Der Ausdruck
sola scriptura
(
lateinisch
fur ?allein durch die Schrift“) bezeichnet einen
theologischen
Grundsatz der
Reformation
und der
reformatorischen Theologie
, nach dem die
Heilsbotschaft
hinreichend durch die
Bibel
vermittelt wird und keiner Erganzung durch kirchliche Uberlieferungen bedarf. Daraus entwickelte die
lutherische Orthodoxie
in Anbindung an die
lutherischen Bekenntnisschriften
das
Schriftprinzip
.
Gemeinsam mit den Prinzipien
sola fide
(?allein durch den Glauben“),
sola gratia
(?allein durch Gnade“) und
solus Christus
(?allein Christus“) und
soli Deo gloria
(?Ehre Gott allein“) bildet er die Grundsatze der Reformation.
Die Wendung
sola scriptura
geht zuruck auf
Martin Luthers
Formulierung, dass allein die Schrift herrsche (
?solam scripturam regnare“
),
[2]
die er in seiner Rechtfertigung
Assertio
(?Freiheitserklarung“) von 1520 gegen die von
Leo X.
ausgestellte
Bannandrohungsbulle
verwendete. Auch die anderen drei
Solae
gehen auf Martin Luther zuruck.
Luther versuchte durch das
sola scriptura
einen verlasslichen, unveranderlichen Maßstab in der theologischen Auseinandersetzung mit der
romisch-katholischen Kirche
zu finden, da sich menschliche Urteile im Laufe der Kirchengeschichte immer wieder als irrig herausgestellt hatten.
So sei es im
Spatmittelalter
durch die Verwendung des
vierfachen Schriftsinns
zu einer enormen Vielfalt von Auslegungen der Schrift gekommen. Somit wurden auch Brauche und Lehren begrundet, die sich vollig vom biblischen Zeugnis entfernt hatten (beispielsweise der geschaftsmaßige
Ablasshandel
). Diesem Zustand wollte Luther entgegenwirken.
Die Forderung des
sola scriptura
sollte dabei keineswegs zum Ausdruck bringen, dass nur der genaue Wortlaut der Heiligen Schrift fur das Leben eines Christen ausschlaggebend sei, wie dies in der Neuzeit als Programm des
christlichen Fundamentalismus
formuliert wurde. Vielmehr ging es um die Frage, wer die Schrift recht auslegt.
Nach der Vorstellung Luthers konnte dies nur durch die Schrift selbst geschehen, da sie ?durch sich selbst glaubwurdig, deutlich und ihr eigener Ausleger“ (
?per se certissima, apertissima, sui ipsius interpres“
) sei.
[3]
Auch sollte nicht das Schriftstuck Bibel sakralisiert werden, sondern das in ihm enthaltene
Wort Gottes
standig neu zur Sprache kommen (
viva vox
werden). Bei diesem Vorgang sei der Mensch nur passiv ? er empfange das unverfugbare Wort.
Damit diese Unverfugbarkeit nicht wiederum zur Willkur der Schriftauslegung fuhrt, betonte Luther die ?Mitte der Schrift“. Diese Mitte liege in der
Christusbotschaft
, die somit der innere Maßstab der Schrift sei. Von hier aus sei es moglich, kirchliche Entscheidungen und sogar die einzelnen Schriften der Bibel zu kritisieren ? je nachdem, ob sie ?Christum treyben“,
[4]
also das Evangelium den Glaubigen zufuhren oder nicht.
Gegen diese Lehre wurde von romisch-katholischer und
humanistischer
Seite, insbesondere von
Erasmus von Rotterdam
, eingewandt, die Schrift brauche immer eine externe Auslegung, da sie voller unverstandlicher, ?dunkler“ Stellen sei. Luther proklamierte hierauf die Klarheit der Schrift (
claritas scripturae
). Sogar in einer ?doppelten Klarheit“ prasentiere sich der Inhalt der Bibel: die außere Klarheit des Textes (
claritas externa
) werde bestatigt durch die innere Klarheit (
claritas interna
), die der
Heilige Geist
im Herzen des Horers bzw. Lesers wirke.
[5]
Die romisch-katholische Kirche reagierte auf dem
Konzil von Trient
(1545?1563) mit einer Prazisierung ihrer Schriftlehre. In der vierten Sessio (1546) wurde ein Dekret verabschiedet, demzufolge die gottliche Wahrheit nicht allein in der Schrift, sondern in der Verbindung von Schrift und
Tradition
zu finden sei (
?in libris scriptis et sine scripto traditionibus“
begrundet in
Joh
16,13
EU
).
[6]
Damit wurde die rechte Auslegung der Bibel durch das
kirchliche Lehramt
bekraftigt, da nur so das Wirken des Heiligen Geistes als sicher gelten konne (
Joh
14,26
EU
). Die Bibel selbst erlange ihre Autoritat erst durch die Kirche, die ja auch alter sei als die Bibel. Das kirchliche Lehramt habe den
Bibelkanon
festgelegt, was ebenfalls die Autoritat der Kirche uber die Bibel zeige.
