Sir
Michael Francis Atiyah
,
OM
(*
22. April
1929
in
London
; †
11. Januar
2019
) war ein britischer
Mathematiker
und Trager der
Fieldsmedaille
und des
Abelpreises
.
Er war der Sohn des englisch-libanesischen Schriftstellers und zeitweisen Sekretars der
Arabischen Liga
in London
Edward Atiyah
(1903?1964) und der Schottin Jean Levens. Atiyah hatte eine Schwester und zwei Bruder, darunter der Juraprofessor
Patrick Atiyah
(1931?2018). Er ging bis 1941 in
Khartum
zur Schule, wobei die Familie die Sommer meist in England verbrachte. Danach ging die Familie in den Libanon. Atiyah wurde aber bald auf die Victoria School in Kairo geschickt, und als sein Vater 1945 nach England zog, besuchte er die Manchester Grammar School. 1947 gewann er ein Stipendium fur die Universitat Cambridge (Trinity College), zog es aber vor, zunachst seinen zweijahrigen Wehrdienst zu leisten, bevor er 1949 am Trinity College sein Studium begann. 1952 erhielt er seinen Bachelor-Abschluss. Nach seiner
Promotion
bei
William Vallance Douglas Hodge
[1]
(Dissertation:
Some Applications of Topological Methods in Algebraic Geometry
) wurde er dort 1954 ?Fellow“ des
Trinity College
. Er war 1955/56 als
Commonwealth Fellow
am
Institute for Advanced Study
in
Princeton
, wo er unter anderem
Jean-Pierre Serre
,
Friedrich Hirzebruch
, mit dem er befreundet war und eng zusammenarbeitete,
Kunihiko Kodaira
,
Donald Spencer
,
Raoul Bott
und
Isadore Singer
traf. 1957 wurde er
Lecturer
und 1958 Fellow des
Pembroke College
in Cambridge, bevor er 1961 als Reader an die
Universitat Oxford
ging, wo er Fellow des St. Catherine’s College wurde und 1963 die
Savilian Professur fur Geometrie
erhielt. 1969 bis 1972 war er Professor am Institute for Advanced Study in Princeton und danach Royal Society Research Professor in Oxford und Fellow des St. Catherine’s College. 1990 wurde er Direktor des neu gegrundeten
Isaac Newton Institute
fur Mathematik in Cambridge und gleichzeitig ?Master“ des Trinity College.
1955 heiratete er die Mathematikerin Lily Brown (1928?2018), mit der er drei Sohne hatte. Sie promovierte bei
Mary Cartwright
und war Lecturer am
Bedford College
, bevor sie ihre mathematische Karriere aufgab.
Atiyah befasste sich anfangs als Schuler von Hodge mit
Algebraischer Geometrie
. Er gewann 1954 als Student den
Smith-Preis
fur eine Arbeit mit einer
garbentheoretischen
Behandlung von
Regelflachen
. Seine Dissertation behandelte eine garbentheoretische Theorie der Integrale 2. Art auf algebraischen Varietaten von
Solomon Lefschetz
.
