Marsyas
(
altgriechisch
Μαρσ?α?
Marsyas
,
lateinisch
und deutsch ?Marsyas‘) ist eine Gestalt der
griechischen Mythologie
. Er ist ursprunglich der
Flussgott
des gleichnamigen Flusses, der bei
Kelainai
entspringt, einer im Altertum bluhenden Stadt im sudlichen
Phrygien
an den Quellen des
Maander
. In der griechischen Mythologie ist er ein
Satyr
(oder Silen), ein halbgottliches Wesen, Sohn des
Hyagnis
, Begleiter der
Kybele
. Verschiedene antike Autoren variieren die mit ihm verbundenen Sagen, so etwa
Herodot
(7,26) oder
Ovid
(
Metamorphosen
6,382-400).
Neben verschiedenen anderen Varianten des Marsyas-Mythos ist folgende eine vielleicht ursprungliche:
Athene
als Gottin der Erfindungsgabe und Weisheit erfand nach der Enthauptung der Gorgone
Medusa
die
Aulos
genannte Doppelflote sowie eine bestimmte Melodie, die die Totenklage der
Euryale
, der Schwester Medusas, nachahmte. Als sie aber beim Spiel ihr Gesicht in einem Wasser gespiegelt sah und bemerkte, dass das Spielen des Instruments ihr Gesicht entstellte, warf sie die Flote fort. Marsyas, der als Begleiter der rasenden und Trommeln schlagenden
Kybele
durch
Phrygien
zog, fand das Instrument, erlernte dessen Spiel und war schließlich so von seiner Kunst uberzeugt, dass er
Apollon
zum Wettkampf forderte. Die
Musen
, welchen das Schiedsamt zufiel, sahen zunachst Marsyas als den Uberlegenen an. Als jedoch Apollo seinem Kitharspiel noch den Gesang hinzufugte, konnte dieser als Sieger hervorgehen. Apollon hangte Marsyas zur Strafe fur den Frevel, ihn herausgefordert zu haben, an einer
Fichte
(dem heiligen Baum der Kybele) auf. Dem aufgehangten Satyr wurde bei lebendigem Leib
die Haut abgezogen
. Aus seinem Blut entsprang der gleichnamige Fluss Marsyas.
Palaiphatos
berichtet: ?Ich selbst sah den Fluss in Phrygien, der nach ihm benannt ist. Und die Phryger sagen, daß der Fluss aus dem Blut des Marsyas entstand.“
Herodot
(5. Jh. v. Chr.) weiß: ?In der Stadt Kelainai hangt auch die Haut des Satyrn Marsyas. Diese hat nach der Sage der Phrygier Apollon dem Marsyas abgezogen und hier aufgehangt.“
[1]
Ahnlich
Xenophon
(4. Jh. v. Chr.): ?Hier soll Apollon dem Marsyas, nachdem er ihn im Wettstreit besiegte, die Haut abgezogen und sie in der Quellgrotte aufgehangt haben. Darum heißt der Fluss Marsyas.“
[2]
Mit einiger Wahrscheinlichkeit, auch im Vergleich mit dem Fluss des
Midas
-Mythos, der nachweislich goldhaltig ist, war der Marsyas ein
eisenoxidhaltiger
kleiner Bach oder Fluss, dessen rote Farbe mit Blut und also mit einem ?gottlichen Gericht“ der Vorzeit verbunden wurde. Das Ausmaß dieses ?Blutstroms“ konnte mit einer entsprechend großen Verletzung assoziiert worden sein, wie es das Abziehen oder Schinden der Haut von Tieren illustriert (die Strafe des Schindens ist fur den antiken griechischen Raum nicht belegt, war aber im alten Orient gangig).
Der Marsyas-Mythos ist, mutmaßlich, eine Variante der in der Antike weit verbreiteten
Hybris
-Allegorie, wo Halbgottliches oder Sterbliches sich uber Gottliches (Vollkommenes, Zeitloses) erheben will und zum Teil grausam bestraft wird (zu Stein oder Tier verwandelt, mit Wahnsinn geschlagen, mit Eselsohren versehen usw.).
Hybris
war nach alter Vorstellung eine
Nymphe
, die mit
Zeus
den Gott
Pan
zeugte. Marsyas, hier mit Pan in antiken Darstellungen haufig gleichgesetzt, aber ohne die Attribute des Gottes, scheint darum eher ein Gleichnis fur die verstandlosen Triebe des Menschen zu sein. Illustriert wird die Hybris hier am Beispiel der Kunst. Die Kunste waren im altgriechischen Verstandnis die hochste Ausdrucksform des Wettstreits (des
Agon
), da nur sie die Fertigkeit (
τ?χνη
techn?
) mit der Weisheit (
σοφ?α
sophia
) verbanden. Die Musen treten zum Teil selbst in den Wettstreit, teils uben sie das Richteramt in der Kunst aus. Die Weisheit (
Athene
) erfindet zwar die Kunst, hier die Flote, ihr Ausuben aber, also das Kunstwerk, ist gegen ihr (ruhendes) Wesen ? im Gleichnis verzerrt das Kunstwerk-Machen (poein) die Zuge der Gottin des Geistes. Die Begierden (Marsyas) folgen der Lust nach Anerkennung, die sich im
Agon
ausdruckt. Der Wahn der Lust, sie konne sich im Werk uber Vergangliches erheben, so alt wie die Kultur, fallt unter das gnadenlose Gericht der Musen und Apollons.
