden sind. Neben dem wahrscheinlichsten Ergebnis ergeben sich oft weitere mogliche, aber weniger wahrscheinliche Modelle in Bezug auf den ursprunglichen Wortlaut und die weitere Entwicklung des Textes, wahrend wieder andere Hypothesen ausgeschlossen werden konnen.
Zur Textkritik gehort auch die
Echtheitskritik
, d. h. Aussagen daruber, wer den (rekonstruierten) Text verfasst hat bzw. wenn dies nicht moglich ist, zumindest eine Angabe zu Ort, Zeit und Milieu der Entstehung.
Die Ergebnisse textkritischer Arbeit werden meist in Form einer
historisch-kritischen Edition
vorgelegt. Wichtige Ergebnisse und die verwendete Methode werden im Vorwort dargelegt; die Edition selbst besteht aus dem sogenannten
Obertext
(dem textkritisch erstellten Text) und meist mehreren Apparaten. Der wichtigste ist der
textkritische Apparat
? zumeist am Fuße des Textes ?, der die unterschiedlichen Lesarten der einzelnen Textzeugen dokumentiert. Somit kann der Leser einerseits das Vorgehen des Herausgebers nachverfolgen, andererseits eigene Uberlegungen zur Rekonstruktion des Textes anstellen, wenn z. B. verschiedene Lesarten verschiedene Sinnrichtungen ergeben. Damit tragt der textkritische Apparat entscheidend zur Wissenschaftlichkeit der Quellenarbeit bei, indem er Ergebnisse uberprufbar macht und zu einer fortgesetzten Diskussion der einmal erreichten Ergebnisse anregt.
Es gibt zwei mogliche Formen eines textkritischen Apparates:
- Negativer Apparat:
Der Apparat verzeichnet nur vom konstituierten Text abweichenden Lesarten der Textzeugen.
- Positiver Apparat:
Hier sind alle Lesarten ? auch die fur die Textkonstitution gewahlte ? ausgeschrieben.
Zeichen, die im Text auftauchen konnen:
- †…†
: Der Text ist so stark verderbt, dass er nicht mehr zu entziffern ist, vielleicht weil der Schreiber zu undeutlich geschrieben hat, eine Schabung vorgenommen wurde oder das Material beschadigt ist. Die drei Punkte zeigen, dass der Herausgeber keine Angabe oder Vermutung machen mochte, was hier gestanden haben konnte (sog.
crux critica
oder
crux desperationis
).
- †Text†
: Der Archetyp uberliefert einen Text, der jedoch syntaktisch oder semantisch keinen Sinn ergibt, und keine der bisher vorgeschlagenen Konjekturen hat nach Meinung des Herausgebers hinreichende Wahrscheinlichkeit.
- <Text>
: Der Herausgeber erganzt hiermit Text, der in keinem Textzeugen bezeugt ist. Der Vorschlag muss nicht von ihm kommen, sondern kann auch schon von einem anderen
Philologen
unterbreitet worden sein.
- [Text]
: Der Herausgeber halt den solchermaßen eingeklammerten Text, der in vielen oder allen Textzeugen bezeugt ist, fur nicht ursprunglich.
Die Grundlagen der Textkritik gelten fur alle Arten von Texten. Fur verschiedene Arten von Texten gibt es jedoch unterschiedliche Problemstellungen, die teilweise unterschiedliche Methoden oder Schwerpunkte erfordern.
Fur die Herausgabe von Texten aus der Antike gibt es oft nur wenige Textzeugen. Das bestbezeugte Werk ist
Homers
Ilias
mit 700 Textzeugen, aber fur sehr viele Werke liegt die Zahl der erhaltenen Textzeugen im einstelligen Bereich. Die Kollation ist hier eine uberschaubare Aufgabe. Andererseits spielt die Emendation eine wichtige Rolle, da man oft nicht davon ausgehen kann, dass die ursprungliche Form in einer der wenigen Varianten tatsachlich enthalten ist. Eine weitere Besonderheit liegt darin, dass die Uberlieferungstrager fur antike literarische Texte oft Jahrhunderte junger als die entsprechenden Werke sind. Die meisten klassischen Werke sind ausschließlich in Form mittelalterlicher Abschriften erhalten, weshalb regelmaßig viele verlorene Zwischenstufen der Uberlieferung anzunehmen sind, darunter in vielen Fallen auch der Wechsel von
Papyrus
rollen zu
Pergament
codices. Im Vergleich zu uberlieferten Texten anderer Epochen liegt ein sehr großer Anteil der literarischen Texte der griechischen und lateinischen Antike in
historisch-kritischen Ausgaben
vor, Neufunde vollstandiger Textzeugen sind seit langem sehr selten geworden.
