Taking Sides ? Der Fall Furtwangler
ist ein Film des ungarischen Regisseurs
Istvan Szabo
aus dem Jahr 2001 nach dem 1995 uraufgefuhrten Buhnenstuck
Taking Sides
des britischen Autors
Ronald Harwood
uber die Frage, ob und wie viel der deutsche Dirigent
Wilhelm Furtwangler
von den
nationalsozialistischen
Verbrechen gewusst hat. Der englische Ausdruck ?Taking Sides“ bedeutet auf Deutsch etwa ?Stellung beziehen, Partei ergreifen“.
Kurz nach dem Ende des
Zweiten Weltkriegs
wird der Dirigent Wilhelm Furtwangler, der wahrend der Naziherrschaft von
Hitler
,
Goebbels
und
Goring
protegiert worden war, mit einem Berufsverbot belegt. Im Rahmen der
Entnazifizierung
wird er von dem amerikanischen Major Steve Arnold uber seine Karriere im
Dritten Reich
befragt. Arnold ist vor allem darum bemuht, eine
NSDAP
-Mitgliedschaft Furtwanglers nachzuweisen. Zur Einstimmung fur das Verhor sieht er sich mehrmals einen Film mit Dokumentaraufnahmen aus
Bergen-Belsen
an, der speziell fur die US-amerikanischen Besatzungstruppen in Deutschland gedreht worden ist.
Dem Verhor wohnt als Beobachter der US-Militarregierung in Wiesbaden der US-Leutnant David Wills bei, dessen Familie im KZ umgekommen ist, wahrend er bei Verwandten in den USA uberlebt hat. Wills, ein gluhender Verehrer Furtwanglers, ist erschrocken uber die Harte und den Ton, mit dem Major Arnold das Verhor gegen Furtwangler fuhrt. Protokolliert werden die Verhore durch die junge Emmi Straube, die Furtwangler bewundert und seine Musik schatzt. Arnold reagiert fassungslos uber den Respekt und die Verehrung, die beide, als Geschadigte des Naziregimes, Furtwangler entgegenbringen. Fur das Verhaltnis der Deutschen zur Musik fehlt ihm, wie er sagt, jegliches Verstandnis. Furtwangler nennt er einen ?Bandleader“ und ?Kumpel Adolfs“.
Emmi, deren Vater als Mitglied des Widerstands gegen Hitler von den Nazis hingerichtet worden war, ist entsetzt uber Arnolds Verhormethoden, die sie an die der
Gestapo
erinnern, die sie selbst nach der Verhaftung ihres Vaters erlitten hatte. Sie ist kurz davor, ihren Job bei Arnold aufzugeben. Furtwangler verharrt auf seinem Standpunkt, Kunst und Politik hatten nichts miteinander zu tun, und beteuert, er sei nie NSDAP-Mitglied gewesen.
Mitglieder der
Berliner Philharmoniker
werden befragt und bezeugen, dass Furtwangler Orchesterkollegen die Flucht aus Deutschland ermoglicht hat. Wills selbst treibt in Archiven Zeugenaussagen von den
Nurnberger Prozessen
auf, die den Dirigenten entlasten. Den Vorschlag von
Alexander Dymschitz
, Bevollmachtigter des
SMAD
, ihn als Chefdirigenten an die
Oper Unter den Linden
zu vermitteln, lehnt Arnold brusk ab. Der Major, ?ein
Kunstbanause
reinsten Wassers“,
[2]
bleibt misstrauisch und will Furtwangler um jeden Preis den Prozess machen. Dass es um die Rettung der judischen Musiker gegangen sei, glaubt er ihm nicht, er habe nur an die Qualitat seines Orchesters gedacht. Auf die Frage Arnolds ?Warum mußten sie Deutschland verlassen? Weil sie Juden waren?“ bleibt Furtwangler die Antwort schuldig. Arnold treibt Furtwangler mit seinen Verhormethoden so in die Enge, dass dieser schließlich zusammenbricht.
Am Telefon unterrichtet Arnold seine Auftraggeber, dass ihm der verlangte Schuldbeweis nicht gelungen ist.
Wahrend des Telefongesprachs dreht Wills die Platte mit Beethovens 5. Sinfonie auf volle Lautstarke, und der Major halt sich die Ohren zu. Schon auf der Treppe, horcht Furtwangler kurz auf die Musik, die ihn begleitet, und verlasst das Haus. Das Treppenhaus des Bodemuseums, das beim ersten Verhor noch stark beschadigt und nur notdurftig gesichert war, wurde im Laufe des Verfahrens wieder hergestellt.
