Als
parlamentarisches Regierungssystem
bezeichnet man jene Ausformungen
parlamentarischer
Demokratien
, in denen die
Regierung
zu ihrer Wahl und in ihrer Amtsausubung auf die direkte oder indirekte Unterstutzung durch das
Parlament
angewiesen ist. Hierbei sind die beiden Institutionen personell miteinander verzahnt und das Parlament besitzt ausgepragte Kompetenzen, in erster Linie die Wahl und Absetzung der Regierung. Bedeutend ist auch, dass der Vorsitzende der Regierung (also der
Regierungschef
wie beispielsweise der
Kanzler
oder ein
Ministerprasident
) vom Parlament gewahlt wird und erweiterte
Rechte
gegenuber den Ministern besitzt.
Dem parlamentarischen Regierungssystem steht das
prasidentielle Regierungssystem
gegenuber mit dem Prototyp der
Vereinigten Staaten von Amerika
. Die Mischform mit Elementen beider Typen nennt man
semiprasidentielles Regierungssystem
; ein ausgepragtes Beispiel bietet die heutige
Funfte Franzosische Republik
.
Der Ausdruck ?Parlament“ stammt von dem altfranzosischen Wort
parlement
(?sprechen“, ?sich unterhalten“) ab; als Bezeichnung fur die Reichsversammlungen der frankischen Konige tritt er erstmals im 12. Jahrhundert auf. Im England des 13. Jahrhunderts wurde als
parliamentum
die Unterredung des Konigs mit den Standen bezeichnet, die den Ursprung des heutigen
Parlamentarismus
bildet. Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts verbreitet sich das Wort auch in Deutschland, steht aber nach wie vor in gewisser Konkurrenz zu Begriffen wie ?Tag“ oder ?Versammlung“ (Bundestag, Landtag).
Unter der Herrschaft von Konig
Alfons IX.
wurden die ?
Cortes
“ des Jahres 1188 in der Stadt
Leon
gehalten. Dies war das erste europaische Parlament (spanisch
Cortes
, Standeversammlung) mit der Beteiligung des dritten Etats (der
Bourgeoisie
der Stadte). In diesem Parlament wurden die Unverletzlichkeit der Privatwohnung und die Unverletzlichkeit der Post anerkannt, sowie die Notwendigkeit fur den Konig, das Parlament einzuberufen, um den Krieg zu erklaren oder Frieden zu schließen. Verschiedene individuelle und kollektive Rechte wurden garantiert. Die
Cortes
von
Benavente
(im Jahr 1202) erweiterten die Grund- und Wirtschaftsrechte des Konigreichs Leon und seiner Bewohner (Keane 2009: 169?176).
[1]
Als Ursprungsland des Parlamentarismus wird gemeinhin das englische System erachtet, das eine kontinuierliche, 800-jahrige relativ ungebrochene Evolution politischer Institutionen hin zu dem heutigen System aufweist. Aus den koniglichen Beratern entwickelte sich mit der Ausbildung des englischen Feudalsystems der ?Rat des Konigs“
(curia regis)
, der sich nach und nach ein Mitspracherecht unter anderem bei der Steuererhebung aneignete. Im 13. Jahrhundert wurde dieses Gremium dann um die ?commons“, d. h. Burgerliche (Handwerker, Gildenmitglieder, Handler und Ritter) erweitert, und somit eine zweite Kammer etabliert. Die beiden Kammern konnten nach und nach ihre Rechte im Budgetrecht erweitern. Das Budgetrecht war somit eine der ersten Kompetenzen, die sich die Kerne zukunftiger Parlamente gegenuber den Monarchen erstreiten konnten, und uber welches sie im Zeitverlauf immer wieder auch andere Politikbereiche indirekt auch gegen den Willen der Monarchen beeinflussen konnten (engl.
power of the purse
, ?Macht des Geldbeutels“).
Außer in Russland, Danemark und Norwegen setzte sich durch, dass die Erhebung von Abgaben (uber die feudalen hinaus) nicht ohne Zustimmung der Betroffenen erfolgen durfte, das Steuerbewilligungsrecht der Stande blieb in den meisten Landern bis in das 17. Jahrhundert hinein erhalten (außer in
Frankreich
, in dem sie es 1440 wieder verloren). Die ?Power of the Purse“ half den Parlamenten somit, sich unentbehrlich zu machen und fuhrte zu einer schrittweisen Konzentration von Souveranitat in den Parlamenten.
