Pioniere in Ingolstadt (Film)

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Film
Titel Pioniere in Ingolstadt
Produktionsland Bundesrepublik Deutschland
Originalsprache Deutsch
Erscheinungsjahr 1971
Lange 83 Minuten
Altersfreigabe
Produktions­unternehmen Janus Film und Fernsehen, antiteater -X-Film im Auftrag des ZDF
Stab
Regie Rainer Werner Fassbinder
Drehbuch
Musik Peer Raben
Kamera Dietrich Lohmann
Schnitt Thea Eymesz
Besetzung

Pioniere in Ingolstadt ist eine Verfilmung des gleichnamigen Theaterstucks von Marieluise Fleißer durch den Regisseur, Autor und Darsteller Rainer Werner Fassbinder mit dem Ensemble des antiteaters . Innerhalb von drei Jahren war es Fassbinders neunter Spielfilm. Zum dritten Mal konnte Fassbinder im Auftrag des Fernsehens drehen (im November 1970 in 25 Tagen), erstmals im Auftrag des ZDF . Das Budget betrug 550.000 Deutsche Mark. Die Urauffuhrung war am 19. Mai 1971 im ZDF. [1]

Handlung [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Ein Pionierbautrupp zieht in Ingolstadt ein, um eine Brucke zu errichten. Dort lebt das Dienstmadchen Berta bei Kaufmann Unertl, der seinen Sohn Fabian drangt, sie fur sexuelle Erfahrungen zu nutzen. Berta mag ihn nicht und verliebt sich in den Soldaten Karl. Doch dieser sieht sie nur als ein weiteres Abenteuer und verlasst sie bald wieder.

Hintergrund [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Bei Pioniere in Ingolstadt zeigt sich erneut Fassbinders Interesse daran, sowohl Theater als auch Film als Ausdrucksform zu nutzen. Von den neun Spielfilmen, die Fassbinder 1969?1971 drehte, sind vier Theaterverfilmungen: Vor Pioniere in Ingolstadt verfilmte er zwei eigene Stucke ( Katzelmacher , Der amerikanische Soldat ) und ein Stuck von Carlo Goldoni ( Das Kaffeehaus ).

Ende der 1960er Jahre wurde Marieluise Fleißer (nach Elfriede Jelinek die ?großte Dramatikerin des 20. Jahrhunderts“) wiederentdeckt. Dies war auch ein Verdienst von Fassbinders Auffuhrung der Pioniere in Ingolstadt durch das antiteater , die im Februar 1968 unter dem Titel ? Zum Beispiel Ingolstadt “ im Munchener Buchner-Theater stattfand. Marieluise Fleißer hatte angeblich alle Versionen ihres Stuckes Pioniere in Ingolstadt personlich aufgekauft, weil es ihr nicht gefiel. Sie erfuhr aus der Zeitung, dass ihr Stuck in einer stark bearbeiteten Fassung gespielt werden sollte. Zuletzt hatte die von Brecht 1933 stark veranderte Fassung fur einen Skandal gesorgt und das Stuck auf die Liste des schadlichen und unerwunschtem Schrifttums gebracht. Sie wollte die Fassbinder-Auffuhrung unterbinden und nahm sich einen Anwalt. ?Ich weiß, dass Rainer sich darum personlich bemuhte, dass sie seine Bearbeitung akzeptierte. Peer Raben fuhr zu ihr nach Ingolstadt und lud sie zur Generalprobe ein. Sie kam dann zusammen mit Therese Giehse . Es gefiel ihnen.“ Sie stimmte einer Auffuhrung mit verandertem Titel zu. [2] [3] [4]

Marieluise Fleißer hat in Fassbinders Buhnenstuck ? Katzelmacher “ (Buhne: 1968, Film: 1969) gesehen, wie beeinflusst er sich zeigte, von ?ihrer Lakonie, ihrer sozialen Genauigkeit, dem Wechselspiel von Komischem und Tragischem, auch der Sehnsucht nach Gluck, die ihre Figuren ausstrahlen und die doch nie Erfullung findet“. [5]