Fur die
Hebraische Bibel
liegt mit dem
masoretischen Text
ein in vielen mittelalterlichen Handschriften erhaltener und mit Hilfe der
Masora
sehr genau uberlieferter Texttyp vor, dessen Existenz durch in
Massada
,
Wadi Murabba?at
und
Na?al ?ever
gefundene ?protomasoretische“ Textfragmente inzwischen bereits fur das 1. Jahrhundert gesichert ist. Weitere hebraische Textzeugen sind der
Samaritanische Pentateuch
und die in
Qumran
gefundenen
Handschriften biblischer Bucher
, die aber bis auf die
Große Jesajarolle
nur fragmentarisch erhalten sind.
Wahrend nach dem Urteil der meisten Textkritiker der masoretische Texttyp dem Urtext in der
Tora
sehr nahekommt, ist das bei anderen Buchern, wie dem
Samuel
- oder dem
Jeremiabuch
, nicht anzunehmen. Angesichts der sparlichen nicht-masoretischen hebraischen Textuberlieferung sind hier die antiken Ubersetzungen, vor allem die griechische
Septuaginta
und deren Tochterubersetzungen, z. B. die
Vetus Latina
, von immenser Bedeutung fur die Textkritik. Dass viele nur in diesen Ubersetzungen bezeugte Varianten auf hebraische Vorlagen zuruckgehen, steht inzwischen außer Zweifel, weil einige Qumranhandschriften, wie
4QSam
a
oder 4QJer
b
, hebraische Lesarten bezeugen, die vom masoretischen Text abweichen, aber zugleich der bis dahin nur vermuteten hebraischen Septuaginta-Vorlage entsprechen.
Naturgemaß ist es mit großen Unsicherheiten behaftet, wenn der Text in der Ursprache mit Hilfe einer Ubersetzung korrigiert wird. Deshalb drucken die meisten kritischen Editionen des hebraischen Alten Testaments, wie die
Biblia Hebraica Stuttgartensia
oder die
Biblia Hebraica Quinta
,
diplomatisch
den masoretischen Text ab und verweisen lediglich im
Apparat
auf die Varianten.
Das Neue Testament ist fur die Textkritik aufgrund der sehr viel hoheren Anzahl an Textzeugen ein Sonderfall. Es gibt uber 5.000 griechische Textzeugen, uber 10.000 lateinische Handschriften und weitere 10.000 Handschriften von Ubersetzungen in andere Sprachen, dazu ungezahlte Zitate in anderen Schriften. Fur die Erstellung neutestamentlicher Handschriften wurden haufig mehrere Vorlagen verwendet (Kontamination), so dass eine Handschrift mehrere Mutter haben kann. Durch diese Praxis wird das Erstellen von Stemmata sehr schwierig und zum Teil unmoglich. Neutestamentliche Textkritiker tragen dieser besonderen Situation Rechnung, indem sie die Textzeugen aufgrund von wiederkehrenden Ahnlichkeiten in der Textfassung zu Text-Typen gruppieren und bei der Wahl der Varianten eklektisch vorgehen. Die wichtigsten Texttypen sind der
alexandrinische
, der
westliche
und der
byzantinische Texttyp
.
Aufgrund der Vielzahl der fruhen Textzeugen wird fur das Neue Testament ? im Unterschied zu anderen antiken Texten ? davon ausgegangen, dass fur jede einzelne Stelle die ursprungliche Textform in mindestens einer Handschrift erhalten geblieben ist.
Konjekturen
spielen deshalb in der neutestamentlichen Textkritik aktuell keine Rolle.
Fur literarische Texte aus dem fruhen und hohen Mittelalter, die auf Latein verfasst wurden, stellen sich ahnliche textkritische Probleme wie bei antiken literarischen Texten: Der ursprungliche Wortlaut wird von den oft deutlich jungeren Textzeugen unterschiedlich gut bewahrt und kann nur mit großem Aufwand rekonstruiert werden. Im Vergleich zu antiken Texten sind Emendationen schwieriger, weil oft unsicher ist, welche orthographischen und grammatischen Regeln fur das
Mittellatein
des Originals galten. Fur volkssprachliche Texte, die v. a. aus dem spateren Mittelalter erhalten sind, sind die erhaltenen Textzeugen zwar oft naher am (vermuteten) Original. Dafur sind Emendationen noch schwieriger durchzufuhren und zu begrunden, weil z. B. Orthographie und Wortschatz des Mittelhochdeutschen nie standardisiert wurden. Dennoch waren bis ins 20. Jahrhundert Anpassungen an ein hypothetisches standardisiertes Mittelhochdeutsch ublich. Auch deshalb sind fur Texte des spateren Mittelalters heute oft Editionen nach dem Leithandschrift-Prinzip ublich. Im Vergleich zu antiken Texten ist ein sehr viel kleinerer Teil der mittelalterlichen Texte aller Art gedruckt oder gar in Form einer
historisch-kritischen Ausgabe
herausgegeben worden.
