Der
Orient
(von
lateinisch
sol oriens
, ?
aufgehende Sonne
“), spater auch
Morgenland
genannt, ist ursprunglich eine der vier romischen
Weltgegenden
. An der romischen Achse zwischen Norden (
Mitternacht
) und Suden (
Mittag
) liegt der Orient, die Weltgegend im Osten, gegenuber dem Okzident (
Abendland
, von
sol occidens
, ?untergehende Sonne“) mit den im Westen liegenden Gebieten.
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Der Begriff Orient unterliegt historischen Veranderungen und wurde (und wird noch heute) durch unterschiedliche Diskurse gepragt. So spielen geographische, politische, sprachwissenschaftliche und kulturelle Uberlegungen eine Rolle bei dem Versuch, genauere Aussagen zu dem Begriff Orient zu treffen.
Ursprunglich fungierte der Begriff ?Orient“ bzw. ?Morgenland“ als Richtungsangabe (vgl. Sonnenaufgang), wobei der Bezugsort je nach Standort des Sprechers variieren konnte. So stand das Wort ?Morgenland“ im Alten Testament fur die Gebiete ostlich von Israel bzw. Juda. Mit der Verschiebung der kulturellen Zentren im Bewusstsein des abendlandischen Christentums nach Mittel- bzw. Westeuropa verschob sich auch der ?Orient“ westwarts. Dadurch lagen dann im europaischen Hochmittelalter auch die Gebiete der
Ostkirchen
(Teile Osteuropas, Sudosteuropa,
Balkan
) ?im Orient“.
Aufgegriffen wurde der Begriff wiederum im Kontext der von den Romern definierten Weltgegenden (lat.
plagae mundi
). Unter der Bezeichnung
plaga orientalis
verstand man eine von vier Weltgegenden. Im
Griechischen
nennt man den Orient heute
anatoli
(ανατολ?, siehe
Anatolien
) und im
Italienischen
und
Spanischen
levante
(Partizip Prasens zu
levare
?aufgehen“). Mit dem geografischen Begriff
Levante
sind die an das ostliche Mittelmeer angrenzenden Lander gemeint.
Im Laufe der Geschichte wandelte sich die Bedeutung des Begriffs weiter. Den Orient hat es als zusammenhangendes Reich oder als Staat nie gegeben.
[1]
Wahrend der Neuzeit wurde er im deutschen Sprachraum zur Bezeichnung fur einen feststehenden geographischen und kulturellen Raum. Im 19. Jahrhundert erlangte der Begriff ?Orient“ schließlich ein enormes Bedeutungsspektrum. So bezeichnete der Begriff zu dieser Zeit die gesamte
asiatische
Welt, das heißt die arabischen Lander,
Iran
,
Indien
,
China
und
Japan
. Daruber hinaus wurden auch die Lander Sudosteuropas, welche zu dieser Zeit zum
Osmanischen Reich
gehorten, und des Balkans zum Orient gezahlt. Neben diesen aus mittel- bzw. westeuropaischer Perspektive ostlich liegenden Gebieten umfasste der Begriff ?Orient“ auch aus dieser Perspektive eigentlich sudlich liegende Gebiete. So wurde im 19. Jahrhundert fast durchweg auch der ganze
afrikanische
Kontinent zum Orient gerechnet. Daruber hinaus galten teilweise sogar
Spanien
, Suditalien, Kreta und Zypern als orientalisch.
Der heutige Sprachgebrauch im deutschsprachigen Raum tendiert dazu, den Begriff auf die uberwiegend islamischen Regionen
Vorderasien
und
Nordafrika
? einschließlich
Iran
und
Afghanistan
, aber ohne die islamischen Staaten
Sud-
und
Sudostasiens
? zu beziehen (vgl.
MENA-Region
,
Großraum Mittlerer Osten
). Bei geopolitischen Betrachtungen werden die islamischen Lander zwischen Marokko und Afghanistan haufig als
Vorderer und Mittlerer Orient
zusammengefasst.
[2]
Teilweise wird das Studiengebiet um Lander des sudlichen
Zentralasien
erweitert.
[3]
Im Englischen wird der Begriff
Orient
auch heute noch auf die sudasiatischen Lander
Indien
und
Pakistan
,
ostasiatische
Lander wie
China
und
Japan
sowie auf die sudostasiatischen Lander
Indonesien
,
Thailand
und die
Philippinen
angewandt. Dementsprechend definieren sich diese Lander selbst gelegentlich ebenfalls als
oriental
, wie am
Shanghaier
Fernsehturm, dem
Oriental Pearl Tower
, zu sehen ist.
Orient
hat neben dem
geografisch
-politischen auch einen religios-kulturellen Aspekt. Der als Orient bezeichnete Raum umfasst heute alle
islamischen
Lander, deshalb wurden ?Orient und Islam […] oft zusammengedacht“.
[4]
Die orientalische Welt inspirierte viele Dichter und Schriftsteller, siehe
Goethes
West-ostlicher Divan
,
Hesses
Roman
Morgenlandfahrt
,
Hauffs
Die Geschichte von dem kleinen Muck
und
Karl Mays
sogenannter
Orientzyklus
. Sie lieferten vielen Generationen
Stereotype
uber den Orient.