Fassbinder uber seine Literaturverfilmungen: ?Wenn ich die Geschichten von anderen verfilme, liegt das daran, dass ich sie genauso gut auch selbst hatte schreiben konnen, da sie sich mit Problemen und Themen beschaftigen, mit denen ich mich bereits in meinen eigenen Stoffen beschaftigt habe.“ [6]

Der Hauptdarsteller Harry Baer sagt uber Pioniere in Ingolstadt , dass der Film am Ende eines ersten Produktionsrausches stand, auf den bis zur Produktion von Handler der vier Jahreszeiten eine einjahrige Schaffenspause folgte. ? Pioniere in Ingolstadt war ein Hohepunkt an Durcheinander, der Film ist ein grober Schnitzer. Der `Handler´ dagegen ist vollig gradlinig erzahlt, die Story ist stimmig.“ [7]

Fassbinders Kameramann Dietrich Lohmann sagt auf die Frage, ob man durch die Filme von Fassbinder die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland rekonstruieren konne: ? Ich glaube schon. Gerade bei seinen ersten Filmen, die ich personlich am Besten finde, besonders ` Handler der vier Jahreszeiten `, ´ Niklashauser Fart `, ´Pioniere in Ingolstadt`, ´ Wildwechsel ` und dann ´ Fontane Effi Briest `. Aus diesen Filmen kann man uber die Bundesrepublik, uber die fruhe Bundesrepublik, sehr viel erfahren. Und zwar uber das Burgerliche , die Unfahigkeit zur Kommunikation , die Auslanderfeindlichkeit . (...) Die Kommunikationsunfahigkeit zwischen Menschen, das war, glaube ich, sein Hauptthema. Deshalb sind ja auch alle Dialoge sehr kurz, aber doch eindeutig. [8]

Kritik [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

?Es ist die Uberzeugung von Rainer Werner Fassbinder, der die filmische Realisierung der Fleißerschen Pioniere unternommen hat, dass die Grundbezuge und -Inhalte des Stucks nicht nur fur die Entstehungszeit, die Weimarer Republik , gelten, sondern fur jede Form kleinburgerlicher Gesellschaft. (...) In Motiven, Stimmung und sozialem Milieu fuhlt man sich an Fassbinders Film Katzelmacher erinnert. Hier wie dort Kleinstadtmief ? Ingolstadt ist nur ein Name ?, die Langeweile einer kleinburgerlichen Welt, die durch Sexspiele verdrangt werden soll. Sexualneid ? hier bei den Madchen ? und schließlich eine unsentimentale Trauer uber den Verlust der Liebe. Wieder bedient sich Fassbinder des stilisierten frankischen Idioms, in dem die Satze wie gestanzt sind. Karls wegwerfendes ?Wenn Menschen auseinandergehn, dann sagen sie auf Wiedersehn“, nachdem sich Berta ihm hingegeben hat, kommt ebenso schleppend und langsam daher wie die einfachen Bekenntnisse des Herzens. Großartig sind die Szenen im Wirtshaus, wo die Kleinstadtschonheiten ? vor allem zu nennen Carla Aulaulu ? zu altmodischer Klaviermusik tanzen, auf der Toilette Geheimnisse austauschen, sich streiten. Einpragsam das Fruhstucksgesprach zwischen dem Metzgermeister und seinem Sohn, wo es der Kamera, die zwischen beiden, immer an der olgemalten Alpenlandschaft vorbei, hin- und herhuscht, gelingt, ein Portrat des Missverstandnisses und der Einsamkeit zu zeichnen (Kamera: Dietrich Lohmann ). Der Film, schwarzweiß (sic!) und ohne jede Oberflachengelacktheit, spielt meistens in der Dunkelheit. Es ist ein Nachtfilm, traurig, zum Weinen und wahr.“

? Renate Schostack, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1971. [9]
Anmerkung: Dass es sich um einen Schwarzweiß-Film handele, ist falsch. [10] [1]

