Die
Schlacht bei Tarutino
(
russisch
Тарутинский бой
,
franzosisch
Bataille de Winkowo
) war eine Schlacht zwischen der
franzosischen
Grande Armee
und der
Kaiserlichen Russischen Armee
wahrend des
Russlandfeldzugs
Napoleons
. Sie ereignete sich am 18. Oktober 1812 in der Nahe der Ortschaft
Tarutino
bei
Moskau
und endete mit einer empfindlichen Niederlage der Franzosen.
Wahrend Napoleon mit seiner Armee in Moskau stand und angesichts des herannahenden Winters uber einen Ruckzug nachdachte, verlangte die russische Offentlichkeit nach sechswochiger Kampfpause endlich eine Entscheidungsschlacht. Den Brief des Kaisers
Alexander I.
vom 14. Oktober mit dem ?Allerhochsten Befehl fur Offensiv-Operationen“ hatte
Kutusow
noch nicht erhalten. Viele Generale sprachen sich dafur aus, die abseits der Stadt stehende Avantgarde
Joachim Murats
anzugreifen.
Der Angriff sollte bereits am Morgen des 17. Oktober erfolgen. General
von Toll
hatte die Stellungen Murats am 16. Oktober erkundet und einen Angriff empfohlen. Kutusow war dagegen. Er wollte keinen Kampf. Am Nachmittag gab er dem Drangen der Generale Toll,
Bennigsen
,
Baggehufwudt
und
Platow
nach, prufte und billigte die Plane von Toll.
[1]
Fur die weiteren Veranlassungen war Kutusows Stabschef General
Jermolow
zustandig. Der war unauffindbar. Nach Lieven befand er sich im Hauptquartier eines anderen russischen Generals zum Diner. Am Morgen des 17. Oktober fand Kutusow die Soldaten der fur den Angriff vorgesehenen Streitkrafte noch immer im Lager.
Der russische Historiker
Jewgeni Wiktorowitsch Tarle
schrieb dazu: ?Das rief einen furchtbaren Wutanfall bei dem Feldmarschall hervor, der schon unzufrieden war, etwas tun zu mussen, was er fur unnutz hielt und nun auf schrecklichste Weise die ersten beiden Offiziere beleidigte, die das Pech hatten, ihm zu begegnen. Der eine der beiden, Oberstleutnant Eichen, verließ nach diesem Zwischenfall die Armee Kutusows: der andere, Hauptmann Brodin, der von Kutusow wie ein Hund behandelt wurde, blieb trotzdem. Im ersten Zorn befahl Kutusow die Absetzung Jermolows, aber spater, als er sich beruhigt hatte, nahm er das zuruck.“
Der Truppenverband Murats, der auch
polnische
Truppen
Jozef Poniatowskis
umfasste, zahlte ca. 12.000 Mann Infanterie und 8.000 Mann Kavallerie. Er befand sich am Fluss
Nara
ca. 100 km entfernt von der Hauptstadt. An seiner linken Flanke befand sich ein großer Wald, der von den Franzosen fast uberhaupt nicht patrouilliert wurde. Zu den Truppen Murats gehorte neben den polnischen Truppen unter Poniatowski (etwa 3.000 Mann) die
Weichsellegion
, die ebenfalls aus Polen bestand, unter General Claparede, dazu die Division Dufour (fruher Friant).
Nach Danilewsky sah der Angriffsplan wie folgt aus: ?Am 4. October (16. Oktober) um sieben Uhr abends soll die Armee mit der rechten Flanke in sechs Colonnen aus dem Lager aufbrechen und auf funf Brucken bei Spaskoje und Tarutino uber die Nara gehen. Die erste Colonne des Grafen Orlow-Denissow bestehend aus zehn Cosaken-Regimentern, einer Compagnie donischer Artillerie und dem 20. Jager-Regimente, hat den General-Adjutanten Muller-Sakomelsky, mit der leichten Garde-Cavallerie-Division, dem Rheshinschen Dragoner-Regimente und einer halben Compagnie reitender Artillerie zur Unterstutzung. Diese Colonne ist bestimmt dem linken feindlichen Flugel in den Rucken zu gelangen, sich der Moskwaschen Heerstraße zu bemachtigen und Murat den Ruckzug abzuschneiden.
Die zweite Colonne Baggehufwuds, bestehend aus seinem eigenen und dem Graf Stroganowschen Corps, fallt Murat in die Flanke und unterhalt, rechts vordringend, die Verbindung mit der ersten Kolonne. Das Corps des Grafen Ostermann bildet die dritte Colonne und verbindet die Operationen Baggehufwud’s mit dem ubrigen Theile des Heeres linker Hand. Diese drei Colonnen, oder der rechte Flugel, werden unter der Anfuhrung Bennigsen’s stehen. Dochturow mit seinem Corps bildet das Zentrum der Armee und ubernimmt auch den Befehl uber das Corps des Grafen Ostermann, so bald dieser Letzte zu ihm stoßt.
