Der Binnenhof in Den Haag, das politische Zentrum der Niederlande. Der Rittersaal dient gemeinsamen Sitzungen von Erster und Zweiter Kammer.
Einrichtung des niederlandischen Staates
Das
politische System der
Niederlande
ist vom System der
parlamentarischen Demokratie
bestimmt, in dem
Parteien
eine große Rolle spielen. Das
Parlament
ist in zwei Kammern aufgeteilt: Die
Erste Kammer
wird von den Provinzparlamenten gewahlt, die
Zweite Kammer
vom
Volk
. Letztere ist die eigentliche nationale
Volksvertretung
. Die Krafteverhaltnisse zwischen den Parteien dort sind ausschlaggebend dafur, wie sich die
Regierung
zusammensetzt.
Die wichtigsten historischen Meilensteine waren, nach der Grundung des heutigen Staates 1815, die Einfuhrung der
Ministerverantwortlichkeit
in der
Verfassung
1848 und das allgemeine
Wahlrecht
(mit Verhaltniswahl) 1918. Seit den 1960er- und 1970er-Jahren, als die
Verzuiling
(die gesellschaftliche Trennung nach sozialkulturellen Milieus) sich abschwachte, sind die Wahlergebnisse oftmals sehr schwankend.
Das
Konigreich der Niederlande
ist ein staatsrechtliches Gebilde in Europa und Amerika. Es besteht aus vier Landern. Neben den europaischen Niederlanden sind dies die karibischen Inseln
Curacao
,
Aruba
und
Sint Maarten
. Grundsatzlich regelt jedes dieser vier Lander seine Angelegenheiten selbst. Angelegenheiten, die durch Reichsgesetze fur das gesamte Reich geregelt werden, sind insbesondere Außeres, Verteidigung, Staatsangehorigkeit und Auslieferungen sowie Seeschifffahrt.
Die nach Einwohnerzahl und Wirtschaftskraft stark dominierenden Niederlande sind auch juristisch in einer sehr dominanten Position. Die niederlandischen
Generalstaaten
(das Parlament) verabschieden die Reichsgesetze.
Bijzondere gedelegeerden
(?Besondere Delegierte“) der anderen drei Lander haben nur Rederecht bei der Behandlung des Entwurfs eines Reichsgesetzes, das ihr Land betrifft, und konnen hierzu Anderungsantrage stellen.
Der
Rijksministerraad
besteht aus den niederlandischen Ministern sowie aus je einem Bevollmachtigten jedes der drei anderen Lander erganzt wird. Beschließt die
Zweite Kammer
den Entwurf eines Reichsgesetzes trotz Einspruchs eines Bevollmachtigten Ministers mit weniger als drei Funftel der Stimmen, wird die parlamentarische Behandlung unterbrochen fur eine Behandlung des Gesetzentwurfs im Ministerrat. Außerdem kann ein bevollmachtigter Minister unter bestimmten Voraussetzungen erreichen, dass ein Reichsgesetz fur sein Land nicht gilt. Uber Reichsangelegenheiten, die ausschließlich die Niederlande betreffen, entscheiden diese allein.
[1]
Politikwissenschaftlich gesehen sind die Niederlande eine parlamentarische Demokratie, jedoch staatsrechtlich eine
konstitutionelle Monarchie
. In der
niederlandischen Verfassung
kommt das Wort ?Demokratie“ nicht vor, die Frage der
Souveranitat
wird nicht beantwortet. Der Konig gehort der Regierung an und bestellt die Minister, ohne dass offiziell das Parlament daran beteiligt ware. Tatsachlich aber hat sich um 1866 das parlamentarische Prinzip durchgesetzt, das heißt, dass der Konig de facto nur Minister ernennt, die von einer Parlamentsmehrheit gestutzt werden. Auf dem
Demokratieindex
, der von der Zeitschrift
The Economist
herausgegeben wird, erreichten die Niederlande im Jahre 2019 den elften Platz.
[2]
Die Niederlande sind ein dezentralisierter Einheitsstaat. Die Provinzen sind Verwaltungseinheiten mit Selbstverwaltungsorganen, es wird ihnen kein Staatscharakter zugesprochen. Unterhalb der Provinzen gibt es als dritte und unterste Ebene im vertikalen Staatsaufbau die Gemeinden. Die Vorsteher der Provinzen (Beauftragte des Konigs) und Gemeinden (Burgermeister) werden vom Innenminister ernannt. Nach dem großen liberalen Staatsreformer des 19. Jahrhunderts spricht man vom
Huis van
Thorbecke
(Haus von Thorbecke).
Der
niederlandische Staatsburger
hat auf den drei Ebenen jeweils eine Wahlerstimme: fur einen Kandidaten zur Zweiten Kammer, fur einen Kandidaten zu den
Provinzialstaaten
und fur einen Kandidaten zum
Gemeinderat
. Außerdem gibt es eine besondere Verwaltungsebene, die
waterschappen
, die ebenfalls gewahlt werden. Hinzu kommt die Stimme fur einen Kandidaten zum
Europaischen Parlament
. Das Europaische Parlament durfen alle EU-Burger in den Niederlanden mitwahlen, den Gemeinderat auch andere Auslander.
In den Niederlanden besteht die Regierung offiziell aus dem Konig und den Ministern. Der Konig ist der standige Teil der Regierung (formell der Regierungschef), die Minister sind der nichtstandige Teil. Die Regierung im Sinne der ausfuhrenden Gewalt im Staat heißt
overheid
(wortlich: Obrigkeit).
Siehe auch:
Liste der niederlandischen Ministerprasidenten
,
Liste der Regierungen der Niederlande
,
Liste der Herrscher der Niederlande
Konig Willem-Alexander
Die Krone ist seit 1815 erblich im Haus
Oranien-Nassau
, als das Konigreich der Niederlande mit
Wilhelm I.
gegrundet wurde.
Verfassungsrechtliche
Dokumente sprechen oftmals vom
vorst
(Fursten). Konig und damit Staatsoberhaupt ist seit 30. April 2013 Konig
Willem-Alexander
.
Der Monarch muss Gesetze unterzeichnen, damit sie in Kraft treten konnen (mit einigen Ausnahmen). Eine Verweigerung der Unterschrift hat es aber noch nie gegeben. Der Konig kann beide Kammern des Parlamentes auflosen. In der Praxis wird aber lediglich die Zweite Kammer aufgelost, in aller Regel nach dem Bruch einer Regierungskoalition. Amtshandlungen des Konigs, wie die Unterzeichnung von Gesetzen oder konigliche Beschlusse (zum Beispiel die Parlamentsauflosung, Rechtsverordnungen) mussen durch mindestens einen Minister oder Staatssekretar
gegengezeichnet
sein. Die Ernennung und Entlassung von Ministern und Staatssekretaren ist vom Ministerprasidenten gegenzuzeichnen. In seiner Arbeit unterstutzt wird er vom
Kabinett des Konigs
.
Sogenannte
bordesscene
, mit Konigin und Ministern. Hier die
bordesscene
von 2010 mit dem neuen Ministerprasidenten
Mark Rutte
(VVD) und der damaligen Konigin
Beatrix
.
Die Regierung besteht aus dem Konig (dem sogenannten Standigen Teil der Regierung) und den Ministern. Der Ministerprasident und die ubrigen Minister sowie Staatssekretare (die nicht unbedingt ernannt werden mussen) werden vom Konig ernannt und entlassen. Die Regierung ohne den Konig heißt Ministerrat oder auch Kabinett. Die Kabinettssitzungen finden ohne Anwesenheit des Konigs statt, der Ministerprasident erstattet diesem aber einmal wochentlich Bericht. Das Verbindungsburo zwischen Konig und Ministerprasident heißt
Kabinet van de Koning
und ist nicht mit dem eigentlichen
Kabinett
zu verwechseln. Ein Misstrauensvotum kennt die Verfassung nicht. Jedoch gilt die ungeschriebene Regel, dass der Ministerrat oder auch ein einzelner Minister zurucktritt, wenn ihm die Zweite Kammer das Misstrauen ausspricht.
Die Position des Ministerprasidenten gilt als eher schwach, vor 1983 wurde er in der Verfassung nicht einmal erwahnt. Von den ubrigen Ministern hebt ihn rechtlich nur ab, dass die Ernennung und Entlassung der ubrigen Minister und der Staatssekretare seiner Gegenzeichnung bedarf. Erst 1937 erhielt der Ministerprasident mit dem
Ministerium fur Allgemeine Angelegenheiten
einen eigenen Apparat, zuvor war der faktische Regierungschef normaler Fachminister. Der Titel
minister-president
wurde 1945 eingefuhrt.