?Nach der Erstauffuhrung im Mai 1971 schrieb eine Kritikerin in der ?Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ nicht minder enthusiastisch wie einst Herbert Jhering : ?Der Film, schwarzweiß und ohne jede Oberflachengelacktheit, spielt meistens in der Dunkelheit. Es ist ein Nachtfilm, traurig, zum Weinen und wahr.“ Heute wirkt diese Eloge etwas ubertrieben. ?Pioniere in Ingolstadt“ sieht vielmehr wie ein Zwischenfilm aus: ein Auftragswerk, das der Regisseur mit den in ? Katzelmacher “ (fd 16 511) erprobten langen Gangen und Szenen des permanenten und penetranten Aneinander-Vorbeiredens zelebriert, das aber von seinen ?umliegenden“ Arbeiten ? Warnung vor einer heiligen Nutte “ (fd 17 745) und ? Handler der vier Jahreszeiten “ (fd 17 732) weit in den Schatten gestellt wird. Die wesentliche Crux des Unternehmens besteht vielleicht darin, dass Fassbinder das in den 1920er-Jahren angesiedelte Stuck in die bundesdeutsche Jetztzeit holte. Seine Absicht war, die von Fleißer beschriebenen, auf Unterdruckung basierenden Beziehungen von Mannern und Frauen als etwas nicht Vergangenes, sondern durchaus Gegenwartiges zu zeichnen; zugleich wollte er zeigen, dass die Macht- und Unterwurfigkeitsstrukturen der Armee auch das Zivilleben dominieren. Die Fleißerschen, an Buchners ? Woyzeck “ geschulten Sentenzen wirken im Film aber merkwurdig zeigefingerhaft und im Kontrast mit der zur Schau gestellten Mode auch archaisch -befremdlich. Schon in der Eingangsszene, wenn das im Minirock auftretende Dienstmadchen Berta ( Hanna Schygulla ) zu ihrer gewieften Freundin Alma ( Irm Hermann ) angesichts der vorbeiziehenden Rekruten sagt: ?Warum singen die nicht , Oh du schoner Westerwald ‘“, entspricht das zwar exakt dem ersten Satz des Stucks, macht die Berta-Figur aber merkwurdig altmodisch. Diese Einschrankung bedeutet freilich nicht, dass es keine grandiosen szenischen Einfalle und schauspielerischen Leistungen gabe.(...)“

? Ralf Schenk , film-dienst, 2005. [11]
Anmerkung: Die Abkurzungen fd sowie angegebene Nummern beziehen sich auf die entsprechenden Kritiken in der Zeitschrift film-dienst .

Literatur [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Weblinks [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Einzelnachweise [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

  1. a b Rainer Werner Fassbinder Werkschau - Programm , Rainer Werner Fassbinder Foundation (Hrsg.), Berlin, 1992
  2. Interview mit Irm Hermann , S. 49, in: Das ganz normale Chaos , Gesprache uber Rainer Werner Fassbinder, Henschel Verlag, Berlin, 1995, ISBN 3-89487-227-6
  3. Rainer Werner Fassbinder , Monographie, Michael Toteberg, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek, 2002, ISBN 3-499-50458-8
  4. Biographie Marieluise Fleißer Dieter Wunderlich, DieterWunderlich.de, 2008
  5. Pioniere in Ingolstadt Carl Schenk, film-dienst, Nr. 14/2005, zitiert nach CinOmat.kim-info.de
  6. Es ist besser, Schmerzen zu genießen als sie nur zu erleiden , Interview mit Christian Braad Thomsen, 1970; S. 401, in: Fassbinder uber Fassbinder , Robert Fischer [Hrsg.], Verlag der Autoren, Frankfurt, 2004
  7. Harry Baer im Interview mit Herbert Gehr, S. 104/105, in: Das ganz normale Chaos , Gesprache uber Rainer Werner Fassbinder, Henschel Verlag, Berlin, 1995, ISBN 3-89487-227-6
  8. Interview mit Dietrich Lohmann , S. 156, in: Das ganz normale Chaos , Gesprache uber Rainer Werner Fassbinder, Henschel Verlag, Berlin, 1995, ISBN 3-89487-227-6
  9. Fassbinders Film nach dem Fleißer-Stuck Renate Schostack ( Memento vom 24. Januar 2009 im Internet Archive ), zitiert nach FassbinderFoundation.de
  10. Angaben zu Pionieren in Ingolstadt in der Internet Movie Database, siehe Weblinks
  11. Pioniere in Ingolstadt Ralf Schenk (film-dienst Nr. 14/2005) bei CinOmat.kim-info.de