Dieser Artikel beschreibt den medizinischen Begriff. Zum philosophischen Begriff
koine aisthesis
siehe
Gemeinsinn (innerer Sinn)
.
Die
Zonasthesie
(von
griechisch
koinos
?allgemein“ und
α?σθησι?
aisth?sis
?Wahrnehmung“, ?Empfindung“) oder das
Gurtelgefuhl
bezeichnet Phanomene der Korperwahrnehmung. Im medizinischen Sinne gelten unklare und schwach ausgepragte, bisweilen nicht
lokalisierbare
Empfindungen
als Zonasthesien. In Abgrenzung dazu spricht man bei
Dysasthesien
von Empfindungsstorungen.
Der Ausdruck ?Coenasthesie“ ist abgeleitet von altgriechisch
koine aisthesis
. Er ist im heute gebrauchlichen medizinischen Sinne als erstes im Jahr 1794 von dem Hallenser Psychiater
Johann Christian Reil
(1759?1813) und seinem Doktoranden Hubner eingefuhrt worden.
[1]
Auch
Rene A. Spitz
(1887?1974) hat sich unter
entwicklungspsychologischen
Gesichtspunkten fur die Verbreitung des Begriffs verdient gemacht.
[2]
[3]
Der in Frankreich haufig gebrauchte Begriff geht u. a. auf den franzosischen Psychiater
Ernest Dupre
(1862?1921) zuruck.
[4]
? Alternative begriffliche Schreibweisen existieren als
Coenasthesie
,
Koenasthesie
oder
Zoenasthesie
und sind auch unter den Synonymen
Vitalgefuhl
,
Lebensgefuhl
,
Leibempfindung
,
Leibgefuhl
,
Gemeingefuhl
(
sensus communis
[5]
) und
Gemeinempfindung
bekannt.
Betrachtet man Zonasthesien als Erscheinungen des
Gemuts
, so kann man sie ebenso wie
Gefuhle
auch als
sensorische
Leistungen ansehen. Eher bewusste Zonasthesien werden nicht nur als Gemeinempfindungen,
[6]
(a)
sondern auch als Korperwahrnehmungen beschrieben. Beispiele dafur sind Hunger, Durst, Mudigkeit, geschlechtliche Erregung. Sie sind nur undeutlich von Organempfindungen abgrenzbar. Hunger kann als allgemeine vitale
Leibempfindung
, aber auch als unangenehme
Wahrnehmung
in der Magengrube auftreten. In ahnlicher Weise ist dies bei der
Ubelkeit
der Fall. ? Auf die Differenzierungen des
Gegenstandsbewusstseins
hat
Karl Jaspers
(1883?1969) hingewiesen. Er unterschied zwischen bildhaften und leibhaften Qualitaten der Auffassung. Bei den bildhaften Qualitaten uberwiege der Subjektivitatscharakter, bei den leibhaften der Objektivitatscharakter. Bildhafte Auffassungen seien als Vorstellungen, leibhafte als Wahrnehmungen anzusehen. Durch den Prozess des
intentionalen Akts
werde die Auffassung beseelt.
[7]
Als korpernahe Empfindungen werden Vitalgefuhle dagegen haufig als
personlichkeitsfremd
bzw. als tieferen Bewusstheitsschichten zugehorig beschrieben.
[8]
[9]
Als personlichkeitsnahe werden auch die
Zustandsgefuhle
erlebt.
[4]
Siehe dazu auch das nachfolgend dargestellte und an der Personlichkeitsentwicklung orientierte Begriffspaar der Re- und Desomatisierung, das 1955 von
Max Schur
eingefuhrt wurde.
Entsprechend der Wortbedeutung aus
altgriechisch
koine aisthesis (?οιν? α?σθησι?) sind zunachst die nach
Aristoteles
und der heutigen
Wahrnehmungstheorie
zu verstehenden hochsten Sinnesleistungen in den tertiaren Hirnzentren zu erwahnen als Sinnesleistungen, die ?allen Sinnen gemeinsam“ sind, vergleiche auch die Darstellung dieser Theorie anhand des
Sehvermogens
.
