Mit dem
soziologischen
Begriff
soziales Kapital
(gelegentlich auch als
gesellschaftliches Kapital
bezeichnet
[1]
) werden unterschiedliche soziologische und sozialokonomische Konzepte bezeichnet, vor allem
Pierre Bourdieus
(1983) ?capital social“ (frz.) und
Robert D. Putnams
?social capital“ (engl.) (1993). Weitere bekannte Vertreter eines Konzepts von Sozialkapital sind
Jane Jacobs
(1961),
Glenn C. Loury
(1977),
James S. Coleman
(1987),
Thomas Faist
(1995),
Nan Lin
(2001) und
Patrick Hunout
(2003?2004). Gemeinsam ist allen Konzepten der Blick auf den
normativen
Zusammenhalt von
Gruppen
und auf die wechselseitige Beziehung von
Gruppen-Kohasion
und individueller
Interaktion
.
Pierre Bourdieu
versteht unter Kapital akkumulierte soziale Energie in objektiver oder verinnerlichter Form. Er unterscheidet drei
Kapitalsorten
:
okonomisches Kapital
,
kulturelles Kapital
und
soziales Kapital
. Hinzu kommt das
symbolische Kapital
, welches durch Unterschiede in
Geschmack
und
Lebensstil
Anerkennung und Prestige verleiht. Individuen und Klassen kampfen im Rahmen ihrer
Habitus
- und Kapitalausstattung um die
Position
in der Gesellschaft. Die Differenzierung der
Sozialstruktur
in
Klassen
wird mit der Verfugung uber die vier Kapitalsorten bestimmt.
Der Kapitalbegriff ist Bourdieu wichtig, weil zu jenem wesentlich der Aspekt der Akkumulation gehort. Auch soziales Kapital kann uber die Zeit hinweg angesammelt werden. Kapital ist außerdem ?institutionalisierbar“ ? in Form von Geld und Eigentumsrechten, akademischen Abschlussen und Titeln lasst es sich auf Dauer stellen. Die Unterschiede des Kapitals bestimmen die Struktur der sozialen Wirklichkeit mit ihren Chancen und Hindernissen. ?Die gesellschaftliche Welt ist akkumulierte Geschichte“.
[2]
Alle Formen des Kapitals sind Bourdieu zufolge Unter-Formen des sozialen Austauschs. Die rein marktwirtschaftlich-okonomische Interpretation des okonomischen Kapitals lehnt er daher als Verengung ab.
[2]
Die Macht des sozialen Kapitals sieht Bourdieu immer mit kulturellen und wirtschaftlichen Faktoren vereint, es kann nur auf der Basis der anderen Kapitalformen existieren. Auch deshalb ist es immer auch ungleich verteilt. Kapitalsorten konnen in bestimmten Grenzen ineinander umgewandelt werden.
Soziales Kapital bedeutet fur Bourdieu die Macht, die aus der Zugehorigkeit zu einer Gruppe entsteht, etwa der Elite eines Landes, und aus der Unterstutzung der Mitglieder dieser Gruppe fur die eigenen Zwecke. Eingesetzt wird das soziale Kapital wie die beiden anderen, um den eigenen Status innerhalb der gesellschaftlichen Klassen und Gruppen zu festigen oder zu steigern. Bourdieus soziales Kapital umfasst die ?Gesamtheit der aktuellen und potenziellen
Ressourcen
, die mit der
Teilhabe
am
Netz sozialer Beziehungen
gegenseitigen Kennens und Anerkennens verbunden sind“.
[2]
Soziales Kapital entsteht Bourdieu zufolge aus dem ?Netz von Beziehungen, die dazu beitragen, dass Karrieren, Macht und Reichtum nicht nur auf individuellen Leistungen basieren, sondern auch auf herkunftsbedingten Gruppenzugehorigkeiten und anderen vorteilhaften Verbindungen im Sinne des ?Vitamin B‘.“
[3]
Bourdieus Konzept thematisiert soziales Kapital nicht, wie Putnam, als gesamtgesellschaftliche Große, sondern als eine Form der Macht des Einzelnen, in bestimmten sozialen Bezugen statusbestimmenden Einfluss zu gewinnen.