Je nach Herangehensweise haben verschiedene Autoren zu unterschiedlichen Zeiten versucht, parlamentarische Systeme zu beschreiben. Der Politikwissenschaftler
Klaus von Beyme
stellt folgenden Katalog auf:
- Eine enge Verbindung zwischen Exekutive und Legislative, verbunden mit der Kompatibilitat von Abgeordnetenmandat und Ministeramt (fehlt aber z. B. in
Luxemburg
oder den
Niederlanden
).
- Premierminister und ubrige Minister stammen in der Regel aus dem Parlament; einzelne Ressorts (Außen-, Verteidigungs- und technisches Ministeramt) hatten dabei lange die Tendenz, Experten von außerhalb anzuziehen.
- Die Regierung muss zurucktreten (?demissionieren“), wenn die Parlamentsmehrheit ihr das Vertrauen entzieht (politische oder parlamentarische Ministerverantwortlichkeit); meist entwickelte sich ein
Misstrauensvotum
, sonst auch
Vertrauensfrage
der Regierung, oder feindliche Abstimmung/Budgetverweigerung des Parlaments.
- Das Parlament hat das Recht, durch
Interpellationen
(formliche Anfragen) die Regierung zu kontrollieren und sich Informationen uber andere Hilfsmittel wie Untersuchungsausschusse zu verschaffen. Dadurch wird die Entscheidung uber die Anwendung der Sanktion erleichtert; auch diente manchmal das
Budgetrecht
als Sanktion.
Weitere Moglichkeiten fur die Klassifikation eines Systems als ?parlamentarisch“:
- Die
Kompatibilitat
von Parlamentsmandat und Regierungsamt: Im parlamentarischen System ist die Bekleidung eines Regierungsamts und eines Parlamentsmandats durch die gleiche Person rechtlich zulassig und zudem politisch notwendig. In einigen politischen Systemen, wie dem des Vereinigten Konigreichs, mussen die Minister gar aus den Reihen des Parlaments hervorgehen. Diese Kompatibilitat fuhrt zu einer personellen Verschrankung der beiden
Staatsgewalten
Exekutive und Legislative, beruhrt jedoch nicht deren institutionelle Teilung.
- Die
Absetzbarkeit der Regierung
durch das Parlament: Die Funktion der Regierungskontrolle kommt in parlamentarischen Systemen vornehmlich dadurch zum Ausdruck, dass das Parlament befahigt ist, die Regierung aus politischen Grunden abzusetzen. Dies erfolgt durch das so genannte ?Misstrauensvotum“, das die Regierung zum Abdanken verpflichtet und die Neuwahl des Regierungsoberhauptes zur Folge hat. Diese Kompetenz kann sich auch auf einzelne Minister beziehen. Der Auftrag zur Regierungsbestellung hingegen liegt zwar haufig beim Parlament, ist aber kein zwingender Bestandteil dieses Systemtyps. Durch diesen Umstand ist die Regierung in der Erhaltung ihres Amtes vom Parlament abhangig.
- Auflosbarkeit des Parlaments
durch die Regierung: Die Regierung behalt sich das Recht vor, das Parlament aufzulosen. Somit ist auch das Parlament graduell von der Regierung abhangig, wenngleich eine
Auflosung des Parlaments
im parlamentarischen System den Rucktritt der Regierung zur Folge hat.
Die oben genannten Konfigurationen haben bestimmte Auswirkungen auf die Zusammenarbeit von Parlament und Regierung sowie die innere Struktur des Parlaments:
- Strikte
Partei-
und
Fraktionsdisziplin
: Da Parlament und Regierung derart voneinander abhangig sind, ist es zugunsten einer stabilen Regierung unerlasslich, dass das Regierungsoberhaupt seine Partei bzw. Fraktion im Parlament unter Kontrolle hat. Im Gegensatz zu prasidentiellen Systemen gestaltet sich die Bindung der Parlamentarier daher zu Gunsten der eigenen Partei bzw. Fraktion und zu Ungunsten des jeweiligen Wahlkreises. Demgegenuber steht das Prinzip des
freien Mandats
, welches dem Abgeordneten bei einzelnen Entscheidungen eine Gewissensfreiheit einraumt.
- Die
Regierungsmehrheit
: Als Regierungsmehrheit gilt die Menge der Abgeordneten im Parlament, welche durch ihre Unterstutzung die Regierung im Amt halt. Sie umfasst also samtliche Regierungsmitglieder, die Angehorigen der Regierungspartei und eventuell die Koalitionsparteien. In prasidentiellen Systemen, wo die Regierung und ihr Oberhaupt unabhangig von parlamentarischen
Mehrheiten
sind, gibt es eine solche Regierungsmehrheit nicht.