[10]
[11]
Diese Form des
Sensus communis
in
sensualistischem
Wortverstandnis meinte auch
Henri Ey
mit ?Zonasthesie“ als ?hochere Leistung“ des Gehirns in seiner
organo-dynamischen Theorie
.
[12]
Carl Gustav Jung
gebraucht den Begriff Zonasthesie in diesem Sinne als hoheren ?Vorstellungskomplex“, der mit der Wahrnehmung des
Ichs
in Verbindung steht.
[13]
Begriffe wie ?hoherer“ Vorstellungskomplex oder ?tiefes“ Gefuhl setzen eine raumliche
Metaphorik
voraus bzw. gehen von einer
Schichtenlehre
aus.
[8]
Andererseits zahlen etwa Hunger und Durst zu den
stammesgeschichtlich
und
entwicklungsgeschichtlich
altesten Gemeingefuhlen und konnen daher nach dem phylogenetischen Konzept der
Desomatisierung
bzw. nach dem
psychogenetischen Grundgesetz
mit Recht als korpernahe bezeichnet werden. ? Im Lehrbuch von
Hermann Rein
und
Max Schneider
werden Hunger und Durst als ?Gemeingefuhle“ bezeichnet. Die Bezeichnung ?Gemeingefuhl“ leite sich davon ab, dass dieses nicht lokalisierbar sei.
[14]
Anaklitische Reize
, wie sie vielfach im Zusammenhang mit Essgewohnheiten stehen, sind andererseits als Ausloser fur gemeinschaftsbildendes Verhalten anzusehen (
Internalisierung
).
[15]
[16]
[17]
?Das Herz mir im Leibe entbrannte,
Da hab ich mir heimlich gedacht,
Ach, wer da mitfahren konnte
In der prachtigen Sommernacht.“
?
Eichendorff
Das ?Entbrennen des Herzens“ kann im wortlich aufgefassten Sinne als Zonasthesie bezeichnet werden. Fraglich erscheint, ob das ?Herz“ nur symbolisch gemeint ist, d. h. stellvertretend fur
Gemut
. Gruhle erortert dabei den Gesichtspunkt der
Objektbeziehung
, wie er im Begriff der
Sehnsucht
enthalten erscheint und auch fur andere Gefuhle gilt. Auch der
Hunger
habe z. B. eine solche Objektbeziehung, namlich die nach Nahrungsmitteln. Weiter stellt sich die Frage, ob das Eichendorff-Zitat eine
Gemutsbewegung
beinhaltet, die nicht nur sensorische Qualitaten, sondern auch
motorische
bzw.
emotionale
Willens- und Handlungskomponenten anspricht. Im Begriff der Gemutsbewegung sei eher der zeitliche Ablauf gemeint, sagt Gruhle. Gemutsbewegung, sei nur ein Bild. Es bewege sich dabei nichts.
[8]
Andererseits ist diese ?Bewegung“ auch als innere
Einstellung
oder Bereitstellung vorstellbar ? einem Modell folgend, das Gruhle nicht berucksichtigt hat.
[18]
Als gegensatzliches Leibgefuhl zum Hunger ware hier auf den Begriff der
Nausea
zu verweisen.
[18]
Fragen nach der Objektbeziehung von Zonasthesien verdeutlichen gewiss den korpernahen Charakter dieser Gefuhle. Im Falle der Sehnsucht ist solch konkreter Objektbezug allerdings nicht zwingend anzunehmen. Sehnsucht kann sich auch auf den unbestimmten Wunsch beziehen, sich von einem ganz bestimmten und festen Ort zu entfernen, an den man sich selbst gebunden oder gar an dem man sich gefangen fuhlt (
Fernweh
). Auch in diesem Falle sind jedoch korperliche ?Bewegungen“ zumindest intendiert. Zonasthesien machen in dieser Hinsicht keine Ausnahme von der allgemeinen
Ambivalenz
, die aller
Affektivitat
eigen ist. Eine zweidimensionale Unterscheidung zwischen
- aktiven (objektbezogenen) und passiven (frei flottierenden und diffusen) bzw. auch zwischen
- angenehm (positiv) und unangenehm (negativ) getonten Gefuhlen
[19]
erscheint somit zwar zutreffend, bildet aber die Vielfalt ambivalenter Einstellungen noch nicht erschopfend ab.