Putnams Konzept untersucht den Zusammenhalt von Gesellschaften und die Grunde fur die Auflosung dieses Zusammenhalts in den USA. Soziales Kapital bedeutet fur ihn
Vertrauen
,
Gegenseitigkeit
und Gemeinschaftsleben (freiwillige Assoziation), wobei gemeinschaftliche Unternehmungen etwa in Vereinen Gegenseitigkeit starken und Vertrauen aufbauen und vermehren. Die Festigung der gesellschaftlichen Normen durch intensive Interaktion in gemeinsamen Aktivitaten wird weitgehend unabhangig von okonomischen und kulturellen Ursachen betrachtet und nicht auf die Problematik von Einflussmoglichkeiten und Gleichberechtigung bezogen.
Soziales Kapital entsteht durch die Bereitschaft der Burger (
Akteure
), miteinander zu kooperieren. Es benotigt eine Basis des Vertrauens (
soziales Vertrauen
), auf der sich
Kooperation
und gegenseitige Unterstutzung entwickeln konnen. Diese ist Folge der Norm der
Reziprozitat
, also der Erwartung, fur eine Leistung vom anderen etwas zuruckzuerhalten. Vertrauen entsteht dadurch, dass diese Norm der Reziprozitat eingehalten wird. In einem Klima des Vertrauens kann auch die Bereitschaft entstehen, anderen zu vertrauen, vor allem aber auch Fremden, ohne sofort eine Gegenseitigkeit voraussetzen zu mussen. Vertrauen ist auch nicht einfach ein Produkt von
Sanktionsmoglichkeiten
und der Angst vor Bestrafung. Ein oft angefuhrtes Beispiel fur das Vorhandensein oder Fehlen eines Vertrauensklimas als Maß fur soziales Kapital ist folgendes: Lasst eine Mutter ihr Kind allein in einem Park spielen, oder wagt sie dies nicht und begleitet es oder lasst es begleiten?
- Bedeutung fur die Gesellschaft
Fur die
Gesellschaft
verringert soziales Kapital
soziale Kosten
in dem Maße, wie Hilfeleistungen und Unterstutzung im Rahmen der Beziehungsnetzwerke erbracht werden. Umgekehrt steigen die (?externalisierten“, auf die Allgemeinheit abgewalzten) Kosten fur Unterstutzung und Hilfeleistung fur Kranke, Alte, Behinderte und sonst wie beeintrachtigte Personen in dem Maße, wie in
modernen
Gesellschaften im Zuge der
Individualisierung
und steigenden
Mobilitat
Beziehungsnetze wie
Nachbarschaften
,
Freundeskreise
,
Vereinsstrukturen
usw. nicht mehr greifen.
In einer Gesellschaft mit geringem sozialen Kapital ist Rechts- und Polizeigewalt zum Schutz des
Eigentums
und staatliche Regulation von großerer Bedeutung, weil Vertrauen und
Kooperationsbereitschaft
bei der
Losung von Problemen
und Konflikten nicht ausreichend vorhanden sind. So besteht die Tendenz, dass fur kollektive Handlungsprobleme wie z. B. fur Probleme des
Umweltschutzes
keine einvernehmlichen Losungen gefunden werden konnen.
Integrationsprobleme
durch
zugewanderte
Bevolkerungsgruppen konnen ebenfalls nur schwer bewaltigt werden, da sie sich rein regulativ nicht losen lassen. Gelungene
Integration
hieße, zugewanderten Gruppen einen Zugang zum sozialen Kapital (z. B. durch Schulbildung) zu eroffnen, das entwickelt genug sein muss, um diese zunachst zusatzliche Leistung zu tragen.
- Bedeutung fur den Einzelnen
Soziales Kapital bietet fur die
Individuen
einen Zugang zu den Ressourcen des sozialen und gesellschaftlichen Lebens wie Unterstutzung, Hilfeleistung, Anerkennung, Wissen und Verbindungen bis hin zum Finden von Arbeits- und Ausbildungsplatzen. Es produziert und reproduziert sich auch uber Tauschbeziehungen wie gegenseitige Geschenke, Gefalligkeiten, Besuche und Ahnliches.