Obwohl die Verfassung dies nicht vorsieht, ist es seit 1918 ublich, dass der Ministerrat nach einer Wahl zur Zweiten Kammer zurucktritt und eine neue Regierung gebildet wird. Die Regierungsbildung ist stark institutionalisiert. Folgende Vorgehensweise hatte sich herausgebildet:
- Der Konig empfangt zur Sondierung moglicher Koalitionsvarianten die Vorsitzenden der beiden Parlamentskammern, den Vizeprasidenten des Staatsrats und die Fraktionsvorsitzenden in der Zweiten Kammer.
- Auf Basis ihrer Empfehlungen beruft der Konig einen
Informateur
(manchmal auch zwei oder drei), der mogliche Koalitionspartner an einen Tisch bringt. Informateure sind aktive oder ehemalige Politiker, haufig Mitglieder des Staatsrats. Laufen die Verhandlungen fest, gibt der Informateur seinen Auftrag zuruck und es wird einer oder mehrere neue berufen.
- Haufig (aber nicht immer) ist der erste nach einer Wahl berufene Informateur jemand aus der Partei mit den meisten Wahlerstimmen.
[3]
- Sind sich Koalitionspartner inhaltlich und uber die Postenverteilung einig, teilt der Informateur dies dem Konig mit und schlagt einen
Formateur
vor. Dabei handelt es sich oftmals bereits um den kunftigen Ministerprasidenten.
- Der Konig beruft den Formateur, der das Kabinett zusammenstellt, das dann vom Konig ernannt und vereidigt wird.
Im Marz 2012 beschloss die Zweite Kammer eine Anderung ihrer Geschaftsordnung. Sie will kunftig anstelle des Konigs den Informateur bzw. Formateur bestimmen. Die Ernennung und Entlassung der Kabinettsmitglieder und ihre Vereidigung bleiben jedoch verfassungsmaßige Aufgaben des Konigs.
[4]
Normalerweise dauert die Regierungsbildung etwa zwei bis vier Monate. Am langsten brauchte man nach den Wahlen von 1972 (163 Tage, →
Kabinett Den Uyl
), 1977 (208 Tage, →
Kabinett Van Agt I
), 2017 (226 Tage, →
Kabinett Rutte III
) und 2021 (299 Tage, →
Kabinett Rutte IV
). Besonders kurze Zeit, etwa sieben Wochen, brauchte Mark Rutte, um nach der
Wahl im September 2012
am 5. November (erneut) zum Ministerprasidenten ernannt zu werden.
Der Konig ist Vorsitzender des Staatsrates, des
Raad van State
. Ihm gehoren (sofern volljahrig) auch sein voraussichtlicher Nachfolger und eventuell weitere Mitglieder des koniglichen Hauses an. Die Mitglieder des Konigshauses haben aber kein Stimmrecht. Der Konig ernennt bis zu 28 weitere Mitglieder auf Lebenszeit. Die faktische Leitung des Staatsrates liegt beim Vizeprasidenten. Die meisten Mitglieder des Staatsrates sind Juristen und rekrutieren sich aus ehemaligen Politikern, hohen Beamten und Hochschullehrern. Eine Abteilung des Staatsrats fungiert als hochste Verwaltungsgerichtsinstanz.
Vier weitere, nach Politikfeldern gegliederte, Abteilungen des Staatsrats nehmen eine Gutachterfunktion wahr. Samtliche Gesetzentwurfe (mit Ausnahme des Haushalts) und Rechtsverordnungen werden vom Staatsrat begutachtet, sowohl inhaltlich als auch juristisch. Die juristische Prufung ist deshalb bedeutsam, weil es keine
Verfassungsgerichtsbarkeit
gibt. Ist der Konig nicht in der Lage, sein Amt auszuuben, nimmt der Staatsrat bis zur Einsetzung eines Regenten dessen Aufgaben wahr.
In der Regel ist die starkste Partei an der Regierung beteiligt und stellt den Ministerprasidenten. Seit 1986 war dies immer der Fall, wahrend zuvor mehrfach die PvdA als starkste Partei in der Opposition war und das Amt des Ministerprasidenten nicht durchgehend dem starksten Koalitionspartner zufiel. Berucksichtigt wird auch, welche Parteien am meisten hinzugewonnen haben. Letztlich ist allerdings entscheidend, welche Parteien inhaltlich zusammenarbeiten konnen und uber eine Mehrheit verfugen. Es hat im Parlament auch stets Fraktionen gegeben, die eine grundsatzliche Oppositionshaltung eingenommen haben oder von den meisten anderen Fraktionen als nicht koalitionsfahig angesehen wurden. Darunter zahlen neben weit links oder weit rechts stehenden Parteien auch Interessenparteien wie die Seniorenparteien, aber auch radikal-protestantische Parteien.
Von 1918 bis 2010 waren die
Christdemokraten
fast immer in der Regierung vertreten und stellten meistens den Ministerprasidenten. Vor 1980 handelte es sich dabei um drei Parteien, die katholische Volkspartei KVP, die volkstumlich-calvinistische ARP und die eher konservativ-protestantische CHU, die auch nicht immer alle gemeinsam an der Regierung teilnahmen; in jenem Jahr fusionierten sie zum
CDA
. Dabei bevorzugte dieser Block meist die liberale VVD als Koalitionspartner. Die
Sozialdemokraten von der PvdA
, traditionell die zweitstarkste Kraft, waren in jener Epoche viermal in der Regierung beteiligt, dreimal war der Ministerprasident Sozialdemokrat (1948?1958, 1973?1977, 1994?2002). Bei den Wahlen 2010 und besonders 2012 kamen VVD und PvdA als mit Abstand großte Parteien aus dem Urnengang, wahrend der CDA auf den Rang einer eher kleineren Partei absturzte. Bei der Wahl 2017 sturzte die PvdA drastisch ab, wahrend der CDA sich leicht erholte. Seitdem ist allein die VVD als einigermaßen große Partei ubriggeblieben.
Die Regierungsbildung wird schwieriger und schwerer vorhersehbar, da weniger Sitze auf große Fraktionen entfallen, soweit es sie noch gibt. Tendenziell entfallt ein steigender Mandatsanteil auf mittlere und kleinere sowie auf politisch am Rande stehende Fraktionen. Seit den 1990er-Jahren sind meist drei Parteien fur eine absolute Mehrheit notwendig, die von 2012 bis 2017 regierende Koalition aus VVD und PvdA war seit 1994 die erste Zweiparteienregierung. Das Kabinett von 2010 bis 2012 war das erste seit 1918, das (nach einer Wahl) ohne eine eigene Mehrheit in der Zweiten Kammer gebildet wurde; es ließ sich durch die PVV tolerieren. Zuvor gab es Minderheitsregierungen nur als Ubergangslosungen bis zu einer Neuwahl.
Bisher spielten die Mehrheitsverhaltnisse in der Ersten Kammer keine entscheidende Rolle bei der Regierungsbildung, dennoch verfugte die Regierung bis 2010 fast immer auch dort uber eine Mehrheit. Wegen des seit den 1970er-Jahren zunehmend volatilen Wahlverhaltens unterscheiden sich die Mehrheitsverhaltnisse in beiden Kammern tendenziell immer starker, was die Wahrscheinlichkeit erhoht, dass eine Koalition mit Mehrheit in der Zweiten Kammer nicht uber eine Mehrheit in der Ersten Kammer verfugt. Da die Erste Kammer aber politisch (nicht staatsrechtlich) wesentlich unbedeutender ist, haben die Kabinette unter Mark Rutte wiederholt in Kauf genommen, dort keine eigene Mehrheit zu haben und sich fallweise Unterstutzung bei den Oppositionsparteien suchen zu mussen.
In den Niederlanden ist es unublich, von großen Koalitionen zu sprechen, da es traditionell drei großere Parteien oder Parteienblocke gab, von denen je zwei stets in der Regierung vertreten waren (CDA, PvdA, VVD). Allenfalls unterschied man fruher zwischen schmalen und breiten Kabinetten, wobei die letzteren deutlich mehr Parteien vertraten als rechnerisch fur die absolute Mehrheit notwendig. Die katholisch-sozialdemokratischen Kabinette von 1948 bis 1958 nannte man ?romisch-rot“ (nicht aber das von 1965/1966, trotz ahnlicher Grundlage); die beiden sozialdemokratisch-liberalen Kabinette (PvdA, VVD, D66) von 1994 bis 1998 hießen
paars
(lila).