[5]
Der genannten Literatur liegt eine romantische Verklarung des Orients zugrunde, wie sie erst nach 1683 entstehen konnte, als mit dem Ruckzug der osmanischen Truppen am Ende der
Zweiten Wiener Turkenbelagerung
fur Europa die Gefahr einer Eroberung durch den Osten geringer eingeschatzt wurde. Der Orient von Agypten bis China wurde im 18. und 19. Jahrhundert zu einer Traumwelt, die in der Malerei der
Orientalisten
phantasievoll abgebildet wurde. Kuppeln und Rundbogen von osmanischen und
maurischen
Sakral- und Palastbauten fanden sich in ganzlich anderem Sinnzusammenhang in der
orientalisierenden Architektur
europaischer Großstadte wieder.
Innerhalb eines im 19. und 20. Jahrhundert gefuhrten Diskurses, verstand man unter ?Orient“ bzw. ?Osten“ auch ein als spirituell charakterisiertes Indien in Abgrenzung gegenuber einem als materialistisch empfundenen ?Westen“.
Ein einzelnes Merkmal, das zur Bestimmung und Abgrenzung der unterschiedlichen Konzepte von Orient taugt, lasst sich nicht finden. Stattdessen werden Ahnlichkeiten und Beziehungslinien innerhalb der zum Orient gezahlten Phanomene erkennbar, die
Andrea Polaschegg
mit
Ludwig Wittgensteins
Theorie der
Familienahnlichkeit
beschreibt. Der Begriff Orient umfasst demnach ein lose zusammenhangendes Konstrukt mit verschwimmenden Grenzen.
[6]
Seit den 1970er Jahren hat das Konzept einer Trennung von Orient und Okzident heftige Kritik erfahren
(
Orientalismusdebatte
).
Ausgehend von den bis heute einflussreichen Thesen
Edward Saids
wurde konstatiert, das westliche Bild des Orients sei voller unbewusster
Vorurteile
und Verzerrungen, die der Realitat nicht gerecht wurden. Das Konzept von Abendland und Morgenland sei weniger alt als behauptet, vielmehr sei es erst im 18. Jahrhundert entstanden. In seinem fast zeitgleich mit Saids Buch erschienenen Werk
Structure du serail
(1979, engl.
The Sultan’s Court
) untersucht
Alain Grosrichard
die Vorstellungen von orientalischer Despotie, die sich franzosische Philosophen des 18. Jahrhunderts gemacht haben, und zeigt auf, dass diese als Folie dienen, um die eigenen, westlichen politischen Systeme zu konturieren.
Slavoj ?i?ek
nannte das Buch einen ?Klassiker der Theorie der Ideologie“, es leiste in der Tiefe, was Saids
Orientalismus
in der Breite gelungen sei.
[7]
- Abbas Amin:
Agyptomanie und Orientalismus: Agypten in der deutschen Reiseliteratur (1175?1663). Mit einem chronologischen Verzeichnis der Reiseberichte (383?1845)
. Walter de Gruyter, Berlin 2013 (= Studien Zur Deutschen Literatur, Bd. 202) e-
ISBN 978-3-11-029923-6
,
ISBN 978-3-11-029893-2
.
- Anton Escher:
Die geographische Gestaltung des Begriffs Orient im 20. Jahrhundert.
In: Burkhard Schnepel, Gunnar Brands, Hanne Schonig (Hrsg.):
Orient ? Orientalistik ? Orientalismus: Geschichte und Aktualitat einer Debatte.
Transcript, Bielefeld 2011, S. 123?149
- Andrea Polaschegg
:
Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenlandischer Imagination im. 19. Jahrhundert.
De Gruyter, Berlin/New York 2005, S. 63 f. (Teil II, 2:
Wo liegt der Orient?
)
- Alfred Schlicht:
Die Araber und Europa. 2000 Jahre gemeinsamer Geschichte.
Kohlhammer, Stuttgart 2008,
ISBN 978-3-17-019906-4
.
- Gereon Sievernich, Hendrik Budde (Hrsg.):
Europa und der Orient 800?1900.
Eine Ausstellung des 4. Festivals der Weltkulturen Horizonte ‘89 im Martin-Gropius-Bau, Berlin, 28. Mai?27. August 1989. Bertelsmann Lexikon Verlag, Gutersloh/Munchen 1989,
ISBN 978-3-570-05076-7
.
- Michael Sommer
:
Der romische Orient.
Zwischen Mittelmeer und Tigris. Konrad Theiss, Stuttgart 2006,
ISBN 3-8062-1999-0
.
- Reinhard Stewig
:
Der Orient als Geosystem
. Leske + Budrich. Opladen 1977,
ISBN 978-3-8100-0213-6
.
- ↑
http://kulturshaker.de/orientalismus-das-morgenland-als-projektion/
- ↑
Hardy Ostry, Gerrit F. Schlomach:
Vorderer und Mittlerer Orient blutigste Weltregion. Politischer Kurzbericht.
Konrad-Adenauer-Stiftung, 31. Januar 2006, Landerkarte S. 2
- ↑
Vorderer und Mittlerer Orient.
Universitat Hamburg
- ↑
http://kulturshaker.de/orientalismus-das-morgenland-als-projektion/
- ↑
http://kulturshaker.de/orientalismus-das-morgenland-als-projektion/
- ↑
Andrea Polaschegg, 2005, S. 97 f.
- ↑
The Sultan's Court.
In:
Verso Books.
Abgerufen am 21. April 2024
(englisch).