Der Marsyas-Mythos ist wohl keine Darstellung gegen das Kunstwerk an sich, sondern gegen den Kunstler, der das Werk nicht mit Demut und Unterwerfung macht, dessen Werk also nicht Ausdruck von Demut ist. Die beruhmten Anfange der abendlandischen Dichtung bei
Homer
werden oft in diesem Sinne gedeutet: ?Sage mir Muse“; ?Vom Zorn singe, o Gottin“. Die Ablehnung des Willens des Kunstlers ist seither immer wieder ausgedruckt worden. Etwa als Paradox von
Michelangelo
: ?Ich mochte wollen, Herr, das nicht von mir Gewollte.“ Ahnlich aber auch etwa
Paul Cezanne
: ?Aber wenn er [der Kunstler] dazwischenkommt, wenn er es wagt, der Erbarmliche, sich willentlich einzumischen in den Ubersetzungsvorgang, dann bringt er nur seine Bedeutungslosigkeit hinein, das Werk wird minderwertig.“ Und an anderer Stelle: ?Um das zu malen muß dann das Handwerk einsetzen, aber ein demutiges Handwerk, das gehorcht und bereit ist, unbewusst, zu ubertragen.“
Der Mythos ist außerdem ein
Aition
fur eine in der phrygischen Stadt
Kelainai
aufgehangte und ausgestellte Menschenhaut (vgl.
Herodot
7,26).
Nach
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff
zeigt der Mythos die
attische
Geringschatzung der phrygischen Flote und die Uberlegenheit der eigenen und vornehmen
Kithara
.
[3]
Die klassische Darstellung des
Myron
in der um 450 v. Chr. geschaffenen
Athena-Marsyas-Gruppe
zielt auf genau diesen Zusammenhang von Weisheit (Athene, Apollon, Kithara) und Begierde (Marsyas, Flote). Die Schindung ist somit auch ein Symbol der
Katharsis
, d. h. die irdische Hulle muss unter Schmerzen abgestreift werden, um zu einer hoheren Erkenntnisform zu gelangen. Um sich zu vergeistigen, muss das Naturwesen aller Lust entsagen, freudianisch gesprochen, handelt es sich um den schmerzhaften Sieg des Realitatsprinzips uber das Lustprinzip.
Mithilfe romischer Kopien, insbesondere der Marmorkopie aus dem
Lateran
in
Rom
, wurde die ursprungliche klassische Version der myronischen Gruppe rekonstruiert. Auch von dieser Figurengruppe wurden Kopien zu dekorativen Zwecken in Haus- und Gartenanlagen verwendet. Eine Bronzerekonstruktion der Myron-Gruppe befindet sich in der
Liebieghaus Skulpturensammlung
in Frankfurt am Main. Im Inneren des Museums befindet sich der antike
Alberici-Sarkophag
, der die Hautung des Marsyas zeigt.
In der
romischen
Welt wurde Marsyas als Symbol fur die Freiheit gedeutet, sowohl die Redefreiheit (
Parrhesia
) wie auch die politische Freiheit. Bereits ab dem fruhen 3. Jahrhundert v. Chr. befand sich eine Marsyas-Statue auf dem
Forum Romanum
. Der romische Gelehrte
Servius
erklart in seinem
Aeneis
-Kommentar, eine solche Statue fande sich auf den Marktplatzen verschiedener anderer Stadte, wo sie mit ihrer erhobenen Hand bezeuge, dass es der betreffenden Burgergemeinde an nichts fehle (?
erecta manu testatur nihil urbi deesse
“).
[4]
Die Szene mit der Hautung des Marsyas fand unter anderem auch in der
Renaissance
durch den Maler
Tizian
1570?1576 ihre
Rezeption
. Auch in spateren Kunstepochen kommt dieses Motiv vor.
Jusepe de Ribera
zum Beispiel verwendet dieses Motiv gleich mehrfach.
Eine moderne Form des Marsyas hat
Alfred Hrdlicka
geschaffen.
- Heinz J. Drugh:
Marsyas.
In:
Maria Moog-Grunewald
(Hrsg.):
Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfangen bis zur Gegenwart
(=
Der Neue Pauly
. Supplemente.
Band 5). Metzler, Stuttgart/Weimar 2008,
ISBN 978-3-476-02032-1
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- Dietrich Helms:
Von Marsyas bis Kublbock. Eine kleine Geschichte und Theorie musikalischer Wettkampfe.
In: Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hrsg.):
Keiner wird gewinnen. Populare Musik im Wettbewerb
(=
Beitrage zur Popularmusikforschung.
Band 33). transcript, Bielefeld 2005, S. 11?39.
- Otto Jessen
:
Marsyas
. In:
Wilhelm Heinrich Roscher
(Hrsg.):
Ausfuhrliches Lexikon der griechischen und romischen Mythologie
. Band 2,2, Leipzig 1897, Sp. 2439?2460 (
Digitalisat
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- Klaus Junker
:
Die Athena-Marsyas-Gruppe des Myron.
In:
Jahrbuch des deutschen Archaologischen Instituts.
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- Andreas F. Kelletat:
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In: Dietmar Albrecht u. a. (Hrsg.):
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, S. 171?185.
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(=
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(zugleich Dissertation, Universitat Marburg 1993).
- Luise Seemann:
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- Luise Seemann:
Zur Interpretation der Athena-Marsyas-Gruppe des Myron.
In:
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- Ursula Renner,
Manfred Schneider
(Hrsg.):
Hautung. Lesarten des Marsyas-Mythos.
Fink, Munchen 2006,
ISBN 3-7705-4014-X
.
- ↑
Herodot,
Historien
7,26
- ↑
Xenophon,
Anabasis
1,2,8
- ↑
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff:
Der Glaube der Hellenen.
Band 1, Berlin 1931, S. 189, A.2.
- ↑
Servius, Kommentar zu Vergil,
Aeneis
4,58