Kollektivierung
(von
lateinisch
collectivus
?angesammelt‘) bezeichnet allgemein den organisierten Zusammenschluss von Menschen zu Gemeinschaften, Vereinen oder
Genossenschaften
. Meist geht es im aktuellen Sprachgebrauch um den Zusammenschluss einzelner Produzenten zu
landwirtschaftlichen
,
handwerklichen
und anderen kleineren Betrieben.
Die
sowjetische
Fuhrung unter
Josef Stalin
begann Ende der 1920er Jahre mit einer radikalen Neuorganisation der Landwirtschaft. An die Stelle der traditionellen
Obschtschina
sollte der
Dorfsowjet
treten, der in engem Verbund mit den neuen sozialistischen Großbetrieben, seien es
Kolchosen
oder
Sowchosen
, die dorfliche Sozialstruktur auf den Kopf stellte. Dabei setzten die
Bolschewiki
in großem Maßstab okonomische, physische und psychische Gewalt ein.
[1]
Die Kollektivierung ging im Zuge der ?
Großen Wende
“ einher mit der forcierten
Industrialisierung der Sowjetunion
. Weil diese Industrialisierung weder durch Ausbeutung von
Kolonien
, noch durch die Aufnahme von
Krediten
im Ausland zu finanzieren sei, habe die Bauernschaft einen ?
Tribut
“ zu entrichten, so Stalin. Trotz Knappheit exportierte die Sowjetunion das Getreide, um sich so Maschinen und Werkzeuge kaufen zu konnen (sogenannte Hungerexporte). Die Bauern selbst sollten fur die bei ihnen akquirierten Agrarprodukte kein volles
Aquivalent
erhalten.
[2]
Stalin machte damit die Bauernschaft quasi zu einer internen Kolonie, aus der das notwendige Kapital fur die Wirtschaftsentwicklung herauszuziehen sei.
[3]
Ein Ausloser fur die Kollektivierung waren die Schwierigkeiten der staatlichen Aufkaufer, im Winter 1927/28 den Getreidebedarf durch eine Beschaffungskampagne zu decken. Die gegenuber den Bauern auf Kompromiss orientierende
Neue Okonomische Politik
wurde ersetzt durch eine Politik der verscharften
Zwangsrequirierungen
(?außerordentliche Maßnahmen“), die zusatzliches Getreide in die staatlichen Vorratslager bringen sollten. Dabei wurde auch der fortan beruchtigte Artikel 107 des Strafgesetzbuches der
RSFSR
herangezogen, der der Bekampfung der
Spekulation
dienen sollte.
[4]
Mit Zwangsmaßnahmen wurden zwischen Juni 1928 und Juli 1932 mehr als 61 Prozent der Bauernwirtschaften in Kolchosen uberfuhrt.
[5]
An der
unteren Wolga
und im
Nordkaukasus
wurde bis Anfang der 1930er Jahre eine nahezu vollstandige Kollektivierung durchgesetzt. Hauptleidtragende dieser Entwicklung waren viele Mittelbauern, insbesondere jedoch die
Kulaken
. Weil sie tatsachlich oder angeblich Widerstand gegen die Zwangspolitik leisteten, wurden sie von den sowjetischen Machthabern mit außerster Harte verfolgt. Oftmals genugte die Anschuldigung,
Kulak
oder deren Sympathisant (Subkulake/Kulakenknecht = meist Mittelbauer) zu sein, um
deportiert
zu werden. Die die Kollektivierung flankierende
Entkulakisierung
forderte rund 530.000 bis 600.000 Menschenleben.
[6]
Die Landwirtschaft der UdSSR brach infolge von Kollektivierung und Entkulakisierung zusammen.
Besonders schwer traf Stalins Politik die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik, wo wahrend des
Holodomors
zwischen funf und sieben
[7]
und 14,3 Millionen (
Robert Conquest
) Menschen starben. Wahrend die Bevolkerung aus Not Blatter und Knospen aß und es bereits zu Kannibalismus kam, ließ Stalin in großem Umfang Getreide exportieren. Den Menschen wurde die Flucht aus den Hungergebieten verwehrt.