Er war in den 1960er Jahren zusammen mit
Friedrich Hirzebruch
einer der Begrunder der
topologischen K-Theorie
, einer mit Hilfe von
Vektorbundeln
definierten Kohomologietheorie. Die Anregung dazu kam aus der Verallgemeinerung des
Satzes von Riemann-Roch
durch
Alexander Grothendieck
und dem
Periodizitatssatz
von
Raoul Bott
. Atiyah wandte die topologische K-Theorie zum Beispiel bei einer Vereinfachung der komplizierten Losung des Problems der
Hopf-Invariante
1 von
John Frank Adams
und andere topologische Probleme an. 1963 bewies er zusammen mit
Isadore M. Singer
den
Atiyah-Singer-Indexsatz
,
[2]
der als einer der bedeutendsten mathematischen Satze des 20. Jahrhunderts gilt. Der Satz druckt den
analytischen Index
eines
elliptischen linearen Differentialoperators
(zum Beispiel
Laplace-Operator
,
Dirac-Operator
) auf einer kompakten Mannigfaltigkeit M durch topologische Invarianten von M aus (verschieden je nach Art des Operators, im einfachsten Fall durch die
Euler-Poincare-Charakteristik
). Er verbindet also Analysis mit
Topologie
und hat so auch Anwendungen in der modernen Physik. Der ?Index“ des Differentialoperators ist dabei die Differenz der Dimensionen seines Losungs-Vektorraumes und der seines adjungierten Operators. Er beteiligte sich auch an den neuen einfacheren Beweisen dieses Satzes mit Hilfe der
Warmeleitungsgleichung
(Diffusionsgleichung) in den 1970er Jahren (mit Raoul Bott,
Patodi
1973). Der Indexsatz hat auch Anwendungen in der algebraischen Geometrie ? er enthalt den Satz von Riemann-Roch als Spezialfall. In Zusammenhang mit dem Indextheorem ?entdeckten“ Atiyah und Singer auch den Dirac-Operator fur die Mathematik. Die Motivation fur den beruhmten Satz kam von
Israel Gelfand
(
On elliptic equations
, Russ. Math. Surveys 1960).
Mit
Raoul Bott
bewies er den
Fixpunkt-Satz von Atiyah-Bott
, eine Verallgemeinerung des
Fixpunktsatzes von Lefschetz
.
Atiyah hat sich uber Jahrzehnte als unermudlicher Vermittler zwischen Mathematik und Physik verdient gemacht. Insbesondere interessierten ihn die nichtabelschen Eichtheorien (
Yang-Mills-Theorien
), die nichtlineare Differentialgleichungen auf Mannigfaltigkeiten sind. Von ihm und
Nigel Hitchin
,
Vladimir Drinfeld
und
Yuri Manin
stammt die ADHM-Konstruktion von
Instantonen
in selbst-dualen euklidischen Yang-Mills-Theorien.
[3]
Aber auch die besonders von
Edward Witten
in die Mathematik eingefuhrten quantenfeldtheoretischen Methoden (von neuen Knoteninvarianten uber
topologische Quantenfeldtheorien
[4]
bis zur
Supersymmetrie
und
Stringtheorie
) griff er auf. Viele Ideen Atiyahs wurden so umgekehrt ab den 1980er Jahren von den Physikern aufgegriffen (u. a. auch neue Beweise seines Indexsatzes mit Supersymmetrie) und weiterentwickelt.
Er war eine treibende Kraft hinter der Grundung des
Isaac Newton Institute
, bei der Bildung des Inter Academy Panel (IAP), der Association of European Academies (
ALLEA
) und bei der Formierung der
European Mathematical Society
.
[5]
Zu seinen Studenten gehoren
Simon Donaldson
,
Nigel Hitchin
,
Peter Kronheimer
,
Graeme Segal
,
Frances Kirwan
und
Ruth Lawrence
.
1974 bis 1976 war er Prasident der
London Mathematical Society
und 1990 bis 1995 Prasident der Royal Society. Er war auch Prasident der
Royal Society of Edinburgh
, deren Fellow er war. Er war auswartiges Mitglied zahlreicher Akademien wie der
Academie des sciences
, der russischen, der
ukrainischen
, norwegischen, spanischen, schwedischen, irischen und australischen Akademie der Wissenschaften. Außerdem erhielt er zahlreiche Ehrendoktorate.
Von 1997 bis 2002 war er Prasident der
Pugwash Conferences on Science and World Affairs
.
Bucher:
- mit
Ian G. Macdonald
:
Introduction to commutative algebra.
Addison-Wesley 1969
- Elliptic operators and compact groups,
Lecture Notes in Mathematics 401, Springer 1974
- (Hrsg. und Mitautor)
The representation theory of Lie groups.