Parteimaßige Zusammensetzung des Kabinetts seit 1946
Amts-
antritt
|
Minister (einschließlich
Ministerprasident)
|
Anzahl
Minister
|
Ministerprasident
|
03.07.1946
|
KVP 5, PvdA 5, parteilos 3
|
13
|
Louis Beel
(KVP)
|
07.08.1948
|
KVP 6, CHU 1, PvdA 5, VVD 1, parteilos 2
|
15
|
Willem Drees
(PvdA)
|
15.03.1951
|
KVP 6, CHU 2, PvdA 5, VVD 1, parteilos 1
|
15
|
02.09.1952
|
KVP 6, ARP 2, CHU 2, PvdA 5, parteilos 1
|
16
|
13.10.1956
|
KVP 5, ARP 2, CHU 2, PvdA 5
|
14
|
22.12.1958
|
KVP 7, ARP 3, CHU 2
|
12
|
Louis Beel (KVP)
|
19.05.1959
|
KVP 6, ARP 2, CHU 2, VVD 3
|
13
|
Jan de Quay
(KVP)
|
24.07.1963
|
KVP 6, ARP 2, CHU 2, VVD 3
|
13
|
Victor Marijnen
(KVP)
|
14.04.1965
|
KVP 6, ARP 3, PvdA 5
|
14
|
Jo Cals
(KVP)
|
22.11.1966
|
KVP 7, ARP 5
|
12
|
Jelle Zijlstra
(ARP)
|
05.04.1967
|
KVP 6, ARP 3, CHU 2, VVD 3
|
14
|
Piet de Jong
(KVP)
|
06.07.1971
|
KVP 6, ARP 3, CHU 2, VVD 3, DS’70 2
|
16
|
Barend Biesheuvel
(ARP)
|
09.08.1972
|
KVP 6, ARP 3, CHU 3, VVD 3
|
15
|
11.05.1973
|
KVP 4, ARP 2, PvdA 7, D66 1, PPR 2
|
16
|
Joop den Uyl
(PvdA)
|
19.12.1977
|
CDA 10 (KVP 5, ARP 3, CHU 2), VVD 6
|
16
|
Dries van Agt
(CDA)
|
11.09.1981
|
CDA 6, PvdA 6, D66 3
|
15
|
29.05.1982
|
CDA 9, D66 5
|
14
|
04.11.1982
|
CDA 8, VVD 6
|
14
|
Ruud Lubbers
(CDA)
|
14.07.1986
|
CDA 9, VVD 5
|
14
|
07.11.1989
|
CDA 7, PvdA 7
|
14
|
22.08.1994
|
PvdA 5, VVD 5, D66 4
|
14
|
Wim Kok
(PvdA)
|
03.08.1998
|
PvdA 6, VVD 6, D66 3
|
15
|
22.07.2002
|
CDA 6, VVD 4, LPF 4
|
14
|
Jan Peter Balkenende
(CDA)
|
16.10.2002
1
|
CDA 6, VVD 4, LPF 2
|
12
|
27.05.2003
|
CDA 8, VVD 6, D66 2
|
16
|
07.07.2006
|
CDA 9, VVD 7
|
16
|
22.02.2007
|
CDA 8, PvdA 6, CU 2
|
16
|
23.02.2010
2
|
CDA 9, CU 3
|
12
|
14.10.2010
|
VVD 6, CDA 6
|
12
|
Mark Rutte
(VVD)
|
05.11.2012
|
VVD 7, PvdA 6
|
13
|
26.10.2017
|
VVD 6, CDA 4, D66 4, CU 2
|
16
|
10.01.2022
|
VVD 8, D66 6, CDA 4, CU 2
|
20
|
1
Keine neue Regierung, zwei LPF-Minister ausgeschieden.
2
Keine neue Regierung, Veranderung durch Ausscheiden der PvdA.
|
Zweite Kammer
Das
Parlament
(
Staten-Generaal
, Generalstaaten oder Generalstande) besteht aus zwei Kammern. Die
Erste Kammer
hat 75 Mitglieder. Sie werden von den Volksvertretungen der zwolf Provinzen (
Provinciale Staten
) gewahlt. Die
Zweite Kammer
umfasst 150 Mitglieder und wird nach allgemeinem, gleichem, geheimem und direktem Wahlrecht gewahlt; sie ist das eigentliche Parlament. Die Wahlperiode beider Kammern dauert im Normalfall vier Jahre, jedoch wird die Zweite Kammer des Ofteren vorzeitig aufgelost. Das Recht dazu hat die Regierung. Mitglieder der Regierung und Staatssekretare durfen dem Parlament nicht angehoren.
Alle Gesetze, volkerrechtliche Vertrage und Kriegserklarungen bedurfen der Zustimmung beider Kammern. Gesetzentwurfe sind zuerst in der Zweiten Kammer zu beraten. Gesetzentwurfe konnen von der Regierung oder Mitgliedern der Zweiten Kammer eingebracht werden. Die Mitglieder der Ersten Kammer konnen dagegen weder Gesetzentwurfe einbringen noch Anderungsantrage stellen, sondern ein Gesetz nur unverandert annehmen oder verwerfen. Letzteres geschieht selten. Trotz theoretischer Gleichberechtigung ist die Zweite Kammer die wesentlich bedeutendere, die auch mehr Mitglieder hat und ofter tagt.
Da die
Gesetzgebung
immer eine Mehrheit in beiden Kammern erfordert, konnten theoretisch unterschiedliche politische Mehrheiten in beiden Kammern zu einer Blockade fuhren. Praktisch kam es bisher aber nicht dazu. Fast immer verfugte eine Regierung, die in der Zweiten Kammer uber eine Mehrheit verfugte, auch in der Ersten Kammer uber eine Mehrheit. Daher kommt es selten vor, dass wichtige Gesetze von der Ersten Kammer abgelehnt werden. Die von 2012 bis 2017 regierende VVD/PvdA-Regierung war die erste Regierung seit uber hundert Jahren, die (bis 2016) in der Zweiten Kammer eine Mehrheit hatte, in der Ersten Kammer aber nicht. Die Mitglieder der Ersten Kammer sind nebenberuflich als Parlamentarier tatig, die der Zweiten Kammer dagegen in aller Regel hauptberuflich und erhalten eine weit hohere Diat.
In wenigen Fallen entscheiden die beiden Kammern in gemeinsamer Sitzung, beispielsweise bei der alljahrlichen Haushaltsdebatte namens
Prinsjesdag
, bei Zustimmung zu einer Heirat eines Mitglieds des Konigshauses oder bei der Feststellung der Amtsunfahigkeit des Konigs. Die Erste Kammer wird oft als
Senaat
bezeichnet; steht der Name
Kamer
allein, dann ist damit fast immer die Zweite Kammer gemeint. Entsprechend nennt man ein Mitglied der Ersten Kammer
senator
und eines der Zweiten
kamerlid
.
Typischer Stimmzettel in den Niederlanden, hier einer zur Europawahl 2009
Die Zweite Kammer wird nach dem
Verhaltniswahlrecht
gewahlt. Die Niederlande sind in 20 Wahlkreise eingeteilt, allerdings spielen diese kaum eine Rolle, denn meist tritt eine Partei mit jeweils derselben Liste an. Nur auf den Listen von großeren Parteien unterscheiden sich manchmal die hinteren Platze nach Wahlkreis.
Sowohl politische Vereinigungen (Parteien) als auch Einzelpersonen durfen Listen einreichen, letzteres ist allerdings selten. Parteien konnen nur dann unter ihrem Namen an der Wahl teilnehmen, wenn ihr Name in einem beim Wahlrat (
Kiesraad
, der zugleich auf nationaler Ebene als Wahlausschuss fungiert) gefuhrten Register eingetragen ist. Dieses Register ist permanent; Parteien werden daraus aber gestrichen, wenn sie nicht an der letzten Wahl zur Zweiten Kammer teilgenommen haben. Einen Antrag auf Aufnahme ins Register konnen nur eingetragene (politische) Vereine stellen. Der Antrag muss spatestens am 86. Tag vor der Wahl eingereicht werden. Die Listen werden am 44. Tag vor der Wahl personlich von Wahlberechtigten eingereicht. Parteien ermachtigen hierfur einen Wahlberechtigten, eine Liste unter ihrem Namen einzureichen.
Bis 2009 durfte jede Liste maximal 30 Kandidaten enthalten. Bei Parteien, die bei der vorherigen Wahl mehr als 15 Sitze erhalten hatten, durfte jede Liste doppelt so viele Kandidaten enthalten wie es zuvor Sitze gab, hochstens aber 80. Durch eine am 1. Januar 2010 in Kraft getretene Gesetzesanderung darf eine Liste jetzt 50 Kandidaten umfassen bzw. 80, wenn die Partei bei der vorangegangenen Wahl mehr als 15 Sitze erhalten hat.