Miloradowitsch, mit der Garde, dem Corps Rajewskys und Borosdins, der Reserve-Kavallerie und der Artillerie, bildet den linken Flugel, bei dem sich auch Furst Kutusow personlich befinden will. Alle Truppen mussen noch in der Nacht hinter der Vedettenkette (Vorpostenkette) anlangen und da selbst in großter Stille bis Tagesanbruch, in Erwartung von drei Signalschussen, stehen bleiben. Dann hat Bennigsen rasch den Wald zu passieren und den Angriff gegen den linken feindlichen Flugel zu beginnen; Miloradowitsch aber, mit den in der Nacht angekommenen Cavallerie-Corps, Alles zu attackieren, was sich vor ihm befinden wird, wobei seine Infanterie der Cavallerie in Eilschritten nachfolgen muß.
Dorochow
, welcher mit einem Streifcorps links von der Armee bei der neuen Kalugaschen Straße operiert, muß nach Woronowo marschieren und Murat die Straße nach Moskau abschneiden. Im Lager ist eine große Anzahl von Musikanten und Trommelschlagern zuruckzulassen, welche zur gehorigen Zeit den Zapfenstreich schlagen. Wachtfeuer sind nicht mehr und nicht weniger als gewohnlich anzulegen, die Baracken nicht anzuzunden und zur Beobachtung ist im Lager von jeder Compagnie ein Unteroffizier mit drei Gemeinen, und von jedem Regiment ein Offizier zuruckzulassen“.
[2]
Die russische Armee naherte sich am Abend den Franzosen. General
Denissow-Orlow
eroffnete den Angriff. Von den Truppen
Osterman-Tolstois
war nichts zu sehen und das Kontingent von Baggehufwudt erschien nur zum Teil auf dem Schlachtfeld,
[3]
und zwar nur mit der Jager-Brigade Pillar und einer halben Artilleriekompanie. Dazu kam das Tobolskische Infanterieregiment der 4. Division unter der Fuhrung des Divisionskommandeurs
Eugen von Wurttemberg
. Der Marsch des Korps Baggehufwudt war im Wald durch widerspruchliche Befehle aufgehalten worden. Zwei Regimenter der 4. Division sowie die ihnen folgende 17. Division hatten sich im Wald verlaufen. Baggehufwudt sollte eigentlich die drei Signalschusse geben, die die Schlacht eroffnen sollten. Dies tat er nicht, da seine Truppen nicht vollzahlig waren und die von Ostermann ganz fehlten.
Als General von Toll das Chaos sah, bekam er einen Wutanfall. Nach beleidigenden Außerungen gegen ihn und andere Generale legte Baggehufwudt sein Kommando nieder und ubernahm nur noch die Fuhrung des 4. Jagerregiments, dessen Chef er war. Nach Eugen von Wurttemberg sagte Baggehufwudt: ?Machen sie alle Dispositionen nach Einsicht; ich aber bleibe hier bei meinen Jagern; das Volk ist mit mir aufgewachsen, kann auch mit mir sterben. Ich bin der Erste auf der feindlichen Batterie.“ Auf dem russischen rechten Flugel gelang der Uberraschungsangriff. Die dort befindlichen Franzosen ergriffen die Flucht. Die reiche Beute erwies sich als Hindernis fur die weitere Schlacht: die Kosaken begannen mit Plunderungen des Lagers und hinderten die Franzosen nicht am weiteren Abzug.
Murats Hauptkrafte sammelten sich zum Gegenangriff. Bald setzte ein heftiger gegenseitiger Artilleriebeschuss ein. Baggehufwudt griff mit seinem 4. und dem 48. Jagerregiment an. Diese dicht gedrangte Masse geriet sofort in massives franzosisches Artilleriefeuer. Nach Eugen von Wurttemberg wurde Baggehufwudt bereits von der zweiten Kanonenkugel getotet. Die Jager stoben auseinander und griffen in kleineren Schwarmen an. Ein Teil wurde durch franzosische Kurassiere niedergehauen.
Die russischen Truppen unter Eugen von Wurttemberg und die unter Bennigsen behinderten sich gegenseitig. Bennigsen meinte in dem ganzen Wirrwarr einen gezielten Angriff der Franzosen zu sehen. Er zog die Regimenter Wolhynien und Krementschuk, die dem Regiment Tobolsk unter Eugen von Wurttemberg gefolgt waren, zuruck und zog die 17. Division vor.