1977
- Geometry of Yang-Mills Fields
, Fermi Lecture, Accademia dei Lincei, Pisa 1979
- Collected works.
Clarendon Press, Oxford, 7 Bande, 1988 bis 2014
- K-theory.
Benjamin 1967, 1989
- mit
Nigel Hitchin
:
The geometry and dynamics of magnetic monopoles
, M. B. Porter Lectures, Princeton University Press, 1988
- The geometry and physics of knots.
Cambridge 1990
- mit Daniel Iagolnitzer (Hrsg. und Mitautor):
Fields medaillist lectures.
World Scientific 1997, 2003, 3. Auflage mit Chitat Chong 2015
Aufsatze:
- mit
Isadore M. Singer
:
The index of elliptic operators on compact manifolds.
Bull. AMS 1963, Beweis dann in einer Reihe von Aufsatzen in den Annals of Mathematics, wieder abgedruckt in Band 3 der Gesammelten Werke. Siehe auch die Literaturangaben in
Atiyah-Singer-Indexsatz
.
- mit
Raoul Bott
:
A Lefschetz Fixed Point Formula for Elliptic Differential Operators,
Bulletin of the American Mathematical Society, Band 72, 1966, S. 245 (Atiyah-Bott-Fixpunktsatz)
- Thom Complexes
, Proc. London Math. Soc., Serie 3, Band 11, 1961, S. 291?310
- The role of algebraic topology in mathematics
, Journal of the London Mathematical Society, Band 41, 1966, S. 63?69
- Wandel und Fortschritt in der Mathematik
, Bild der Wissenschaft, 1969, Heft 4, S. 314?323, Nachdruck in: Michael Otte (Hrsg.),
Mathematiker uber die Mathematik. Wissenschaft und Offentlichkeit
, Berlin Heidelberg 1974,
ISBN 978-3-540-06898-3
,
doi:10.1007/978-3-642-80866-1_8
.
- mit Bott, Patodi:
On the heat equation and the index theorem
, Invent. Math., Band 19, 1973, S. 279?330, Errata Band 28, 1975, S. 277?280
- mit
Richard S. Ward
:
Instantons and algebraic geometry
, Comm. Math. Phys., Band 55, 1977, S. 117?124,
Project Euclid
- mit
Wilfried Schmid
:
A geometric construction of the discrete series for semisimple Lie groups
, Inventiones Mathematicae, Band 42, 1977, S. 1?62, Errata, Band 54, 1979, S. 189?192
- mit I. Singer, N. Hitchin:
Self-duality in four dimensional Riemannian geometry,
Proc. Roy. Soc. A, Band 362, 1978, S. 425?461
- What is geometry ?
(Presidential Address), The Mathematical Gazette, Band 66, 1982, S. 179?182
- Topological Quantum Field Theory
, Pub. Math. IHES, Band 68, 1988, S. 175?186
- Quantum Field Theory and low dimensional geometry,
Progress in Theoretical Physics, Supplement Nr. 102, 1990, S. 1
- Geometry and Physics
, The Mathematical Gazette, Band 80, 1996, S. 78?82
- Global Geometry
(Bakerian Lecture), American Mathematical Monthly, Band 111, 2004, S. 716?723
- Advice to a young mathematician
, in
Timothy Gowers
June Barrow-Green
,
Imre Leader
(Hrsg.):
The Princeton Companion to Mathematics
, Princeton University Press 2008, S. 1006?1010
- Edinburgh Lectures on Geometry, Analysis and Physis
, 2010,
Arxiv
- Michael J. Barany:
Michael F. Atiyah (1929?2019)
. In:
Nature
.
Band
566
, 1. Februar 2019,
S.
40
,
doi
:
10.1038/d41586-019-00358-9
(
nature.com
[abgerufen am 9. Februar 2019]).