Schluters
Reiterstandbild des Großen Kurfursten
im Entree, das zu Beginn durch einen massiven Schutzverschlag gesichert war, ist von seiner Hulle befreit worden und strahlt im alten Glanz. Vor dem Abspann zeigt ? in Slow Motion ? ein Ausschnitt aus einer historischen
Wochenschau
, wie Goebbels nach einem Konzert Furtwangler die Hand reicht, die dieser dann mit seinem Taschentuch abwischt.
?What is to do, if political circumstances they push you into a situation when you have to decide between which is to accept and which is not to accept.
Does it exist your own morals or not? What to do? To stay on a battlefield or to leave it? The question is very important. Because sometimes leaving is less correct as to stay. But sometimes to stay it's deadly. So the questions are contemporary questions too.
[3]
“
?
Istvan Szabo - Interview
Nach der Machtergreifung Hitlers verließen viele Kunstler Deutschland, Furtwangler aber blieb. Er gab Konzerte, auf denen auch Nazi-Großen anwesend waren.
So dirigierte er am 21. Marz 1933 vor Hitler und Hindenburg in Berlin, 1938 an ?Fuhrers Geburtstag“ in Wien sowie
Die Meistersinger
von
Richard Wagner
am
Reichsparteitag
1938 in Nurnberg.
[4]
Als er sich weigerte, auf dem Reichsparteitag
Die Meistersinger
zu spielen, ließ Hitler das komplette Orchester und Personal der Wiener Staatsoper nach Nurnberg einfliegen.
[5]
Wilhelm Furtwangler war kein Mitglied der NSDAP.
Ab 1944 gab es Hinweise, dass Furtwangler in Deutschland auf die ?
Schwarze Liste
“ gesetzt worden war. Trotzdem erhielt er von den deutschen Behorden eine Einreiseerlaubnis fur die Schweiz. Nach einem Konzert am 11. Dezember 1944 in Berlin warnte ihn
Albert Speer
, dass er sich unter der Beobachtung der
Gestapo
und in Lebensgefahr befinde. Speer riet ihm, nach seinem Gastspiel in der Schweiz nicht nach Deutschland zuruckzukehren.
[6]
Im Januar 1945 entschloss er sich, sein Gastspiel in Lausanne und Genf vorzeitig anzutreten, und kehrte nicht mehr nach Deutschland zuruck.
Am 29. Oktober 1946 erhielt er eine Aufenthaltserlaubnis fur die Schweiz. Bis 1947 hatte er Dirigierverbot und lebte mit Hilfe finanzieller Zuwendungen von Freunden.
Die Hauptverhandlung gegen Furtwangler fand am 17. Dezember 1946 vor dem Ausschuss fur
Entnazifizierung
der Kunstschaffenden in der
Schluterstraße 45
in Berlin-Charlottenburg statt. Furtwangler hatte das Verfahren selbst beantragt, ?um den ?Berg von Lugen‘ abzubauen, der sich angehauft hatte“.
[5]
In dem Verfahren wurde er angeklagt, die Nazis durch seinen Verbleib in Deutschland unterstutzt zu haben, hohe offizielle Funktionen bekleidet zu haben sowie wegen antisemitischer Bemerkungen u. a. uber den Dirigenten
Victor de Sabata
. Er wurde in allen Punkten freigesprochen.
An der Produktion des Films waren insgesamt 11 europaische Produktionsgesellschaften beteiligt. Drehorte waren u. a. das
Bodemuseum
in Berlin, der Berliner Dom und das Studio Babelsberg in Potsdam.
Die Ausschnitte aus Schwarzweißfilmen und Wochenschauen der Zeit, mit denen der Film durchsetzt ist, stammen aus folgenden Filmarchiven: International Historic Films, Chicago,
Leni-Riefenstahl-Medienarchiv
,
National Film Archives
Washington, Archiv fur Kunst und Geschichte, Berlin,
Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz
, Berlin.
Kameramann Lajos Koltai drehte mit
35-mm-Film
und
Arriflex Cameras
. Koltai wurde auf dem
Filmfestival Mar del Plata
mit dem ADF Cinematography Award und dem Kodak Award ausgezeichnet. Fur den britischen Filmarchitekten und Art Director
Ken Adam
war
Taking Sides
der letzte Film seiner Karriere. Die Kostume entwarf die ungarische Kostumbildnerin Gyorgyi Szakacs, die außer fur insgesamt funf Szabo-Filme auch die Kostume fur einige seiner Operninszenierungen entworfen hat.