Diese Unstimmigkeiten unter den angreifenden Armeeteilen der Russen erlaubten es Murat, seine Truppen neu zu formieren und den geordneten Abzug einzuleiten. Die franzosischen Generale
Claparede
und Latour-Maubourg schlugen Platow zuruck, der versuchte, Murat den Ruckweg abzuschneiden. Miloradowitsch hatte Befehl, erst dann anzugreifen, wenn die anderen drei Abteilungen ihren Angriff begonnen hatten. Das war nicht der Fall. Da Kutusow kein Risiko eingehen wollte, zumal sich auch ein großer Teil der Garde bei Miloradowitsch befand, verbot er ihm den Angriff, nachdem er von dem Chaos auf dem Schlachtfeld erfahren hatte. Er verbot ebenfalls die Verfolgung der Armee Murats und gab den Befehl zum Ruckzug der eingesetzten Streitkrafte.
?Bennigsen schaumte vor Wut. Warum hatte Kutusow ihm nicht helfen wollen, warum hatte er Murat so schon entwischen und in guter Ordnung zuruckziehen lassen? Ich begreife es nicht! Dieser großartige, glanzende Tag hatte unberechenbare Konsequenzen haben konnen, wenn ich Unterstutzung erhalten hatte. Angesichts der ganzen Armee verbietet Kutusow, auch nur einen einzigen Mann mir zur Hilfe zu schicken; das sind seine eigenen Worte. General Miloradowitsch, der den linken Flugel kommandierte, brannte darauf, mir beizuspringen, aber Kutusow untersagte es ihm. Du kannst Dir vorstellen in welcher Entfernung vom Schlachtfeld sich unser Alter hielt. Seine Feigheit ubersteigt die Grenzen, die Hasenfußen gestattet sind; das hat er schon bei Borodino genugend bewiesen. Damit hat er sich die allgemeine Verachtung zugezogen und ist in den Augen der Armee lacherlich geworden“
?
Bennigsen
:
am 22. Oktober in einem Brief an seine Frau, nach Tarle, S. 293 f.
Bennigsen und Kutusow waren sich schon vor dieser Schlacht spinnefeind. Die Stimmung im russischen Hauptquartier war durch diverse Intrigen vergiftet, an denen auch Bennigsen aktiv beteiligt war. Diese Situation verschlimmerte sich nach der Schlacht und verbesserte sich erst, als Bennigsen die Armee verließ.
Aufgrund von mangelnder Koordination auf der russischen Seite konnte Murat einer vollstandigen Niederlage entgehen. Real nahmen auf der russischen Seite nur etwa 12.000 Mann teil. Es wirkte sich auch aus, dass Kutusow die Schlacht nur ungern fuhrte, da er aktive Kampfe fur schadlich hielt, wahrend die Zeit Russland in die Hande spielte.
Trotzdem war Tarutino ein wichtiger Erfolg fur die Russen. Die Franzosen verloren 4000 Mann, darunter 2500 Tote und 1500 Gefangene. Murat verlor zwei Generale: General
Pierre Cesar Dery
und der polnische General Stanislaw Fiszer (in manchen Quellen auch Fischer genannt)
[4]
fielen im Kampf. Die Franzosen verloren bedeutende Teile des Proviants und anderer Versorgungsguter. Zudem eroberten die Russen 38 franzosische Geschutze, was keiner der Seiten in der
Schlacht bei Borodino
gelang. Die Verluste der Russen betrugen knapp 1200 Mann. Nach Tarle betrugen die Verluste der Franzosen 2500 Mann. Die Verluste der Russen betrugen nach seinen Angaben 1000 bis 1200 Mann. Lieven gibt die Verluste der Franzosen mit 3000 Mann an. Der russische General Eugen von Wurttemberg, der an der Schlacht teilnahm, bezifferte die Verluste auf franzosischer Seite mit 500 bis 1000 Toten und 1500 Gefangenen.
Die Schlacht bei Tarutino markierte nach sechs Wochen kampfloser Zeit den Anfang des zweiten Teils der Kampfhandlungen im russisch-franzosischen Krieg. Sie hatte eine große psychologische Wirkung auf die Russen, die nun begannen, an den erfolgreichen Ausgang des Krieges und die Vertreibung der Franzosen zu glauben. Napoleon sah sich durch die Niederlage Murats gezwungen, Moskau schneller zu verlassen. Der Abzug der Franzosen begann unmittelbar nach dem Eintreffen der Nachricht vom Ausgang der Schlacht bei Tarutino.
Nach der Schlacht wurde die 1814 in
Bessarabien
gegrundete Siedlung
Tarutino
benannt, die als erste Kolonie deutscher Auswanderer in dem Landstrich entstand.
- ↑
Tarle, S. 292.
- ↑
Michailowsky Danilewsky:
Geschichte des vaterlandischen Krieges im Jahre 1812. Dritter Theil.
Verlag von Edmund Gotschel, Riga & Leipzig 1840, S. 200 f.
- ↑
Lieven, S. 305.
- ↑
Fiszer wurde in Warschau geboren, sein Vater war Deutscher und hieß Karl Fischer.