[5]
Fur Listen, die nicht von Parteien eingereicht werden, die bei der letzten Wahl mindestens einen Sitz erhalten haben, ist dem Staat eine Kaution von 11.250 Euro zu zahlen; außerdem sind in jedem Wahlkreis 30 Unterstutzerunterschriften erforderlich. Die Kaution wird zuruckgezahlt, wenn die Liste (bzw. Listengruppe) landesweit mindestens 0,5 % der Stimmen erhalt.
Von 1973 bis 2017 konnten Parteien mit einer oder mehreren anderen Parteien eine
Listenverbindung
(in der Begrifflichkeit des Wahlgesetzes hieß sie ?Listenkombination“) eingehen. Diese Parteien wurden gegenuber den ubrigen Parteien wie eine einzige Liste behandelt, was zu einem oder theoretisch auch mehreren zusatzlichen Sitzen fur die beteiligten Parteien fuhren konnte.
Plakat der Sozialdemokratie fur das allgemeine Wahlrecht fur Manner und Frauen, 1919
Bei der Wahl hat der Wahler eine Stimme. Diese gibt er genau genommen nicht einer Liste, sondern einem bestimmten Kandidaten auf der Liste. Die fur den jeweiligen Kandidaten abgegebene Stimme heißt
voorkeurstem
(Vorzugsstimme) in Bezug auf diesen Kandidaten. Normalerweise erhalt der Spitzenkandidat, der
lijsttrekker,
die allermeisten Vorzugsstimmen; ferner gibt es relativ viele Vorzugsstimmen fur die erste Frau auf der Liste oder fur Angehorige ethnischer Minderheiten. Manchmal findet man am Ende einer Liste einen prominenten Nichtpolitiker, beispielsweise einen Schriftsteller, der die Partei unterstutzen mochte
(lijstduwer)
. Dieser soll Stimmen von unentschlossenen Wahlern anziehen.
Bei der Sitzverteilung gelten Listen aus verschiedenen Wahlkreisen zusammen als eine Liste, wenn sie entweder von derselben politischen Gruppierung eingereicht wurden oder sie denselben Spitzenkandidaten haben. Fur die Verteilung der 150 Sitze wird zunachst die
Wahlzahl
ermittelt. Dazu teilt man die Zahl der gultigen Stimmen, die landesweit abgegeben wurden, durch die 150 Sitze; der Quotient ergibt den
kiesdeler
.
Jede Liste erhalt so viele Sitze, wie sich bei Teilung ihrer landesweiten Stimmenzahl durch den
kiesdeler,
abgerundet zu einer ganzen Zahl, ergeben. Auf diese Weise konnen aber nie alle Sitze vergeben werden. Bei der Verteilung der noch nicht zugewiesenen Sitze (Restsitze) werden nur die Listen berucksichtigt, deren Stimmenzahl mindestens gleich dem
kiesdeler
ist. Es besteht damit eine Sperrklausel von einem 1/150 (entspricht ca. 0,67 %) der Stimmen. Die Restsitze werden verteilt, indem jeweils derjenigen Liste ein weiterer Sitz zugewiesen wird, die bei Zuweisung eines zusatzlichen Sitzes die großte durchschnittliche Stimmenzahl je Sitz hatte (entspricht dem
D’Hondt-Verfahren
). Bei diesem Verfahren galten die einer Listenkombination (zum 1. Dezember 2017 abgeschafft) angehorenden Listen als eine Liste. Listen, die außerhalb einer Listenkombination keinen Sitz bekommen hatten, wurden jedoch nicht als Teil der Listenkombination betrachtet. Die Verteilung der Sitze einer innerhalb der Listenverbindung erfolgte nach dem
Hare/Niemeyer-Verfahren
.
Die auf die Liste entfallenen Sitze werden den Bewerbern der Liste mit den meisten Stimmen zugewiesen, hierbei werden aber nur Kandidaten berucksichtigt, deren Stimmenzahl mindestens ein Viertel (vor 1998: die Halfte) des
kiesdeler
betragt. Konnen so nicht alle Sitze besetzt werden, werden die verbleibendem Sitze den noch nicht gewahlten Kandidaten gemaß der Reihenfolge in der Liste zugeteilt.
Ein Beispiel: Bei der Wahl 2003 gab es insgesamt 9.654.475 gultige Stimmen. Der
kiesdeler
lag also bei 64.363,1666… (9.654.475 geteilt durch 150 Sitze). Um ein Viertel des
kiesdeler
zu erreichen, waren folglich 16.091 Stimmen erforderlich (64.363,166… geteilt durch 4, aufgerundet zur nachstgroßeren ganzen Zahl). Die
ChristenUnie
erhielt 204.694 Stimmen, damit standen ihr drei Sitze zu. Nun erhielten zuerst diejenigen Kandidaten Sitze, die mindestens je 16.091 Vorzugsstimmen erhalten hatten.
Listenplatz/ Bewerber
|
Vorzugsstimmen
|
Viertel des
kiesdeler
|
Gewahlt
|
1. A. Rouvoet
|
157594
|
x (Erster)
|
x
|
2. A. Slob
|
10281
|
|
x
|
3. L.C. van Dijke
|
6034
|
|
|
4. J.C. Huizinga-Heringa
|
19650
|
x (Zweite)
|
x
|
5. D.J. Stellingwerf
|
2053
|
|
|
6. R. Kuiper
|
470
|
|
|
7. R.J. Koppelaar
|
748
|
|
|
8. E. van der Sluis
|
508
|
|
|
…
|
(alle ubrigen <2000)
|
|
Die Kandidaten auf den Listenplatzen 1 und 4 hatten die Grenze 16.091 Stimmen uberschritten und waren in der Reihenfolge ihrer Stimmenzahlen gewahlt. Da der Liste noch ein weiterer Sitz zustand, ging dieser an den noch nicht gewahlten Kandidaten mit dem hochsten Listenplatz, den Kandidaten auf Platz 2. In diesem Fall konnte die Kandidatin auf Platz 4 durch ihre Vorzugsstimmen die Reihenfolge auf der Liste durchbrechen und sie wurde anstatt des Kandidaten auf Platz 3 gewahlt.
Sind die Listen einer Partei nicht in allen Wahlkreisen gleich, geschieht die Zuweisung der Sitze an die Bewerber wie folgt: Die Sitze der Partei insgesamt werden nach dem
Hare/Niemeyer-Verfahren
proportional auf die Listen in den einzelnen Wahlkreisen verteilt; exakt gleiche Listen in mehreren Wahlkreisen werden dabei wie eine Liste behandelt. Die Bewerber, die mindestens ein Viertel des
kiesdeler
erhalten haben, werden in der Reihenfolge ihrer Stimmenzahlen jeweils der Liste zugewiesen, auf der sie die meisten Stimmen erhalten haben (unter den Listen, auf denen noch Platze frei sind). Noch nicht vergebene Sitze werden mit den verbleibenden Kandidaten in der Reihenfolge in den einzelnen Listen besetzt. Ist danach ein Kandidat auf mehr als einer Liste gewahlt (was sehr oft vorkommt), werden alle mehrfach gewahlten Kandidaten der Liste zugewiesen, auf der sie die meisten Stimmen bekamen (unter den Listen, auf denen sie gewahlt waren). Dann werden die unbesetzten Platze mit den verbleibenden Bewerbern in der Listenreihenfolge besetzt. Sind wieder Kandidaten mehrfach gewahlt, wird die beschriebene Prozedur so oft wiederholt, bis alle Sitze einem Kandidaten zugewiesen sind.
In der Praxis der Wahlen zur Zweiten Kammer geschieht es recht haufig, dass Kandidaten ein Viertel des
kiesdeler
erreichen, aber selten wird dadurch jemand gewahlt, der es ansonsten nicht geschafft hatte. Bei der Wahl 2006 hatten zwar insgesamt 27 Kandidaten ausreichend Vorzugsstimmen, aber 26 von ihnen waren aufgrund ihres Listenplatzes ohnehin Abgeordnete geworden. Von 1922 bis 1989 kamen nur drei Kandidaten allein uber die Vorzugsstimme in die Kammer, wobei damals ein erheblich anderes Verfahren galt. 1994 wurde niemand nur durch Vorzugsstimmen gewahlt, seither waren es bei den Wahlen mindestens ein und hochstens vier Bewerber (2002, 2006 und 2012 jeweils einer; 1998, 2003, 2010 und 2023 jeweils zwei; 2021 drei; 2017 vier).