- Folgen fur das Wirtschaftsleben
Der Umfang des vorhandenen sozialen Kapitals in einer Gesellschaft ist weiterhin am
Wachstum
oder Niedergang einer
Volkswirtschaft
beteiligt; Geschaftsbeziehungen, wirtschaftliche Transaktionen und
Investitionen
sind in einem mangelnden Vertrauensklima unsicherer (hohe ?kalkulatorische
Wagniskosten
“) und werden weniger risikofreudig und zugig getatigt. Sie benotigen wesentlich mehr Aufwand an Vorsondierung auftretender Probleme, rechtliche Absicherungen, langere Vertragsverhandlungen, Aushandlungen von Garantieanspruchen bei nicht eingehaltenen Vertragen usw. Geringes soziales Kapital erhoht somit die
Transaktionskosten
und verringert potenziell die
Produktivitat
. Okonomische Auswirkungen besitzt das Sozialkapital im positiven Sinn auf
Allokation
(Standortpolitik), Wachstum und
Beschaftigung
.
Daruber hinaus gibt es in der nordamerikanischen soziologischen Literatur einen Ansatz, der soziale Netzwerke in das Zentrum des Konzepts stellt. Zunehmend herrscht hier ein Konsens, dass das soziale Kapital konzeptionell auf
sozialen Netzwerken
beruht. Wahrend
Robert Putnam
den kollektiven Wert sozialer Netzwerke betont, basiert
Nan Lins
Konzept von sozialem Kapital mehr auf der individuellen Akteursebene: Er definiert soziales Kapital als die Ressourcen, welche uber soziale Beziehungen mobilisiert werden konnen. Um diese Ressourcen erlangen zu konnen, muss in soziale Beziehungen ?investiert“ werden. Dies erinnert eher an das Konzept Bourdieus.
Hinter dem Begriff steht hier die soziale Dynamik von Kennen und Anerkennen, wie sie etwa in Golfclubs (aber auch in allen anderen Bekanntschafts
netzwerken
) zu beobachten ist: Aus dem
Kennen
von Personen kann ein Informationsvorsprung entstehen (beispielsweise das Wissen um einen neuen Job, der noch nicht offiziell ausgeschrieben ist), der dann auch in einen
Vertrauensvorschuss
?umgemunzt“ werden kann (wenn der Bewerber sich gegenuber dem Personalchef auf gemeinsame Bekannte als Informationsquelle beruft).
Die netzwerkbasierte Konzeption von sozialem Kapital kann auch auf der Ebene von
Kollektiven
(wie etwa Organisationen oder okonomischen Clustern) sinnvoll angewandt werden.
[4]
Eine neuere Debatte, die auch Putnam aufnahm, bezieht sich auf die Unterscheidung von ?Bridging“-und-?Bonding“-Sozialkapital. Wird im Ersteren das Vertrauen aus der
Primargruppe
auf die Gesellschaft ubertragen, so schafft ?Bonding“-Sozialkapital zwar
Identitat
und Vertrauen innerhalb der Gruppe, aber nicht zu Außenstehenden.
Bridging Social Capital sind eher lose Kontakte zur Erweiterung des sozialen Netzwerks sowie zur Identitats- und Perspektivenerweiterung. Bonding Social Capital bezeichnen dahingegen enge soziale Kontakte, wie Familie und Freunde, die identitatsvertiefend wirken.
[5]
Erstmals verwendete
Lyda Judson Hanifan
den Begriff des sozialen Kapitals 1916 bzw. 1920. Er wurde 1939 von
Norbert Elias
und spater von Vertretern der
Frankfurter Schule
, insbesondere von
Theodor W. Adorno
benutzt. Um 1950 wurde der Terminus durch
John Seeley
aufgegriffen. Danach, von den 60er Jahren an, folgten weitere Autoren.
Der
World Social Capital Monitor
, welcher von den
Vereinten Nationen
in Partnerschaft mit zivilgesellschaftlichen Akteuren erstellt wird, gilt als ein Versuch Sozialkapital zu erfassen. Hierbei werden Werte wie Vertrauen, gesellschaftlicher Zusammenhalt und die Bereitschaft offentliche Guter zu finanzieren mithilfe von Umfragen ermittelt. Die Erhebungen starteten 2016 und es haben bisher 30.000 Teilnehmer aus 141 Landern daran teilgenommen.
[6]
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