- S.-T. Yau (Hrsg.):
The founders of index theory: reminiscences of Atiyah, Bott, Hirzebruch and Singer
, International Press, Somerville 2003, mit Biographie von Atiyah,
Online, Celebratio Mathematica
- ↑
Michael Francis Atiyah
im
Mathematics Genealogy Project
(englisch)
Vorlage:MathGenealogyProject/Wartung/id verwendet
- ↑
Lehrbuchdarstellungen sind zum Beispiel:
Peter Gilkey: ?Invariance theory, the heat equation, and the Atiyah-Singer-Indextheorem“, online-Buch
,
Melrose:
The Atiyah-Patodi-Singer index theorem
, online Buch
- ↑
Atiyah, Hitchin, Drinfeld, Manin, Construction of Instantons, Phys. Lett. A, Band 65, 1978, S. 185?187
- ↑
Atiyah: Topological quantum field theories, Publications Mathematiques de l’IHES. Band 68, 1988, S. 175?186
- ↑
Atiyah and Singer receive Abel prize
, Notices AMS, Juni/Juli 2004, S. 649?650
- ↑
American Academy of Arts and Sciences. Book of Members
(
PDF
). Abgerufen am 15. April 2016
- ↑
Mitgliedseintrag von
Sir Michael F. Atiyah
bei der
Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina
, abgerufen am 25. Oktober 2017.
- ↑
Member Directory: Michael Atiyah.
National Academy of Sciences,
abgerufen am 25. Oktober 2017
.
- ↑
Past Members: Michael Francis Atiyah.
Royal Irish Academy,
abgerufen am 31. Marz 2019
.
- ↑
Mitgliederverzeichnis: Michael Atiyah.
Academia Europaea,
abgerufen am 25. Oktober 2017
(englisch, mit biographischen und anderen Informationen).
- ↑
Abel Preis fur Atiyah und Singer 2004
(
Memento
vom 21. Mai 2013 im
Internet Archive
)
- ↑
Abel Lecture von Atiyah, ICM 2018
1936:
Lars Valerian Ahlfors
,
Jesse Douglas
|
1950:
Laurent Schwartz
,
Atle Selberg
|
1954:
Kodaira Kunihiko
,
Jean-Pierre Serre
|
1958:
Klaus Friedrich Roth
,
Rene Thom
|
1962:
Lars Hormander
,
John Milnor
|
1966:
Michael Atiyah
,
Paul Cohen
,
Alexander Grothendieck
,
Stephen Smale
|
1970:
Alan Baker
,
Heisuke Hironaka
,
Sergei Nowikow
,
John G. Thompson
|
1974:
Enrico Bombieri
,
David Mumford
|
1978:
Pierre Deligne
,
Charles Fefferman
,
Grigori Margulis
,
Daniel Quillen
|
1982:
Alain Connes
,
William Thurston
,
Shing-Tung Yau
|
1986:
Simon Donaldson
,
Gerd Faltings
,
Michael Freedman
|
1990:
Vladimir Drinfeld
,
Vaughan F. R. Jones
,
Shigefumi Mori
,
Edward Witten
|
1994:
Jean Bourgain
,
Pierre-Louis Lions
,
Jean-Christophe Yoccoz
,
Efim Zelmanov
|
1998:
Richard Borcherds
,
Timothy Gowers
,
Maxim Konzewitsch
,
Curtis McMullen
|
2002:
Laurent Lafforgue
,
Wladimir Wojewodski
|
2006:
Andrei Okunkow
,
Grigori Perelman
,
Terence Tao
,
Wendelin Werner
|
2010:
Elon Lindenstrauss
,
Ngo B?o Chau
,
Stanislaw Smirnow
,
Cedric Villani
|
2014:
Artur Avila
,
Manjul Bhargava
,
Martin Hairer
,
Maryam Mirzakhani
|
2018:
Caucher Birkar
,
Alessio Figalli
,
Peter Scholze
,
Akshay Venkatesh
|
2022:
Hugo Duminil-Copin
,
June Huh
,
James Maynard
,
Maryna Viazovska