Bei Gemeinderatswahlen hingegen hat ein beliebter Kandidat, der massiv fur sich selbst wirbt, uberaus gute Chancen, trotz eines schlechten Listenplatzes gewahlt zu werden. Die Parteien tolerieren dies, solange ein Kandidat keinen Wahlkampf gegen Listenkollegen fuhrt.
Die Erste Kammer wird von den
statenleden
gewahlt, den Mitgliedern aller
Provinciale Staten
(der Provinzparlamente). Die Wahl findet knapp drei Monate nach der Neuwahl der Provinzparlamente statt, die gleichzeitig fur vier Jahre gewahlt werden. Dennoch gibt es keine feste Sitzzahl je Provinz. Fur jede Provinz konnen die Parteien eine Liste einreichen, die von einem Mitglied des Provinzparlaments unterzeichnet sein muss. In der Praxis reichen die Parteien in jeder Provinz, in der sie im Provinzparlament vertreten sind, die gleiche Liste ein. Die Sitze werden sehr ahnlich der Wahl zur Zweiten Kammer nach landesweitem Proporz verteilt. Da die kleinen Provinzen im Verhaltnis zur Bevolkerung eine hohere Anzahl an Mitgliedern in den Provinzparlamenten haben, werden die Stimmen mit einem Stimmwert gewichtet. Der Stimmwert bestimmt sich so, dass die Bevolkerungszahl der Provinz am 1. Januar des Wahljahres durch die hundertfache Anzahl der Sitze des Provinzparlaments geteilt und zur ganzen Zahl gerundet wird.
Fur die Provinz Limburg beispielsweise ergab sich fur die Wahl am 29. Mai 2007 danach bei 1.127.637 Einwohnern und 47 Sitzen ein Stimmwert von 1.127.637/(100 × 47) ? 239,92, gerundet 240. Die Stimmen fur die einzelnen Parteien werden mit dem Stimmwert der jeweiligen Provinz multipliziert und im ganzen Land summiert. Die Sitzverteilung erfolgt aufgrund der gewichteten Stimmenzahlen nach fast dem gleichen Verfahren wie beim oben beschriebenen Verfahren fur die Zweite Kammer. Allerdings werden bei der Vergabe der Restsitze auch die Parteien berucksichtigt, die weniger Stimmen erhalten haben als es dem
kiesdeler
entspricht. Um uber Vorzugsstimmen gewahlt zu werden, ist ferner statt 25 % des
kiesdelers
der volle
kiesdeler
erforderlich (bis einschließlich 2007: 50 %). Außerdem gibt es seit 2011 fur die Wahl zur Ersten Kammer keine Moglichkeit zur Listenverbindung mehr.
[6]
Da die Mitglieder der Provinzparlamente fast immer nach Parteilinie wahlen, ist das Ergebnis der Wahl recht vorhersehbar. Das Wahlverfahren in Verbindung mit der Praxis landesweit einheitlicher Listen tragt auch der Tatsache Rechnung, dass die Mitglieder der Ersten Kammer trotz ihrer Wahl durch die Provinzparlamente keine Vertreter der Provinzen sind. Ahnlich wie bei den Gemeinderatswahlen werden auch die Provinzwahlen stark von nationalen Themen bestimmt.
Seit 2017 konnen die niederlandischen Einwohner der drei
BES-Inseln
jeweils am Tag der Provinzwahlen in den europaischen Niederlanden die Mitglieder eines Wahlkollegiums wahlen, das an der Wahl der Ersten Kammer teilnimmt. Der Stimmwert ihrer Mitglieder wird berechnet, indem die Einwohnerzahl der Insel durch die Hundertfache Zahl der Mitglieder des Wahlkollegiums geteilt wird und das Ergebnis zur ganzen Zahl gerundet wird. Seit 2022 konnen auch die Auslandniederlander am Tag der Provinzwahlen ein Kollegium zur Teilnahme an der Wahl der Ersten Kammer wahlen. Der Stimmwert der Mitglieder dieses Kollegiums wird nach dieser Formel berechnet: Zahl der zur Wahl registrierten Auslandsniederlander geteilt durch 100, multipliziert mit der Einwohnerzahl der Niederlande, geteilt durch die Zahl der Wahlberechtigten in den Niederlanden und das Ergebnis gerundet zur ganzen Zahl.
[7]
[8]
In den Niederlanden gibt es eine bestimmte Verwendung des Begriffes
Dualismus
(niederlandisch
dualisme
). Er ruhrt von der Vorstellung her, dass sowohl Regierung als auch Parlament am Gesetzgebungsprozess beteiligt sind, also zwei Organe. Dementsprechend durfen Regierungsmitglieder nicht dem Parlament angehoren. Im Gegensatz dazu gilt, dass beispielsweise die britischen Regierungsmitglieder dem
House of Commons
angehoren mussen. Das ist aus niederlandischer Sicht
Monismus
.
Wer mehr Dualismus einfordert, der wunscht sich, dass das Parlament unabhangiger gegenuber der Regierung auftritt. Die Koalitionsparteien sollen ebenso wie die Oppositionsparteien die Regierung kritisch kontrollieren.
Die Niederlande kennen keine umfassende gesetzliche Regelung uber Parteien, wie es sie in Deutschland mit dem
Parteiengesetz
gibt. Ein Gesetz speziell fur Parteien hat man erst seit 1997 mit dem Gesetz zur Subventionierung politischer Parteien beschlossen. Es definiert als Partei eine politische Vereinigung, die fur die Wahl zur Zweiten Kammer im vom Wahlrat gefuhrten Register aufgenommen wurde. Eine Partei mit weniger als 1000 Mitgliedern erhalt jedoch grundsatzlich keine Staatssubvention, dafur ist sie allerdings auch nicht verpflichtet, die Herkunft ihrer Mittel wie zum Beispiel Spenden offenzulegen.
[9]
Die Staatssubvention sieht so aus, dass eine Partei pro Mitglied einen bestimmten Betrag erhalt. In Wahljahren ist dieser Betrag hoher.
In einer niederlandischen Partei ist der Parteivorsitzende verantwortlich fur das Funktionieren des Parteiapparats, er ist vergleichsweise wenig prominent. Der politische Fuhrer (oder Parteifuhrer,
politieke leider
oder
partijleider
) wird gesondert gewahlt und ist Spitzenkandidat bei Wahlen, also
lijsttrekker
.
Bei der
Wahl 2023
erhielten folgenden Parteien Sitze in der Zweiten Kammer:
Ferner gibt es in der Ersten Kammer die
Onafhankelijke Politiek Nederland
(OPNL): Es handelt sich um einen einzigen Abgeordneten, der vor allem kleinere Gruppierungen vertritt, die nur auf Provinzebene arbeiten. Bei der PVV handelt es sich nicht um eine Partei im eigentlichen Sinne, sie hat nur ein einziges Mitglied, namlich
Geert Wilders
.
[10]
Das Verfahren fur eine Verfassungsanderung ist langwierig. Zunachst wird ein Gesetz verabschiedet, mit dem erklart wird, eine Verfassungsanderung in Erwagung zu ziehen, die in diesem Gesetz ausformuliert wird. Wie bei gewohnlichen Gesetzen reicht zur Annahme die einfache Mehrheit in beiden Kammern. Danach wird die Zweite Kammer aufgelost. In der Praxis wird die Zweite Kammer aber nicht eigens hierfur aufgelost, sondern man wartet, bis entweder eine regulare Wahl ansteht oder die Kammer wegen einer Regierungskrise aufgelost wird. Im Wahlkampf vor Parlamentswahlen spielen geplante Verfassungsanderungen praktisch keine Rolle. Nach der Neuwahl der Zweiten Kammer wird uber die Verfassungsanderung erneut beraten, nun ist zur Annahme in beiden Kammern die Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen erforderlich. Der Entwurf darf nach der Neuwahl nicht verandert werden, wohl aber von der Zweiten Kammer in mehrere Gesetzentwurfe aufgeteilt werden.
Direkte Demokratie sieht die Verfassung in keiner Form vor. 1999 scheiterte eine Verfassungsanderung, nach der 600.000 Burger ein rechtlich bindendes Referendum gegen die meisten vom Parlament verabschiedeten Gesetze hatten verlangen konnen, weil die erforderliche Zweidrittelmehrheit in der Ersten Kammer um eine Stimme verfehlt wurde. Die rechtlich nicht bindende Abstimmung uber die
EU-Verfassung
am 1. Juni 2005 (61,6 % stimmten dagegen) war die erste Volksabstimmung, die seit dem Inkrafttreten der Verfassung von 1815 jemals auf nationaler Ebene stattfand. Sporadisch haben auch einzelne Gemeinden rechtlich unverbindliche Volksabstimmungen abgehalten.