Die
Ostkirchen
lehnen das Prinzip der sola scriptura ab.
Gegen die romisch-katholische Lehre formulierte die lutherische Orthodoxie in der
Konkordienformel
(1577) den eigenen Standpunkt. So heißt es in deren
Epitome
, dass ?allein die Heilige Schrift der einig Richter, Regel und Richtschnur“ (
?sola sacra scriptura iudex, norma et regula“
) sowie ?
Probierstein
“ (
?lydius lapis“
) fur alle kirchlichen Lehren und Traditionen sein konne.
[7]
Die Schrift wurde seitdem als
norma normans
(?norm-stiftende Norm“) bezeichnet, die kirchlichen Bekenntnisse im Gegenzug als
norma normata
(?normierte Norm“), da sie sich aus der Schrift ableiteten.
Basierend auf den Formulierungen der Bekenntnisschriften und vor allem Luthers Bezeichnung der Schrift als ?principium primum“
[3]
arbeitete die lutherische Orthodoxie im 17. Jahrhundert das Schriftprinzip aus. Durch die
aristotelische
Kategorie des
Prinzips
wurde die Bibel als unhinterfragbares Axiom lutherischer Theologie festgeschrieben.
[8]
Auch die Lehre von der
Verbalinspiration
der Schrift wurde in diesem Zusammenhang entwickelt. Nach Wolfhart Pannenberg grundet die Autoritat der Heiligen Schrift fur die reformatorische Theologie darauf, dass ?sie nicht Menschenwort, sondern Gottes eigenes Wort ist.“
[9]
Durch die
historisch-kritische
Bibelforschung
kam es zu einer Erschutterung dieser dogmatischen Grundlage. Man spricht seither von der ?Krise des Schriftprinzips“.
[10]
Ungeachtet dieser seit dem 18. Jahrhundert bestehenden Krise halt die Evangelische Kirche an dem reformatorischen Grundsatz des
sola scriptura
fest. Es heißt zum Beispiel in den Grundartikeln der Kirchenordnung der Evangelischen Kirche im Rheinland: ?Sie bekennt mit den Kirchen der Reformation, dass die Heilige Schrift die alleinige Quelle und vollkommene Richtschnur des Glaubens, der Lehre und des Lebens ist und dass das Heil allein im Glauben empfangen wird.“
Vor der Reformation kam es im Gottesdienst vor allem auf die
Messe
an, und zwar besonders auf den Moment der
Wandlung
. Der Priester hob die Hostie moglichst hoch (
Elevation
), dass sie in den langsrechteckigen Kirchenschiffen deutlicher zu sehen war; in großeren Kirchen wurde fur die bessere Sicht auf die Handlungen am Altar ein
Hochchor
eingebaut. Im evangelischen Gottesdienst dominierte aber die Predigt. Deswegen wurden die Grundrisse der Kirchen verandert: zur
Querkirche
, der einzigen rein evangelischen Sakralbauform, oder zum Zentralbau (Quadrate oder Achtecke, die sich in einen Kreis einschreiben lassen), der im Protestantismus weniger haufig verwirklicht wurde. Die Kanzel wurde moglichst nahe in die Mitte der Kirche geruckt, um bessere Horbarkeit der Predigt fur alle Gottesdienstteilnehmer zu ermoglichen. In kleineren Kirchen sollte derselbe Zweck durch die Errichtung eines
Kanzelaltars
erreicht werden: Das Wort, die Predigt sollte auch rein raumlich in den Mittelpunkt des Gottesdienstes gestellt werden.
- Gerhard Ebeling
:
?Sola scriptura“ und das Problem der Tradition.
In: ders.:
Wort Gottes und Tradition. Studien zu einer Hermeneutik der Konfessionen.
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- Hartmut Gunther:
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In:
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- Rochus Leonhardt
:
Grundinformation Dogmatik. Ein Lehr- und Arbeitsbuch fur das Studium der Theologie.
Auflage 2. Vandenhoeck & Ruprecht, Gottingen 2007, S. 106?111.
- Bernhard Rothen:
Die Klarheit der Schrift. Martin Luther: Die wiederentdeckten Grundlagen.
Vandenhoeck & Ruprecht, Gottingen 1990.
- Hermann Sasse
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Sacra Scriptura. Studien zur Lehre von der Heiligen Schrift.
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- Armin Wenz
:
Das Wort Gottes ? Gericht und Rettung. Untersuchung zur Autoritat der Heiligen Schrift in Bekenntnis und Lehre der Kirche
(= Forschungen zur systematischen und okumenischen Theologie; 75). Vandenhoeck & Ruprecht, Gottingen 1996,
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(Dissertation an der Friedrich-Alexander-Universitat Erlangen-Nurnberg 1994).
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Wolfhart Pannenberg:
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In: Derselbe:
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, Band 1. Gottingen 1962, S. 11?21. An anderer Stelle betont Pannenberg, dass sich seit
Johann Salomo Semler
?eine Unterscheidung zwischen Schrift und Wort Gottes zunehmend durchgesetzt“ habe. (Pannenberg 1988, S. 56).