- Die klar erkennbare
Opposition
im Parlament: Im Gegenzug zur Regierungsmehrheit gibt es auch eine erkennbare Opposition im Parlament. Anders gesprochen sind hier Regierung und Opposition im Parlament klar voneinander zu unterscheiden. Im prasidentiellen System hat diese Unterscheidung keine große Bedeutung, da dort der Prasident mit so genannten Ad-hoc-Mehrheiten regiert ? also mit einer Mehrheit nur fur die jeweilige Entscheidung und weitgehend unabhangig von strukturellen Partei- und Koalitionsgrenzen. Die Opposition bringt ihre Position in den parlamentarischen Prozess ein und tragt dadurch zur Kontrolle der Regierungsarbeit bei. Dabei kann sie, abhangig vom jeweiligen
Parteiensystem
gar eine Gegenregierung fur einen eventuellen Regierungswechsel bereitstellen, wie etwa das
Schattenkabinett
im britischen Unterhaus.
- Die
doppelte Spitze der Exekutive
: In parlamentarischen Systemen kennt die
Exekutive
zwei Oberhaupter: Neben den
Regierungschef
tritt der
Staatschef
. Anders als im
prasidentiellen System
handelt es sich bei diesen Amtern zwangslaufig um zwei verschiedene Organe (siehe Beispiel der
Schweiz
), die mit einer jeweils eigenen Legitimation ins Amt kommen. In
Monarchien
ist der Staatschef der Monarch; das Amt wird dabei vererbt, außer in Wahlmonarchien. In
Republiken
hingegen wird er gewahlt, entweder direkt vom Volk oder durch die Delegierten einer Versammlung. Der Regierungschef wird in beiden Fallen gewahlt.
Der Begriff
parlamentarische Republik
bezieht sich oft auf die republikanische Form des parlamentarischen Regierungssystems. Teilweise wird sie aber auch zur allgemeinen Klassifikation einer (
semiprasidentiellen
) Republik mit relevantem Parlament verwendet. Im ersteren Fall bestehen die Aufgaben des
Staatsoberhaupts
, welches kein Monarch ist, sondern durch eine Wahl bestimmt wird, vor allem in der Reprasentation des Staates nach innen und außen. Neben der starken Stellung des
Regierungschefs
ist ebenfalls kennzeichnend, dass der
Ministerprasident
vom Parlament gewahlt wird und die Minister seines
Kabinetts
bestimmt. Die Regierung ist im Gegensatz zum
Prasidialsystem
unmittelbar vom Vertrauen des
Parlaments
abhangig. Das dieser
Machtverteilung
zugrundeliegende Prinzip ist der Parlamentarismus.
Da das Konzept der parlamentarischen Republik heterogen ist, genugt kein Blick in entsprechende Gesetzestexte. Die Kompetenzverteilung wird maßgeblich vom
Durchsetzungsvermogen
der Einzelpersonen in politischen Amtern bestimmt. Dementsprechend gibt es folgende Kategorien:
- Exekutivkooperation
- Es handelt sich um eine Gleichverteilung des Einflusses zwischen den beiden Exekutivorganen Regierung und Staatsoberhaupt. Sie ist etwa in
Italien
oder
Osterreich
anzutreffen.
- Kanzlerdominanz
- Von Kanzlerdominanz (auch
Kanzlerdemokratie
) spricht man, wenn der Regierungschef als maßgeblicher politischer Akteur auftritt. In der Bundesrepublik
Deutschland
spricht man immer in solchen Perioden von Kanzlerdominanz, in denen der derzeitige
Bundeskanzler
als starke Personlichkeit auftritt; also etwa in den Zeiten
Konrad Adenauers
oder
Helmut Schmidts
. Ein viel zitiertes Gegenbeispiel stellt die Ara
Kurt Georg Kiesingers
dar.
- Versammlungsdominanz
- Dieser Subtyp des parlamentarischen Systems bezeichnet die dominante Stellung des Parlaments im Staat, ist jedoch heute nur mehr selten vorzufinden. In der Schweiz kann insofern davon gesprochen werden, als die
Bundesversammlung
(das aus den zwei Kammern von
Nationalrat
und
Standerat
bestehende Parlament) die Mitglieder des aus Sicht der
Checks and Balances
relativ schwachen
Bundesrates
(die Schweizer Regierung) wahlt (Art. 175
Bundesverfassung
). In der schweizerischen
Konkordanzdemokratie
hat das Parlament eine starkere Stellung gegenuber der Regierung als in einem parlamentarischen System, weil keine konstante Parlamentsmehrheit die Regierung stutzen muss. Vielmehr konnen sich im Parlament von Thema zu Thema wechselnde Mehrheiten bilden, haufig auch gegen die Regierung. Andererseits ist die Legislativ-Kompetenz des Parlaments durch die Moglichkeit,
Referenden
uber Gesetze (Art. 138 ff. BV) zu erzwingen, zuruckgebunden (
direkte Demokratie
).