Nach einem am 1. Juli 2015 in Kraft getretenen und 2018 aufgehobenem Gesetz wurde ein nicht bindendes,
suspensives Referendum
uber ein bereits verabschiedetes, jedoch nicht in Kraft getretenes Gesetz durchgefuhrt, wenn 300.000 Burger dies verlangten. Hiervon ausgenommen waren (wie bereits bei der gescheiterten Verfassungsanderung) Gesetze uber das Konigshaus und den Haushalt sowie Gesetze, die ausschließlich die Umsetzung volkerrechtlicher Vertrage beinhalteten. Das Referendum war nur bei einer Wahlbeteiligung von mindestens 30 % gultig. Wurde ein Gesetz in einem gultigen Referendum mehrheitlich abgelehnt, trat es zunachst nicht in Kraft. In diesem Fall musste der Gesetzgeber ein neues Gesetz erlassen, um es entweder aufzuheben oder ein Inkrafttreten zu erzwingen.
[11]
Bei Dringlichkeit war es moglich, ein Gesetz vor einem moglichen Referendum in Kraft treten zu lassen. Das erste Referendum, das mittels dieses Gesetzes erzwungen wurde, war das
Referendum uber das Assoziierungsabkommen zwischen der Europaischen Union und der Ukraine
, das am 6. April 2016 stattfand (61 % stimmten dagegen). Am 21. Marz 2018 fand das
zweite und letzte suspensive Referendum
statt, bei dem eine knappe Mehrheit gegen ein Gesetz uber mehr Befugnisse fur Sicherheitsdienste stimmte. Die Regierung kundigte an, das Gesetz in leicht veranderter Form in Kraft zu setzen.
[12]
Die Abschaffung des suspensiven Referendums trat am 12. Juli 2018 in Kraft. Das Aufhebungsgesetz schoss aus, dass uber die Abschaffung des Referendums ein Referendum stattfinden konnte.
[13]
Die Niederlande sind zentralistisch organisiert. Der Staatsaufbau ist dreistufig: Zentralstaat ? Provinzen ? Gemeinden. Die subnationalen Ebenen erhalten ihre Finanzmittel großtenteils vom Zentralstaat; ein zentraler Fonds fur die Provinzen bzw. einer fur die Gemeinden verteilt das Geld anhand von Kriterien wie der Einwohnerzahl, der Verstadterung und Risikofaktoren. Eigene Einnahmen wie ein Zuschlag auf die Kraftfahrzeugsteuer (Provinzen) oder eine Immobiliensteuer (Gemeinden) spielen nur eine geringe Rolle. Auch ansonsten konnen Provinzen und Gemeinden eher wenig selbst bestimmen, um zum Beispiel Unternehmen anzulocken oder eigene politische Schwerpunkte festzulegen.
Die Regierung kann Beschlusse der Provinzen und Gemeinden aufheben, was aber selten geschieht. Im finanziellen Notfall wird eine Gemeinde unter Kuratel der betreffenden Provinz gestellt. Dann entscheidet letztlich die Provinz uber den Haushalt der Gemeinde. Auch dies ist selten.
Die zwolf Provinzen der Niederlande.
Provinciehuis
von
Groningen
(in der
Hauptstadt der gleichnamigen Provinz
)
Die Einteilung des Landes in Provinzen ist durch einfaches Gesetz geregelt und entsprechend konnen Provinzen durch einfaches Gesetz gebildet oder aufgelost werden. Die althergebrachte Provinzeinteilung wurde jedoch seit 1815 nur zweimal nennenswert geandert und zwar 1840 mit der Teilung der Provinz Holland in
Noord
- und
Zuid-Holland
und 1986 mit der Bildung der Provinz
Flevoland
. Damit gibt es heutzutage zwolf Provinzen. Die Provinzen haben relativ geringe Befugnisse und sind nicht mit deutschen oder osterreichischen Bundeslandern zu vergleichen. Zustandig sind sie unter anderem fur Raumplanung, offentlichen Personennahverkehr, Naturschutz und Rechtsaufsicht fur die Gemeindefinanzen.
Direkt von den Burgern gewahltes Organ der Provinzen ist das Provinzparlament (
Provinciale Staten
, wortlich Provinzialstande), die derzeit zwischen 39 und 55 Mitglieder haben, die ehrenamtlich tatig sind. Das Wahlverfahren ist fast identisch mit dem zur Zweiten Kammer. Im Wesentlichen sind auf Provinzebene dieselben politischen Krafte vertreten wie auf nationaler Ebene. Manchmal gibt es dort regionale Gruppierungen, die aber (außer in
Friesland
) keine große Rolle spielen.
An der Spitze der Provinzverwaltung stehen die
Gedeputeerde Staten
, bestehend aus dem vom Innenminister auf sechs Jahre ernannten
Kommissar des Konigs
(
Commissaris van de Koning
) und drei bis sieben Deputierten, die vom Provinzparlament mit absoluter Mehrheit der gultigen Stimmen geheim gewahlt werden. Die Amtszeit der Deputierten endet in jedem Fall mit dem Ende der Wahlperiode der Provinzialstaten, sie konnen aber auch vom Provinzparlament abgewahlt werden. Der Kommissar des Konigs kann vom Innenminister jederzeit entlassen werden. Das Provinzparlament kann dem Innenminister die Entlassung des Kommissars vorschlagen. Bis 2003 wahlte das Provinzparlament die Deputierten aus seiner Mitte, seitdem durfen Deputierte nicht mehr dem Provinzparlament angehoren. Soweit Befugnisse nicht dem Kommissar allein ubertragen sind (zum Beispiel beim Katastrophenschutz) entscheiden die
Gedeputeerde Staten
mit Stimmenmehrheit, bei zweimaliger Stimmengleichheit gibt die Stimme des Kommissars den Ausschlag.
Die Politik auf Provinzebene ist starker konsensorientiert als die nationale Politik. Oft sind mehr Parteien in den
Gedeputeerde Staten
vertreten als zum Erreichen der absoluten Mehrheit in den Provinzialstaten erforderlich sind, aber auch Koalitionen mit knapper Mehrheit kommen vor.
Die niederlandischen Gemeinden, 2023
Alle Gemeinden haben unabhangig von der Große die gleichen Befugnisse. Auch deshalb drangt die Regierung auf die Auflosung kleinerer Gemeinden. Durch teils freiwillige, teils erzwungene Fusionen sinkt die Zahl der Gemeinden kontinuierlich. 1996 gab es 642 Gemeinden, am 1. Januar 2023 waren es noch 342. In Amsterdam und Rotterdam bestanden bis Marz 2014
deelgemeenten
, also Stadtteile mit je eigener Volksvertretung.
Oberstes Organ der Gemeinde ist der Gemeinderat. Der Rat wird auf vier Jahre von den volljahrigen Burgern in der Gemeinde nach Verhaltniswahl gewahlt. Wahlberechtigt sind auch EU-Auslander und weitere Auslander, die sich seit mindestens funf Jahren ununterbrochen rechtmaßig in den Niederlanden aufhalten. Die Anzahl der Ratsmitglieder
(raadsleden)
liegt je nach Gemeindegroße zwischen 9 (bis 3.000 Einwohner) und 45 (uber 200.000 Einwohner). Der Rat trifft alle Entscheidungen, die nicht durch Gesetz dem
college van burgemeester en wethouders
(Gemeinderegierung,
Magistrat
) oder dem
Burgermeister
vorbehalten sind.
Das Verfahren der Sitzverteilung fur die Rate in Gemeinden ab 20.000 Einwohnern ist fast identisch mit dem zur Zweiten Kammer, jedoch sind Gemeinden nie in Wahlkreise unterteilt; eine Sperrklausel besteht nicht. Bei Gemeinderaten mit weniger als 19 Mitgliedern (Gemeinden unter 20.000 Einwohner) werden die Sitze statt nach dem
d’hondtschen Hochstzahlverfahren
nach dem
Hare/Niemeyer-Verfahren
verteilt mit der Sonderregelung, dass Gruppierungen, die weniger als 75 % des
kiesdelers
bekommen, keinen Sitz erhalten. Die Hurde fur die Durchbrechung der Listenreihenfolge betragt 50 statt 25 % des
kiesdelers
. Im Gegensatz zu Wahlen zur Zweiten Kammer werden bei Gemeinderatswahlen haufiger Kandidaten nur dank Praferenzstimmen gewahlt. Lokale Gruppierungen spielen bei Kommunalwahlen eine große Rolle, wobei deren Bedeutung in kleineren Gemeinden am großten ist.
