Dieser Artikel behandelt den allgemeinen Begriff; Spezielleres siehe auch
Legitimation
.
Legitimitat
(
lateinisch
legitimus
‚gesetzmaßig‘
) bezeichnet die Anerkennungswurdigkeit beziehungsweise
Rechtmaßigkeit
von Personen, Institutionen, Vorschriften etc. Ein Legitimitat besitzender Sachverhalt ist
legitim
. Die Gegenbegriffe sind
Illegitimitat
und
illegitim
. Die Rechtmaßigkeit zu bezweifeln oder abzusprechen wird auch als
Delegitimierung
bezeichnet.
Der Begriff wird in
Soziologie
,
Politikwissenschaft
,
Geschichtswissenschaft
,
Rechtswissenschaft
und
Philosophie
verwendet.
Im romischen Recht bezeichnete Legitimitat das Ordnungsgemaße z. B. der
Erbfolge
. Im Mittelalter wurde der Begriff im Sinne des
Gottesgnadentums
interpretiert,
Wilhelm von Ockham
betonte in diesem Zusammenhang jedoch die zwischengeschalteten menschlichen Handlungen (Wahl, Konsens), die Vorlaufer moderner Verfahren im Sinne
Niklas Luhmanns
darstellen.
In der Neuzeit entstand die Vorstellung, dass soziale Normen (etwa im Sinne der geforderten Verhaltenskonformitat zu positiven Gesetzen oder von autoritativ gesetzten Normen) nicht nur durch Tradition oder Nutzlichkeit zu begrunden, sondern auch zu rechtfertigen sind. Die Unterscheidung zwischen außerer Rechtmaßigkeit und moralisch zu rechtfertigenden menschlichen Handlungen fasste zuerst
Kant
in das Begriffspaar ?Gesetzlichkeit“ versus ?Sittlichkeit“.
[1]
Fur
Hegel
fuhrt dieser Gegensatz zu einer problematischen Unterwerfung der Gesetzlichkeit (des ?Rechts der Welt“) unter die individuelle
Moralitat
, wenn der mit dem ?Recht der Subjektivitat“ ausgestattete freie Wille seinen Uberzeugungen folgt und mit der bereits vorhandenen sozialen Ordnung kollidiert, auch wenn er dabei der Meinung ist, das ?allgemeine Gute“ zu bewirken (das nach Kant nur durch die reine Vernunft bestimmt werden kann). Wahrend Hegel versucht, den Gegensatz im Begriff der ?Sittlichkeit“ aufzuheben,
[2]
setzt
Johann Gottlieb Fichte
Naturrecht
und Moral schroff entgegen und betont den Zwangscharakter des Rechts.
[3]
Im 19. Jahrhundert wurde Legitimitat zum Schlagwort liberaler rechtsstaatlicher Bestrebungen, die eine gesetzliche Grundlage fur staatliche Eingriffe und zureichende Anhaltspunkte als Voraussetzung von
staatsanwaltlichen
Anklagen forderten. Im 20. Jahrhundert wurde der Gegensatz zwischen Legalitat und Legitimitat wieder starker betont.
Carl Schmitt
kritisierte den Legalitatsglauben, der blind den Status quo rechtfertige. Das positive Recht werde zu einem manipulierbaren formalen Instrument staatlicher Burokratie.
[4]
Heute konkurrieren zahlreiche Versuche der Begrundung der Legitimitat einer sozialen Ordnung oder des Herrschaftshandelns z. B. durch deren innere Ubereinstimmung mit uberpositiven Bezugssystemen wie dem
Naturrecht
, durch sozialintegrative Wahrung einer bestimmten normativen Identitat der Gesellschaft, durch Ubereinkunft aufgrund rationaler Argumentation oder diskursiven Nachweis der Wahrheit bzw. praktischen Bewahrung. Auch
Prinzipien
(
Postulate
eines Gesetzes) konnen zur Legitimation gesellschaftlicher Ordnungen oder Zustande herangezogen werden, wie etwa die Legitimation gesellschaftlicher Ungleichheit durch das
Leistungsprinzip
und die daraus hervorgehende
Meritokratie
[5]
Der radikale
Skeptizismus
lehnt jede Form der Legitimation sozialer Normen als willkurliche Festlegung ab.