Innerhalb der monarchischen Form des parlamentarischen Regierungssystems kann der Monarch nicht tonangebend sein, da ihm dazu die obligatorische demokratische Legitimation fehlt. Stattdessen ubernimmt er weitestgehend reprasentative Funktionen. Selbst in Monarchien, deren Gesetze dem Monarchen daruber weit hinausgehende Kompetenzen gewahrleisten, nimmt er diese kaum noch wahr. Dominant ist hier der vom
Parlament
gewahlte
Regierungschef
. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einer
Parlamentarischen Monarchie
.
Es ist ein bekanntes
Paradoxon
, dass gerade in parlamentarischen Systemen das Parlament uber wenig Handlungsspielraum verfugt. Die folgende Untergliederung soll diesen Umstand erlautern:
- Arbeitsparlament
- Von Arbeitsparlamenten spricht man dann, wenn das Parlament neben dem
Beschluss von Gesetzen
auch wesentlich an deren Ausarbeitung und Einbringung in die parlamentarische Debatte beteiligt ist. Dafur bedient sich das Parlament seiner
Ausschusse
.
- Redeparlament
- Ist das Parlament funktional auf Gesetzesbeschlusse beschrankt und uberlasst die Arbeit weitgehend der Regierung, spricht man vom Redeparlament. Gerade dieser Typus ist in parlamentarischen Demokratien haufig vorzufinden. Da gerade durch die Abhangigkeit der Regierung vom Parlament eine starke
Fraktionsdisziplin
vorherrscht, ist das Parlament in seiner Fahigkeit beschrankt, gegen die Regierung zu arbeiten. Diese verfugt schließlich uber eine Mehrheit im Parlament und hat somit in der Regel mit keiner starken parlamentarischen Opposition zu rechnen. In diesem Fall beschrankt sich das Parlament weitgehend auf Debatten. Da jedoch, wie oben geschildert, die Regierungsmitglieder weitgehend dem Parlament angehoren, nimmt es die
Regierungskontrolle
durch Befragungen wahr.
Im Ubrigen gab bzw. gibt es auch
Parlamente
in Staaten, die keine Demokratien im Sinne der hier beschriebenen waren oder sind (z. B. fruher die
Deutsche Demokratische Republik
, die
Sowjetunion
oder heute noch die
Volksrepublik China
).
- Ernst Fraenkel
,
Karl-Dietrich Bracher
(Hrsg.):
Staat und Politik
, Das Fischer Lexikon, Bd. 2, Frankfurt am Main 1964.
- Jurgen Hartmann
(Hrsg.):
Westliche Regierungssysteme, Parlamentarismus, prasidentielles und semi-prasidentielles Regierungssystem.
Aus: Grundwissen Politik, Bd. 29, Opladen 2000.
- John Keane
(australischer Politikwissenschaftler,
WZB
Berlin):
The Life and Death of Democracy.
London 2009.
- Stefan Marschall
:
Parlamentarismus. Eine Einfuhrung.
Nomos 2005.
- Dieter Nohlen
(Hrsg.):
Lexikon der Politik
, Bd. 5: Begriffe, Munchen 1998.
- Winfried Steffani
:
Parlamentarische und prasidentielle Demokratie. Strukturelle Aspekte westlicher Demokratien
, Opladen 1979.
- Winfried Steffani (Hrsg.):
Regierungsmehrheit und Opposition in den Staaten der EG.
Opladen 1991.
- Winfried Steffani (Hrsg.):
Zur Unterscheidung parlamentarischer und prasidentieller Regierungssysteme.
In: Zeitschrift fur Parlamentsfragen, 14. Jg. (1983), Heft 3, S. 390?401.
- Uwe Thaysen, Roger H. Davidson, Robert G. Livingstone (Hrsg.):
US-Kongreß und Deutscher Bundestag. Bestandsaufnahme im Vergleich.
Opladen 1988.
- Quirin Weber:
Parlament ? Ort der politischen Entscheidung? Legitimationsprobleme des modernen Parlamentarismus ? dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland.
Basel 2011,
ISBN 978-3-7190-3123-7
.
- ↑
The Decreta of Leon of 1188 ? The oldest documentary manifestation of the European parliamentary system.
UNESCO Memory of the World, 2013,
abgerufen am 21. Mai 2016
.