Gemeinderatssitzung in
Oude IJsselstreek
. Vorn links Burgermeister Hans Alberse als Vorsitzender des Gemeinderates. Im Hintergrund rechts sitzen seine Kollegen, die
wethouders
. Ganz rechts dort wurde ein Stuhl fur Alberse als Mitglied des
college van burgemeester en wethouders
freigelassen. Stellt der Gemeinderat Fragen an Burgermeister Alberse in dessen Eigenschaft als Mitglied des
college
, so begibt Alberse sich auf diesen Stuhl, und ein Mitglied des Gemeinderats leitet als stellvertretender Vorsitzender die Gemeinderatssitzung.
Der Burgermeister (
burgemeester
) wird auf Vorschlag des Innenministers durch koniglichen Beschluss auf sechs Jahre ernannt. Nach Ablauf ist erneute Ernennung moglich. Dem Vorschlag des Ministers geht ein Vorschlag des Gemeinderates unter Mitwirkung des Kommissars des Konigs voraus, an diesen Vorschlag ist der Innenminister in der Regel gebunden. Der Burgermeister kann durch koniglichen Beschluss auf Vorschlag des Innenministers jederzeit entlassen werden. Der Rat kann dem Innenminister die Entlassung des Burgermeisters vorschlagen. Es kam aber auch schon vor, dass ein Burgermeister von sich aus zurucktrat, nachdem der Rat ihm das Misstrauen ausgesprochen hatte, so z. B. im Januar 2010 in
Maastricht
.
Die Geschafte der Gemeinde werden großtenteils vom Magistrat gefuhrt, der aus dem Burgermeister und Beigeordneten besteht. Im Niederlandischen spricht man vom
College van burgemeester en wethouders
(kurz
college
oder
B en W
). Das Wort
wethouder
wird im Deutschen mit Beigeordnete ubersetzt, gemeint ist ein Magistratsmitglied mit Aufgaben, die ihm bei der Koalitionsbildung zugewiesen worden sind, wie Kultur oder Soziales.
Nur wenn dem Burgermeister durch Gesetz bestimmte Aufgaben zugewiesen werden, entscheidet er eigenstandig, dies betrifft im Wesentlichen die Vertretung der Gemeinde nach außen und Befugnisse zur Aufrechterhaltung der offentlichen Ordnung. Ansonsten hat der Burgermeister vor allem Koordinationsfunktion als Vorsitzender des Magistrats, er ist aber kein Vorgesetzter der Beigeordneten. Der Magistrat entscheidet mit Stimmenmehrheit, bei zweimaliger Stimmengleichheit entscheidet die Stimme des Burgermeisters.
Die
wethouders
werden vom Rat in geheimer Wahl mit absoluter Mehrheit der gultigen Stimmen gewahlt. Bis 2002 mussten die
wethouders
dem Rat angehoren, seither durfen sie nicht mehr Mitglieder des Rates sein. Ihre Amtszeit endet mit dem Ende der Wahlperiode des Rates.
Wethouders
konnen vom Rat abgewahlt werden.
Die Zahl der
wethouders
betragt mindestens zwei und hochstens ein Funftel der Zahl der Mitglieder des Rates, gerundet zur nachsten ganzen Zahl. Gibt es in Teilzeit tatige Beigeordnete, liegt die Hochstzahl bei einem Viertel der Ratsmitglieder.
Ahnlich wie auf Provinzebene gibt es auf Gemeindeebene sowohl Koalitionen mit knapper Mehrheit als auch breite Koalitionen mit mehr Partnern als zur Mehrheit im Rat erforderlich. Die oft große Zersplitterung kann dazu fuhren, dass auch ideologisch weit auseinanderliegende Parteien gleichzeitig im Magistrat vertreten sind, zum Beispiel VVD und SP.
Zu Burgermeistern werden haufiger ehemalige Minister und auch Mitglieder der Zweiten Kammer ernannt. Umgekehrt kann eine Tatigkeit als
wethouder
in einer großeren Stadt Sprungbrett in die nationale Politik sein, Beispiele sind die ehemaligen Ministerprasidenten
Willem Drees
und
Joop den Uyl
.
Nach Auflosung der
Niederlandischen Antillen
sind die karibischen Inseln
Bonaire
,
Sint Eustatius
und
Saba
mit zusammen knapp 20.000 Einwohnern seit dem 10. Oktober 2010 als
Besondere Gemeinden
Teil der Niederlande, jedoch nicht Teil der EU. Sie werden auch
BES-Inseln
(
BES-eilanden
, wegen der Anfangsbuchstaben) genannt.
Jede der Inseln bildet eine
offentliche Korperschaft
(
openbaar lichaam
), fur die grundsatzlich dieselben Regelungen gelten wie fur die ubrigen niederlandischen Gemeinden, soweit nicht durch Gesetze abweichende Regelungen gelten. Schrittweise wird auf den BES-Inseln das niederlandische Recht eingefuhrt, jedoch ist statt des Euro der US-Dollar offizielle Wahrung. Die Inseln gehoren keiner Provinz an, an die Stelle des Kommissars des Konigs tritt der
Reichsvertreter
(
Rijksvertegenwoordiger voor de openbare lichamen Bonaire, Sint Eustatius en Saba
). Die dort lebenden Niederlander sind kunftig uneingeschrankt aktiv und passiv wahlberechtigt fur die Wahl zur Zweiten Kammer, nachdem bisher nur solche dort lebende Niederlander hierfur wahlberechtigt waren, die mindestens 10 Jahre ihren Wohnsitz in den Niederlanden hatten oder im niederlandischen offentlichen Dienst arbeiteten.
Die Niederlande gehoren zum kontinentaleuropaischen
Rechtskreis
. Das niederlandische Recht war stark vom franzosischen beeinflusst. Im 20. Jahrhundert naherten sich die Niederlande teilweise dem deutschen an und kamen teilweise zu eigenen Losungen. Auf diese Weise haben die Niederlande ein romisch-germanisches Recht erhalten.
Unterste Stufe der Rechtsprechung und zumeist erste Instanz bilden 11
rechtbanken
(deutschen
Amtsgerichten
vergleichbar), die in ihren recht großen Einzugsbereichen meist mehrere Sitzungsorte haben. In Straf- und Steuersachen sowie in Rechtsstreitigkeiten auf dem Gebiet des burgerlichen Rechts kann gegen ihre Urteile
Berufung
bei einem der vier
gerechtshoven
(Einzahl:
gerechtshof
) eingelegt werden. Gegen Entscheidungen der gerechtshoven ist Kassation (entspricht der deutschen
Revision
) beim
Hohen Rat
moglich. Berufungsinstanz auf dem Gebiet des
Verwaltungsrechts
, selten auch erste Instanz, ist entweder der
Centrale Raad van Beroep
(Sozial- und Beamtenrecht), das
College van Beroep voor het bedrijfsleven
(
Wirtschaftsverwaltungsrecht
) oder der
Raad van State
(ubriges Verwaltungsrecht); gegen Urteile dieser Gerichte gibt es keine Rechtsmittel.
Eine
Verfassungsgerichtsbarkeit
existiert nicht. Artikel 120 der Verfassung verbietet es Richtern sogar ausdrucklich, Gesetze auf ihre Verfassungsmaßigkeit zu prufen. Grund dafur ist der Gedanke der Gewaltenteilung. In der Rechtsprechung gibt es keinerlei Mitwirkung durch
ehrenamtliche Richter
.
Die Staatsanwaltschaften verfahren nach dem
Opportunitatsprinzip
und mussen Straftaten nicht unbedingt verfolgen, wenn sie davon Kenntnis erlangen, wahrend eine deutsche Staatsanwaltschaft dies normalerweise tun muss. Politisch ist das bedeutsam fur die Drogenpolitik. Der Besitz kleiner Mengen Drogen fur den eigenen Konsum wird in aller Regel nicht verfolgt, obwohl er strafbar ist. Das Opportunitatsprinzip ermoglicht eine pragmatische und flexible Gesetzeshandhabung, kann aber zu Widerspruchen fuhren. So wird der Verkauf ?weicher“ Drogen in
Coffeeshops
(und nur dort) geduldet, sofern sie eine Reihe von Bedingungen erfullen. Diese Coffeeshops konnen aber eigentlich nicht an die verkauften Drogen gelangen, da weder ihr Anbau zu gewerblichen Zwecken noch die Einfuhr legal ist oder geduldet wird.