Im positiven Sinne
wird Lebensgefuhl haufig als bewusstes Gefuhl definiert, am wirklichen Leben teilzuhaben, mitten im Leben zu stehen, als Ausdruck von
Vitalitat
.
[20]
Lebensgefuhl ist somit teilweise synonym mit Vitalgefuhl. Diese Definition umfasst Gemeinempfindungen wie Hunger und Durst,
[8]
stellt aber auch eine eher langfristige und sozial ubergreifende Bewertung der
Befindlichkeit
bzw. eine
Grundstimmung
dar.
[19]
Max Scheler
bezeichnete das Lebensgefuhl als raumliche und
zeitliche
Ferngefuhle.
[9]
[21]
[22]
[6]
(b)
Im negativen Sinne
wird Lebensgefuhl erst dann bewusst, wenn grundlegende Bedingungen der Existenz bedroht erscheinen.
Emil Lederer
hat dies am Beispiel der okonomisch selbstandigen Gesellschaftsschicht nach dem
Ersten Weltkrieg
im Gegensatz zur Arbeiterschicht hervorgehoben.
[23]
Lebensgefuhl kommt insbesondere in der Kunst zum Ausdruck. Es kann etwa am Beispiel der
Gotik
verdeutlicht werden. Ein unterschiedliches Lebensgefuhl ist an verschiedenen Kunstrichtungen der Gotik wie z. B. der Richtung in der
Ile de France
(z. B.
Notre Dame de Paris
), am
Straßburger Munster
und am
Mainzer Dom
zu veranschaulichen.
Pieter Brueghel der Altere
hat das Lebensgefuhl der niederlandischen Bevolkerung vor dem Ausbruch des
Achtzigjahrigen Kriegs
zum Ausdruck gebracht, das sich nicht nur an dem bedrohlichen Schiefstand des Turmes erkennen lasst.
[19]
Wolfgang Schmidbauer
sieht das moderne Lebensgefuhl durch die
Angst
bedroht. Es werde in eine fatale Abhangigkeit von den Fortschritten der Industriegesellschaft gebracht.
[24]
Die zunehmende Tendenz zum Single-Dasein etwa trage zu einer erschwerten Entscheidung fur eigene Kinder und so zum
demographischen Wandel
bei.
[24]
Das Herz als Lokalisation von Leibgefuhlen wurde bereits im vorletzten Kapitel
Ein literarisches Beispiel
genannt. Haufig ist ? zumindest im Sprachgebrauch ? der
Bauch
Sitz von Gefuhlen. So ist z. B. die Rede von ?Wut im Bauch haben“.
[25]
Gerd Gigerenzer
hat auf das Bauchgefuhl als Synonym fur
Intuition
hingewiesen. Gegenuber rationalen Uberlegungen besitzen intuitive Entscheidungen den Vorteil schneller, einfacher und effektiver Abschatzungen.
[26]
Ob rein organisch bedingte, eng umschriebene
Dysasthesien
zu den Zonasthesien zu zahlen sind, erscheint fraglich. Unter
Gurtelgefuhl
z. B. wird u. a. in der Neurologie ein Umschnurungsgefuhl verstanden, so als ob ein fester Gurtel den Leib umgebe. Nach dem
Roche-Lexikon Medizin
und dem
Pschyrembel-Worterbuch
wird dies etwa bei
Myelitis
,
Tabes
und
Angina Pectoris
beobachtet.
[27]
[28]
Allerdings wird nach alteren Lexika wie dem von
Dornbluth
oder
Guttmann
dieses Gurtelgefuhl auch bei
Hysterie
und
Neurasthenie
beobachtet. Ahnlich zusammengesetzte Termini sind z. B.
Gurtelrose
.
[29]
[30]
Die Zuordnung des Gurtelgefuhls zur Zonasthesie erscheint im Falle der Hysterie oder der Neurasthenie, also ohne sicheres organisches Korrelat, angebracht. Die
Lokalisierung
bei Zonasthesien ist von Fall zu Fall oder im Verlauf einer selben Erkrankung eher fließend. Fur Hysterie ist bisweilen eine nur scheinbare, nicht exakt abgrenzbare Halbseitensymptomatik charakteristisch. Die medizinische Terminologie kennt auch den Begriff der ?Zonasthesie“ als gleichbedeutend mit Gurtelgefuhl, abgeleitet von der Ausbreitung von Leibgefuhlen uber bestimmte ?Korperzonen“ bzw. uber umschriebene Bezirke und daher nicht mit ?Zonasthesie“ zu verwechseln!