Textkritik findet auch bei moderner Literatur Anwendung, wenn verschiedene Versionen eines Texts existieren und/oder einzelne Stellen in Verdacht geraten, nicht authentisch zu sein. Angesichts der im Vergleich zu antiken Texten oft sehr guten Uberlieferungslage (
Autographen
, autorisierte Druckfassungen, eventuell sogar
Druckfahnen
) ist die Rekonstruktion einer autornahen Fassung einerseits oft einfach, andererseits muss man bei mehreren solcher Fassungen genauer begrunden, welcher dieser Fassungen warum der Vorzug zu geben ist. Besondere Fragen stellen sich dabei, wenn verschiedene vom Autor selbst verfasste Fassungen unterschiedliche Varianten des gleichen Textes enthalten.
Bereits in der
Antike
gab es Ausgaben von Texten, mit denen man versuchte, dem Originaltext so nahe wie moglich zu kommen. Die
Bibliothek von Alexandria
etwa gilt als Produktionsort fur die Ausgabe vieler griechischer Klassiker. Meist ist es der modernen Textkritik nur moglich, diese in der Antike vereinheitlichte Textform zu ermitteln, weil sie die letzte (oft auch nur fragmentarisch) erhaltene Fassung eines Textes ist.
Im
Mittelalter
wurden vor allem im
byzantinischen Reich
die alten Klassiker gepflegt und schlechte Varianten ausgesondert. Ebenso bemuhte sich in dieser Zeit das
Judentum
sehr darum, seine heiligen Schriften unverfalscht weiterzugeben, was durch die
Masoreten
in der Zeit von 780 bis 930 seinen Hohepunkt fand. Ab dem ausgehenden Mittelalter bemuhten sich insbesondere
Humanisten
um den Wortlaut literarischer und religioser Texte der Antike.
Mit Verbreitung des Buchdrucks erschienen ab dem spaten 15. Jahrhundert zahlreiche Ausgaben von literarischen Werken der klassischen Antike, der Bibel und der Kirchenvater, deren Wortlaut durch Vergleiche verschiedener Handschriften und durch Konjekturen verbessert worden war.
Die heutige textkritische Methode wurde im 19. Jahrhundert von der
klassischen Philologie
entwickelt, um antike Texte (die teilweise nur fragmentarisch oder in sehr spaten Abschriften, dafur aber in mehreren Traditionslinien uberliefert sind) zu rekonstruieren. Herausragende Beitrage zu ihrer Methodik leisteten die Philologen
Friedrich August Wolf
,
Karl Lachmann
und
F.D.E. Schleiermacher
.
Die Methoden der Textkritik sind seit Langem und mit großem Erfolg in allen philologischen und historischen Wissenschaften erprobt. Fur die Rekonstruktion eines verlorenen Urtextes auf Basis von Handschriften mit unterschiedlichem Wortlaut ist die meist mit Lachmanns Namen verbundene stemmatologische Methode weithin anerkannt. Allerdings sind immer wieder Zweifel aufgekommen, fur welche Quellen diese Methode sinnvoll angewandt werden kann. Diese Zweifel beziehen sich vor allem auf die Anwendbarkeit der stemmatologischen Methode und die Sinnhaftigkeit der Rekonstruktion eines Urtextes.
Die stemmatologische Methode setzt voraus, dass jeder Textzeuge nur von genau einem anderen Textzeugen abhangt. Vor allem
Paul Maas
hatte das als Normalfall der Uberlieferung dargestellt. Dagegen hatte vor allem
Giorgio Pasquale
schon in seiner Rezension von Maasens
Textkritik
1929 und spater in einer Monographie den Einwand erhoben, dass vielmehr die kontaminierte Uberlieferung der Normalfall sei und daher in weit weniger Fallen als angenommen mit Sicherheit ein
stemma codicum
rekonstruiert werden konne.
[3]
Joseph Bedier
kritisierte schon 1928 die stemmatische Methode, nachdem er sie auf von ihm edierte mittelalterliche
Lais
anwandte.