[7]
Szabo selbst hat einen
Cameo
-Auftritt als Fahrgast in der Berliner Straßenbahn.
Die Ausschnitte aus dem ersten Satz von
Beethovens
5. Sinfonie
stammen aus Aufnahmen der
Berliner Philharmoniker
unter der Leitung von Wilhelm Furtwangler und der
Berliner Staatskapelle
unter der Leitung von
Daniel Barenboim
. Die Passagen aus dem 2. Satz von
Anton Bruckners
Symphonie Nr. 7.
spielen die Berliner Philharmoniker unter der Leitung Wilhelm Furtwangler. Das Adagio aus
Schuberts
Streichquintett
C-Dur, op. post. 163, D 956, spielt ein Kammerensemble der Berliner Philharmoniker mit Axel Wilczok (Violine), Knut Zimmermann (Violine), Felix Schwartz (Viola), Hanns-Jakob Eschenburg (Cello) und
Sennu Laine
(Cello). Die Violin-Improvisationen komponierte und spielte Marie Belin.
Das
Swing Dance Orchestra
unter der Leitung von
Andrej Hermelin-Leder
spielt
Jazzstandards
wie American Patrol (Glenn Miller),
Route 66
(Gesang: Rinat Shaham),
Moonlight Serenade
oder
Embraceable You
(Gesang: Rinat Shaham).
[8]
Premiere des Films war am 13. September 2001 auf dem
Toronto International Film Festival
. Am 16. Februar 2002 lief der Film außer Konkurrenz wahrend der
Berlinale
. Kino-Premiere in Deutschland war der 7. Marz 2002. Von 2002 bis 2004 wurde er auf Filmfestivals in
Moskau
,
Karlsbad
,
Tromsø
,
Mar del Plata
und in Hongkong vorgestellt.
2002 brachte die
Deutsche Grammophon
eine CD mit dem
Original Motion Picture Soundtrack
heraus.
[9]
2006 veroffentlichte
VCL Communications
eine DVD in deutscher und englischer Sprache, erganzt um Filmografien und Interviews.
?Istvan Szabo wirft mit seiner neuerlichen Sezierung eines Kunstlerschicksals wahrend der Nazi-Zeit viele wichtige Fragen auf, wobei er uber weite Strecken uberzeugend aufzeigt, wie unmoglich es sein kann, eindeutig Partei zu ergreifen. Dabei versaumt er es, sich tiefer mit der ubergeordneten Schuldfahigkeit des Kunstlers auseinander zu setzen.“
?Der
Opportunist
, der im Dritten Reich sich selbst der Nachste war, und der Gerechtigkeitsfanatiker, der nicht zur Differenzierung in der Lage ist ? Szabo postiert beide auf dunnem Eis. Antworten verweigert der Film konsequent bis zum Schluss; stattdessen entlasst er den Zuschauer lieber mit den Fragen, die ein weißes Taschentuch stellen kann, das in Zeitlupe uber eine Hand wischt.“
?Der ungarische Regisseur Szabo inszeniert die peinliche Befragung als subtiles, psychodramatisches Kammerspiel. Furtwangler hat seinem Inquisitor wenig mehr entgegenzusetzen als seinen idealistischen Kunstbegriff. Im Angesicht der politischen Verantwortung will er sich auf seine Berufung zu Hoherem zuruckziehen. Ein Weltbild in verdachtiger Nahe zum Herrenmenschenmythos, dem Szabo mit unerwarteter Parteinahme begegnet.“
?Stellan Skarsgard, Harvey Keitel, Moritz Bleibtreu und Birgit Minichmayr erhellen auf faszinierende Weise den tragischen Konflikt, in den der leugnende Opportunist ebenso gerat wie der eifernde Gerechtigkeitsfanatiker. Ein reines Argernis ist allerdings die Darstellung des sowjetischen Kulturoffiziers
Alexander Dymschitz
durch den 66-jahrigen Oleg Tabakow. Der hochgebildete, hochkultivierte
Germanist
Dymschitz […] wurde nicht nur naturlichen Verbundeten wie
Bertolt Brecht
und
Walter Felsenstein
zum Freund und Helfer gegen
stalinistische
Administratoren, er wollte auch, aus ehrlichem Respekt vor der deutschen Kultur, minderbelasteten Nazimitlaufern wie Furtwangler eine Chance zum Neuanfang bieten. Istvan Szabo jedoch lasst den Feingeist zum plumpen, bis zur Komagrenze saufenden Russentolpel degenerieren. Offenbar mussen bestimmte
Klischees
heutzutage bedient werden. Und sei es um den Preis der historischen Wahrheit.“
Bei
Rotten Tomatoes
erreichte der Film eine Positiv-Quote von 73 % auf der Grundlage von 56 Filmkritiken.