[6]
[7]
Im Verstandnis von
Franz Oppenheimer
muss sich ein soziologisches Verstandnis von Legitimitat nicht an Idealen oder an formaljuristischen Aspekten, sondern an der Realitat orientieren. Die Staatsangehorigen akzeptieren die staatliche Herrschaft durch aktive Zustimmung oder passive
Resignation
. Diese Hinnahme wird als
Legitimation
(Rechtfertigung) verstanden. Nur weil die meisten Menschen das
politische System
auf diese Art tragen, erhalt es Stabilitat und kann seine
Macht
erhalten. Nehme diese Akzeptanz ab, werde auch die Stabilitat der Herrschaft schwach. Soziologische Legitimation und Herrschaftsmacht gehen demnach Hand in Hand.
Die soziologische Legitimitat der Staatsgewalt lasst sich somit nur aus der realen Macht eines Staates ableiten. Sie ist nicht an die formaljuristische, sondern an die faktische Staatsgewalt gebunden. Sie erfahrt ihre Legitimation aus sich selbst heraus, d. h. durch die Macht, Recht und Ordnung (neu) zu definieren, um so auch die eigene formaljuristische Rechtmaßigkeit und Legitimation festzulegen. Fur Oppenheimer ist der Staat wie fur
Karl Marx
?seiner Entstehung nach ganz und seinem Wesen nach auf seinen ersten Daseinsstufen fast ganz eine gesellschaftliche Einrichtung, die von einer siegreichen Menschengruppe einer besiegten Menschengruppe aufgezwungen wurde mit dem einzigen Zwecke, die Herrschaft der ersten uber die letzte zu regeln und gegen innere Aufstande und außere Angriffe zu sichern. Und die Herrschaft hatte keinerlei andere Endabsicht als die okonomische Ausbeutung der Besiegten durch die Sieger.“
[8]
Max Weber
hat im Rahmen seiner Herrschaftssoziologie drei Typen legitimer
Herrschaft
definiert. Er unterscheidet die
charismatische
, die
traditionale
und die
rationale
Herrschaft.
Geltungsgrundlage aller legitimen Herrschaft ist ihm zufolge der Legitimitatsanspruch der Herrschenden und der Legitimitatsglaube der Beherrschten. Bei
charismatischer Herrschaft
ist Geltungsgrund die Faszination durch einen Machthaber und der Glaube an seine (oft religiose) Berufung (z. B. durch
Gottes Gnade
oder ein
Mandat des Himmels
),
[9]
bei traditionaler Herrschaft ist Geltungsgrund die auf Uberlieferung gegrundete Uberzeugung von der Rechtmaßigkeit eines uberkommenen Regimes, bei rationaler Herrschaft ist es die als legitim empfundene Legalitat, d. h. die ?Fugsamkeit gegenuber formal korrekt und in der ublichen Form zustandegekommenen Satzungen“.
[10]
Fur
Niklas Luhmann
ergibt sich die Bereitschaft, staatliche oder Verwaltungsentscheidungen hinzunehmen, nicht aus normativen Vorstellungen uber deren Legitimation, sondern durch den Glauben an die Geltung von Verfahren hinsichtlich inhaltlich noch unbestimmter Entscheidungen und durch die Beteiligung an diesen Verfahren.
[11]
Nichtstaatliche (wenn auch oft durch den Staat geschutzte) Institutionen wie Ehe, Familie, Kirche, Feiertage, das Wissenschaftssystem usw. sichern sich allgemeine soziale Anerkennung (teils in mehrfacher Form), d. h. sie legitimieren sich (bzw. ihre Entscheidungen) durch
- Recht (z. B. Familienrecht, Kirchenrecht, Vereinsrecht usw.)
- Soziale, wissenschaftliche oder Verwaltungsverfahren (siehe
Legitimation durch Verfahren
)
[12]
- Tradition
- Rituale
, also Inszenierungen, die etwas Außergewohnliches erlebbar machen, das uber den Alltag hinausgeht.
- Illegitim
als Bezeichnung
außerehelicher Kinder
, vor allem im
Hochadel
und
Adel
, mit entsprechenden Rechtsfolgen fur ihre soziale, dynastische oder erbrechtliche Stellung;
siehe dazu:
Bastard
- Alexander Gauland
:
Das Legitimitatsprinzip in der Staatenpraxis seit dem Wiener Kongress
(=
Schriften zum Volkerrecht
, Bd. 20). Duncker & Humblot, Berlin 1971,
ISBN 3-428-02569-5
(zugl. Diss., Univ. Marburg, 1970).
- Karin Glaser:
Uber legitime Herrschaft. Grundlagen der Legitimitatstheorie.
Springer VS, Wiesbaden 2013,
ISBN 978-3-658-00460-6
.
- Jurgen Habermas
:
Legitimitatsprobleme im modernen Staat.