[4]
Er bemerkte, dass die meisten Uberlieferungen in zwei Zweige gegliedert wurden, obwohl es genaugenommen keinen Grund dafur gebe, warum drei- oder vierzweigige Uberlieferungen seltener sein sollten. Er schloss daraus, dass diese Methode nicht strengen wissenschaftlichen Maßstaben genuge, die tatsachliche Textgeschichte nicht korrekt widerspiegeln konne und zu viel subjektiven Spielraum beinhalte.
Paul Maas
verteidigte dagegen bereits 1937 die stemmatische Methode mit dem Hinweis, ein dreispaltiges Stemma sei tatsachlich viel weniger wahrscheinlich als ein zweispaltiges, da unter den 22 verschiedenen theoretisch denkbaren Typen des stemmatischen Verhaltnisses von drei miteinander verwandten Textzeugen nur ein dreispaltiger Typ sei.
[5]
Dieses Argument wurde 2017 von Hoenen et al.
[6]
auf Traditionen mit beliebigen Anzahlen an Textzeugen generalisiert und mathematisch modelliert. Dabei zeigte sich, dass generell tatsachlich weniger als 1/5 der entstehenden Uberlieferungen drei- oder mehrverzweigend sind, wahrend die Uberlieferungen, die sich in 2 Zweige teilen bei mehr als 60 % liegen. Dies wirft die Frage auf, ob das Bediersche Dilemma tatsachlich eine geeignete Frage bietet, um die Wissenschaftlichkeit der Methode in Zweifel zu ziehen.
Bernard Cerquiglini
hob in den letzten Jahren hervor, dass die Uberlieferung der volkssprachigen mittelalterlichen Literaturen (Altfranzosisch, Mittelenglisch, Mittelhochdeutsch) grundsatzlich nicht mit der der lateinischen und griechischen ?Klassiker“ und der heiligen Texte zu vergleichen und die Methode der Textkritik auf diese daher nicht anzuwenden sei. Die mittelalterliche Literatur sei eine Literatur der Varianten, in der ein ?
Urtext
“ oder die buchstabengenaue Wiedergabe einer Vorlage kaum eine Rolle spielten. Die Zielsetzung der Erstellung eines Urtexts wende moderne Vorstellungen von Urheberrecht und Autorschaft auf alte Texte an, ohne den mittelalterlichen Hintergrund zu verstehen.
Einige neuere texttheoretische und editorische Ansichten stellen den Primat der Suche nach dem Urtext insgesamt in Frage. Textkritik wird hier zwar als Mittel zur Analyse der Uberlieferung eingesetzt, die Konstruktion eines Textes jenseits der tatsachlich vorhandenen Dokumente aber als Dehistorisierung abgelehnt. Die Authentizitat der Uberlieferung steht in diesen Schulen uber der willkurlich reklamierten Autoritat einer editorischen Text-Setzung. Die Ablehnung eines kritisch konstituierten Textes und vor allem der Mischung von Zeugen zu einem eklektischen Text fasst fur die angelsachsische Editorik
David Greetham
im Schlagwort vom ?text that never was“ zusammen.
Sowohl Bedier als auch Philologen, die die Rekonstruktion eines Urtextes fur ahistorisch oder aus anderen Grunden fur nicht sinnvoll halten, bevorzugen meist Editionen nach dem Leithandschrift-Prinzip. Bei solchen Editionen wird eine einzelne Handschrift zugrunde gelegt, andere Textzeugen nicht oder nur sehr sparsam zur Verbesserung herangezogen und bewusst auf Konjekturen verzichtet; oft werden diese Editionen diplomatisch gestaltet, um moglichst viele Eigenheiten der zugrundegelegten Handschrift abzubilden (z. B. das
lange S
vieler vormoderner Handschriften).
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persee.fr
[abgerufen am 12. August 2022]).
- ↑
Paul Maas, Leifehler und stemmatische Typen (1937), in: Ders., Textkritik, 4. Auflage, Leipzig 1960, S. 26?32, hier S. 29. Von den anderen 21 Moglichkeiten sind 15 zweispaltig und 6 einspaltig.
- ↑
Armin Hoenen, Steffen Eger, Ralf Gehrke:
How Many Stemmata with Root Degree k?
In:
Proceedings of the 15th Meeting on the Mathematics of Language
. Association for Computational Linguistics, London, UK Juli 2017,
S.
11?21
,
doi
:
10.18653/v1/W17-3402
(
aclweb.org
[abgerufen am 2. Mai 2021]).