[30]
[27]
In der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff Zonasthesie seit
Pierre Cabanis
in Frankreich als vermittelnder Begriff zwischen rein außerlichen Einflussen und spontaner Seelentatigkeit verstanden.
[31]
Da die franzosische Medizin damals fuhrend war, hat sich ausgehend von den
Vitalisten
auch die Bezeichnung ?Vitale Leibempfindung“ oder ?Leibgefuhl“ eingeburgert. Hierunter wird ?das auf dem unbewussten Registrieren
propriozeptiver
Empfindungen im Eingeweidebereich basierende, eng mit der
Korperfuhlsphare
verknupfte Gefuhl fur die eigene korperliche Existenz“ im Sinne eines Wohlbehagens oder guten Allgemeinbefindens verstanden.
[27]
Ob ?vitale Leibempfindungen“ oder ?Leibgefuhle“ sich speziell auf die
Eingeweide
beziehen, wie aufgrund vorstehender und nachfolgender Quelle ausgefuhrt, erscheint fraglich. Bezuglich der angeblich zugrundeliegenden Vorstellung, dass ?in den Eingeweiden entstehende Empfindungen fortwahrend im unbewußten Teil der Psyche registriert werden“,
[4]
siehe auch die Unterscheidung zwischen
Propriozeption
und
Viszerozeption
. Rein sprachliche Ableitung ? etwa aus altgriechisch koilia (κολ?α) = Bauch ? trifft nicht zu. Bei einem Vergleich von
somatosensorischem
und somatomotorischem Cortex fallt auf, dass die Viszerozeption zwar dem somatosensorischen Cortex zugeordnet ist, hier aber eine Entsprechung seitens des somatomotorischen Cortex nicht besteht, vgl. nachfolgende Abb. Die motorische Steuerung der Eingeweide unterliegt bekanntlich dem
autonomen
und nicht dem
somatischen Nervensystem
. Umso mehr ist jedoch davon auszugehen, dass diese zentrale Reprasentanz der Eingeweide bei der Ausbildung des
Korperschemas
eine Rolle spielt. Diese
somatosensorische Entwicklung
insbesondere im kortikal sensiblen
Assoziations-
bzw. Nebenfeld (
Lobulus parietalis superior
) zahlt jedoch zu den differenziertesten und am spatesten ausreifenden Funktionen und unterliegt daher auch entsprechend vielfaltigen Einflussen der Schadigung. Der franzosische Neurologe
Pierre Bonnier
(1861?1918) hat fur diese Storungen den Begriff Aschematismus (franz. aschematie) vorgeschlagen.
[32]
Als
Zonasthesien im engeren Sinne
werden vielfach nach
Gerd Huber
abnorme, den eigenen Korper betreffende Wahrnehmungen und Empfindungen bezeichnet. Hierzu gehoren
Dysasthesien
wie zum Beispiel Kribbeln, Empfindungen des Schrumpfens des eigenen Korpers, kreisende Bewegungswahrnehmungen im Unterleib. Zonasthesien treten bei
psychischen Storungen
wie etwa Schizophrenie oder
Hypochondrie
auf, die durch das Konzept der
Resomatisierung
erklarbar sind.
[33]
Von den Zonasthesien sind nach Huber
Zonasthesien im weiteren Sinne
bzw. die
Leibhalluzinationen
? auch
zonasthetische Halluzinationen
genannt ? abzugrenzen, wie sie bei
Schizophrenie
[34]
auftreten. Letztere werden als
von außen gemacht
wahrgenommen. Die Ursache fur das abnorme Korpergefuhl wird also außerhalb des eigenen Korpers lokalisiert (beispielsweise ?man wird von elektrischen Stromen durchflossen, die von bestimmten Apparaten ausgehen“ oder ?im Korperinneren durch Hypnose verandert“). Dies ist bei den Zonasthesien im engeren Sinne nicht der Fall.
[33]
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