In:
Peter Graf Kielmansegg
(Hrsg.):
Legitimationsprobleme politischer Systeme.
Westdeutscher Verlag, Opladen 1976,
ISBN 978-3-531-11354-8
, S. 39?61.
- Wilhelm Hennis
:
Legitimitat ? Zu einer Kategorie der burgerlichen Gesellschaft.
In: Peter Graf Kielmansegg (Hrsg.):
Legitimationsprobleme politischer Systeme.
Westdeutscher Verlag, Opladen 1976,
ISBN 978-3-531-11354-8
, S. 9?38.
- Max Kaase
:
Legitimitatskrise in westlichen Industriegesellschaften. Mythos oder Realitat?
In:
Helmut Klages
, Peter Kmieciak (Hrsg.):
Wertwandel und gesellschaftlicher Wandel.
Campus, Frankfurt am Main/New York 1979,
ISBN 978-3-593-32417-3
, S. 328?350.
- Peter Graf Kielmansegg
:
Legitimitat als analytische Kategorie.
In:
Politische Vierteljahresschrift
.
12, Nr. 3, 1971, S. 367?401.
- Hella Mandt
:
Legitimitat.
In:
Dieter Nohlen
,
Rainer-Olaf Schultze
(Hrsg.):
Lexikon der Politik.
Band 1:
Politische Theorien.
Beck, Munchen 1995,
ISBN 978-3-406-36904-9
, S. 285?298.
- Dieter Nohlen
:
Legitimitat.
In: Ders., Rainer-Olaf Schultze,
Suzanne S. Schuttemeyer
(Hrsg.):
Lexikon der Politik.
Band 7:
Politische Begriffe.
Beck, Munchen 1998,
ISBN 978-3-406-36904-9
, S. 350?352.
- Dolf Sternberger
:
Max Webers Lehre von der Legitimitat.
In:
Wilfried Rohrich
(Hrsg.):
Macht und Ohnmacht des Politischen.
Kiepenheuer & Witsch, Koln 1967,
DNB
457480335
, S. 11?126.
- Bettina Westle
:
Legitimitat.
In:
Everhard Holtmann
(Hrsg.):
Politik-Lexikon.
3. Auflage, Munchen, Oldenbourg 2000,
ISBN 978-3-486-24906-4
, S. 346?350.
- Bettina Westle:
Politische Legitimitat ? Theorien, Konzepte, empirische Befunde.
Nomos, Baden-Baden 1989,
ISBN 978-3-7890-1720-9
.
- Reinhold Zippelius
:
Allgemeine Staatslehre. Politikwissenschaft.
16. Auflage, Beck, Munchen 2010,
ISBN 978-3-406-60342-6
, S. 94 ff.
- ↑
Kant:
Metaphysik der Sitten.
Einleitung III. Akademie-Ausgabe Bd. 6, S. 219.
- ↑
Gianfranco Casuso:
Die Frage nach der Legitimitat sozialer Ordnungen.
In: Andreas Arndt u. a.:
Hegel-Jahrbuch 2017
, Heft 1, De Gruyter, 2018,
doi
:
10.1515/hgjb-2017-0147
.
- ↑
Legalitat, Legitimitat
, in: Hist. WB Philos. 5, S. 162.
- ↑
Carl Schmitt:
Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus.
Berlin 1923. 10. Auflage Berlin 2017.
- ↑
R. Becker, A. Hadjar:
Meritokratie: Zur gesellschaftlichen Legitimation ungleicher Bildungs-, Erwerbs- und Einkommenschancen in modernen Gesellschaften.
In: R. Becker (Hrsg.):
Lehrbuch der Bildungssoziologie.
VS Verlag fur Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2009, S. 35?59.
- ↑
Hans Blumenberg:
Legitimitat der Neuzeit.
Frankfurt 1974.
- ↑
Jurgen Habermas:
Legitimitatsprobleme im Spatkapitalismus.
Frankfurt 1973.
- ↑
Franz Oppenheimer
,
Der Staat
, 3. Aufl. 1929, S. 16.
- ↑
Von Dolf Sternberger (1967) auch ?numinose Legitimation“ genannt.
- ↑
Max Weber:
Wirtschaft und Gesellschaft
, 5. Aufl. 1976 (Studienausgabe), S. 19 f., 122 ff.
- ↑
Niklas Luhmann:
Rechtssoziologie.
2, 1972, S. 259 ff.
- ↑
Niklas Luhmann:
Legitimation durch Verfahren
. 6. Auflage, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2001,
ISBN 3-518-28043-0
.