[13]
Der Film wurde mit insgesamt 9 Filmpreisen ausgezeichnet und erhielt 3 weitere Nominierungen.
- Ronald Harwood:
Taking Sides. The Screenplay
. In: The
Pianist
and
Taking Sides
. Faber & Faber, London 2003. S. 117?195.
ISBN 978-0-571-21281-1
- John Gardiner:
Istvan Szabo’s Taking Sides (2001) and the Denazification of Wilhelm Furtwangler
, in:
Historical Journal of Film, Radio, and Television
, Vol. 30. Nr. 1., Marz 2010, S. 95?109.
- Sandra Theiß:
Taking Sides. Der Filmregisseur Istvan Szabo
. Bender, Mainz 2003. (Filmforschung. 4.)
ISBN 3-936497-04-4
- Naomi Pfefferman:
Hitler’s Conductor: Man or Monster?
in: Jewish Journal, 18. September 2003, abgerufen am 9. Juli 2022
- Klaus Lang
:
Wilhelm Furtwangler und seine Entnazifizierung
. Shaker Media, Aachen 2012,
ISBN 978-3-86858-921-4
- ↑
Alterskennzeichnung
fur
Taking Sides ? Der Fall Furtwangler
.
Jugendmedienkommission
.
- ↑
a
b
Renate Holland-Moritz
:
Himmel, Holle und fragwurdige Genies. Kino-Nachlese der
Internationale Filmfestspiele Berlin 2002
. In:
Eulenspiegel
, 48./56. Jg., Nr. 04/02,
ISSN
0423-5975
, S. 62 f., hier S. 63.
- ↑
deutsch = ?Was ist zu tun, wenn einen die politischen Umstande in eine Lage bringen, in der man zu entscheiden hat, was akzeptiert werden kann und was nicht. Gibt es deine eigene Moral oder nicht? Was tun? Auf dem Schlachtfeld bleiben oder es verlassen? Die Frage ist sehr wichtig. Denn manchmal ist Weggehen weniger richtig als Bleiben. Aber manchmal ist Bleiben todlich. So sind diese Fragen auch Fragen unserer Zeit“. Istvan Szabo. Interview. Taking Sides ? Der Fall Furtwangler. DVD, Bonusmaterial.
- ↑
Wilhelm Furtwangler und die Schweiz
in:
Neue Zurcher Zeitung
, 14. August 2004, abgerufen am 9. Juli 2022
- ↑
a
b
Udo Badelt:
Buch soll Dirigent Wilhelm Furtwangler rehabilitieren
in:
Der Tagesspiegel
, 4. Januar 2013, abgerufen am 9. Juli 2022.
- ↑
Wilhelm Furtwangler, biographie. Kapitel 3. Le Tragique (1934-1945)
, abgerufen am 9. Juli 2022
- ↑
Krisztina Horeczky:
Main Credits, Line Four
, filmkultur.hu, abgerufen am 7. Juli 2022
- ↑
Taking Sides, Der Fall Furtwangler. Original Motion Picture Soundtrack
Deutsche Grammophon, abgerufen am 7. Juli 2022
- ↑
Tracklist
Deutsche Grammophon, abgerufen am 7. Juli 2022
- ↑
Taking Sides ? Der Fall Furtwangler.
In:
Lexikon des internationalen Films
.
Filmdienst
,
abgerufen am 2. Marz 2017
.
- ↑
Tamara Dotterweich:
Eine Frage der Verantwortung
(
Memento
vom 25. Juli 2003 im
Internet Archive
). In:
Nurnberger Zeitung
, 20. Marz 2002.
- ↑
Manfred Muller:
Das Stockhausen-Syndrom
. In:
Der Spiegel
vom 8. Marz 2002, abgerufen am 28. Mai 2012.
- ↑
Taking Sides: Le cas Furtwangler.
In:
Rotten Tomatoes
.
Fandango,
abgerufen am 2. September 2022
(englisch).