[14]
Coffeeshop
in Amsterdam
In den 1980er-Jahren wurde eine permissive Politik eingefuhrt, die auf dem Prinzip des
gedogens
(Duldens) beruht: Etwas, das prinzipiell nicht unbedingt befurwortet wird, wird dennoch toleriert, da eine restriktive Politik schlimmere Folgen hatte. Bekannte Beispiele sind die Prostitution und der Drogenkonsum. Dennoch ist auch in den Niederlanden nicht alles erlaubt, und es gibt durchaus eine heftige Diskussion uber die
Coffeeshops
, in denen ?
weiche Drogen
“ quasi-legal verkauft und konsumiert werden konnen. Die Niederlande waren ferner der erste Staat, der die
gleichgeschlechtliche Ehe
(homohuwelijk)
ermoglicht hat. Ein weiterer Punkt in diesem Zusammenhang ist die Tolerierung der aktiven
Sterbehilfe
(euthanasie)
, die vor allem von den beiden strengreligiosen Parteien kritisiert wird.
Zum
gedogen
gehorte auch die Auslanderpolitik, die unter dem Motto stand: Integration unter Beibehaltung der eigenen Kultur. Diese Politik ist Ende der 1990er-Jahre wieder stark kritisiert worden, nicht nur von Politikern der Rechten. Bereits 2000 warnte der sozialdemokratische Professor
Paul Scheffer
vor einem ?multikulturellen Drama“, das die großte Bedrohung des gesellschaftlichen Friedens sei.
[15]
Internationale Aufmerksamkeit erhielt der Fall
Pim Fortuyn
: Der Rechtspopulist hatte in den Umfragen zur Parlamentswahl 2002 große Stimmengewinne vorhergesagt bekommen, und tatsachlich wurde seine Partei ? trotz der Ermordung Fortuyns kurz zuvor ? aus dem Stand heraus zweitgroßte Kraft im Parlament. Am 2. November 2004 wurde auch der Filmemacher
Theo van Gogh
ermordet. Fortuyn und van Gogh hatten gemein, dass sie nicht zuletzt durch Kritik am
Islam
bekannt wurden, dass sie aber beide nicht dem traditionellen Rechtsextremismus zugeordnet werden konnten.
Als Folge des Mordes an van Gogh wurden Brandanschlage auf Moscheen verubt, und es kam zu Hassbekundungen insbesondere gegen Auslander muslimischer Religion, aber auch zu Ubergriffen auf Kirchen. Die Vorfalle losten heftige Diskussionen uber die
Integration
von Auslandern und uber das
Zusammenleben
verschiedener Kulturen und Religionen aus. Große Bevolkerungsteile fordern seither eine rigorose Politik gegen gewalttatige Einwanderer und eine Anderung der als zu liberal empfundenen Einwanderungsgesetze. Mehrere Politiker stehen seither unter Polizeischutz, da sie weiterhin von radikalen Islamisten bedroht werden.
Seit dem 15. Marz 2006 mussen Personen, die in die Niederlande einwandern wollen, einen Test absolvieren. Der Test enthalt Fragen uber Sprachkenntnisse, Kultur und einige weitere Themen. Zudem wurde das Mindesteinwanderungsalter auf 21 Jahre angehoben.
Die niederlandische Demokratie gilt international als sehr stabil, auch in Krisenzeiten wie den 1930er-Jahren. Zwar gibt es viele Parteien im Parlament, doch ist dauerhaft nur eine kleine Gruppe von Parteien relevant fur die Regierungsbildung. An der Stabilitat tut auch die haufige Parlamentsauflosung mit anschließenden Neuwahlen keinen Abbruch.
Eine Studie hat eine große Zufriedenheit der Bevolkerung mit der Politik festgestellt; dies im Gegensatz zu einer in der Presse oft wiedergegebenen allgemeinen Wahrnehmung. So fanden die Forscher heraus, dass beispielsweise junge Menschen zwar wenig Interesse fur Politik aufbringen, aber nicht misstrauischer, sondern weniger misstrauisch sind als Altere. Es konnte auch nicht bestatigt werden, dass die Unzufriedenheit der Bildungsfernen immer großer werde. Das Abnehmen des Vertrauens in besonderen Situationen, wie am Ende der Sechziger oder um die Zeit von
Pim Fortuyn
, ging bald wieder zuruck.
[16]
86 Prozent der Niederlander sind stolz auf ihr Land, 93 Prozent finden das System der proportionalen Reprasentation am besten, 77 Prozent ist mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden. Auch ist das Vertrauen, im Vergleich zu anderen europaischen Landern, in das Parlament, die Parteien, die Politiker und sogar in die Regierung hoch.
[17]
- Arco Timmermanns, Peter Scholten, Steven Oostlander:
Gesetzgebung im politischen System der Niederlande
. In:
Wolfgang Ismayr
(Hrsg.):
Gesetzgebung in Westeuropa. EU-Staaten und Europaische Union.
VS Verlag fur Sozialwissenschaften
, Wiesbaden 2008,
ISBN 978-3-8100-3466-3
, S. 271?302.
- Norbert Lepszy, Markus Wilp:
Das politische System der Niederlande
. In:
Wolfgang Ismayr
(Hrsg.):
Die politischen Systeme Westeuropas.
4. Auflage, VS Verlag fur Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2009,
ISBN 978-3-531-16464-9
, S. 405?450.
- Markus Wilp:
Das politische System der Niederlande. Eine Einfuhrung
. VS Verlag fur Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2012,
ISBN 978-3-531-18579-8
.
- ↑
Ministerie van Binnenlandse Zaken en Koninkrijksrelaties:
Statuut voor het Koninkrijk der Nederlanden.
Abgerufen am 7. Juli 2023
(niederlandisch).
- ↑
democracy-index-2019.
Abgerufen am 7. Juli 2023
.
- ↑
Klaus Max Smolka:
Wahl in den Niederlanden: Geert Wilders in der Analyse
. In:
FAZ.NET
. 12. Marz 2017,
ISSN
0174-4909
(
faz.net
[abgerufen am 7. Juli 2023]).
- ↑
Staatshoofd speelt voortaan geen rol meer bij formatie.
19. Marz 2012,
abgerufen am 7. Juli 2023
(niederlandisch).
- ↑
Ministerie van Binnenlandse Zaken en Koninkrijksrelaties:
Wet van 29 oktober 2009, houdende wijziging van de Kieswet en enkele andere wetten houdende invoering van het stemmen met een stempas in een stembureau naar keuze binnen de eigen gemeente.
10. November 2009,
abgerufen am 7. Juli 2023
(niederlandisch).
- ↑
Lijstverbindingen niet meer mogelijk bij verkiezingen Eerste Kamer.
16. November 2010,
abgerufen am 7. Juli 2023
(niederlandisch).
- ↑
Kieswet, Art. Ua 4, Ya30
- ↑
Ministerie van Binnenlandse Zaken en Koninkrijksrelaties:
Nederlandse kiezers in het buitenland nu ook invloed op samenstelling Eerste Kamer - Nieuwsbericht - Rijksoverheid.nl.
18. Oktober 2022,
abgerufen am 7. Juli 2023
(niederlandisch).
- ↑
Wet subsidiering politieke partijen
(
Memento
des
Originals
vom 15. August 2022 im
Internet Archive
)
Info:
Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht gepruft. Bitte prufe Original- und Archivlink gemaß
Anleitung
und entferne dann diesen Hinweis.
@1
@2
Vorlage:Webachiv/IABot/www.st-ab.nl
Stichting AB
- ↑
Joep Dohmen:
Alleen Wilders lid PVV
(
Memento
vom 13. Februar 2010 im
Internet Archive
)
.
- ↑
Wet van 30 september 2014, houdende regels inzake het raadgevend referendum.
- ↑
Ministerie van Algemene Zaken:
Kabinet scherpt Wiv 2017 aan - Nieuwsbericht - Rijksoverheid.nl.
6. April 2018,
abgerufen am 7. Juli 2023
(niederlandisch).
- ↑
Ministerie van Binnenlandse Zaken en Koninkrijksrelaties:
Wet van 10 juli 2018 tot intrekking van de Wet raadgevend referendum.
11. Juli 2018,
abgerufen am 7. Juli 2023
(niederlandisch).
- ↑
Richtlinie der Staatsanwaltschaft fur Drogen
(
Memento
vom 6. Juli 2011 im
Internet Archive
)
- ↑
Dossier Multiculturele Samenleving.
Abgerufen am 7. Juli 2023
.
- ↑
'Sla geen alarm over democratie'.
17. April 2014,
abgerufen am 7. Juli 2023
(niederlandisch).
- ↑
'Sla geen alarm over democratie'.
17. April 2014,
abgerufen am 7. Juli 2023
(niederlandisch).