[8]
Auch in der Kasachischen SSR kam es, im Zuge der Kollektivierungskampagne und Zwangsrequirierungen, zu einer verheerenden
Hungersnot
, die etwa 1,5 Millionen Menschen das Leben kostete.
[9]
In der
DDR
begann die Kollektivierung in der Landwirtschaft 1952 mit der Grundung erster
Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften
(LPG). Nachdem in den drei Monaten des ?Sozialistischen Fruhlings“ 1960 die letzten 400.000 Landwirte, von vereinzelten Ausnahmen wie dem
Hof Marienhohe
abgesehen, in LPGen gezwungen worden waren, galt die Kollektivierung mit dem 31. Mai 1960 als vollendet. In diesem Zeitraum begingen 200 Bauern Selbstmord, 15.500 fluchteten nach Westdeutschland. Es fanden etwa 8.000 Schauprozesse statt.
[10]
In
Kyritz
wurde im April 2010 aus Anlass des 50. Jahrestages der Zwangskollektivierung durch den
Deutschen Bauernbund
ein
Mahnmal
enthullt. Auf der Bronzetafel an einem Findling steht der Satz:
[11]
Den Opfern der Zwangskollektivierung im sogenannten sozialistischen Fruhling 1960 in der DDR
Insgesamt wurden 19.345 Landwirtschaftliche Genossenschaften (LPG) in der DDR gegrundet, die auf 83,6 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Flache produzierten. (Siehe hierzu den Hauptartikel
Landwirtschaft in der DDR
). In der DDR und in den sozialistischen Staaten gab es den Begriff Kollektivierung nicht, dort wurde in teilweise marxistischen Begriffen von
Genossenschaftsbildung
, Uberfuhrung in genossenschaftliches Eigentum und
Vergesellschaftung
der
Produktionsmittel
gesprochen.
Die ubliche Inschrift auf Gedenksteinen war
Vereint sind wir alles, allein sind wir nichts.
In
Spanien
wahrend des
Burgerkrieges
von 1936 bis 1939 kam es in Teilen der von den Republikanern gehaltenen Gebieten zu Kollektivierungen, die nicht auf staatlicher Ebene, sondern unter
anarchistischen
Vorzeichen als
Kollektive Selbstverwaltung
durchgefuhrt wurden. Art, Umsetzung und Umfang dieser Maßnahmen waren regional sehr unterschiedlich. In der
Provinz Jaen
wurden 65 % der Nutzflache enteignet und davon 80 % kollektiviert, in der
Provinz Valencia
waren es 14 %. Dort, wo der
Großgrundbesitz
die uberwiegende Flache bewirtschaftet, war tendenziell die Zustimmung dieser Maßnahmen genauso wie die Harte der Durchsetzung am hochsten. Die Grundstuckseigentumer waren vielfach im Burgerkrieg geflohen. Kleinere Grundstuckseigentumer, die der Zwangskollektivierung nicht unterlagen, traten teilweise ?freiwillig“ den Kollektiven bei. Neben der Angst, in spateren Phasen
enteignet
zu werden, spielte die Kontrolle durch sozialrevolutionare Kontrollinstanzen eine Rolle. Ein freies Agieren am Markt war nicht moglich; auch die verbleibenden freien Landwirte waren in die
Kriegswirtschaft
eingebunden.
[12]
Der Umfang der Kollektivierung ist nur ungefahr bekannt. 1936/37 gaben die Republikaner an, dass 1500 Kollektive gebildet worden seien, fur den August 1938 wurden 2213 Kollektive genannt. In der Spitze seien 3 Millionen Spanier von den Kollektivierungen betroffen gewesen.
[13]
Die Enteignungen basierten de jure auf dem Enteignungs- und Nationalisierungsdekret der Regierung
Jose Giral Pereira
vom 7. Oktober 1936. Nach diesem Dekret wurden alle ?Aufstandischen“ entschadigungslos zu Gunsten des Staates enteignet. Die Arbeiter erhielten ein Nutzungsrecht. Dieses wurde zur Begrundung der Kollektivbildung herangezogen.
[14]
- Manfred Hildermeier
:
Geschichte der Sowjetunion 1917?1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates.
Beck, Munchen 1998,
ISBN 3-406-43588-2
.
- Leonid Luks
:
Geschichte Russlands und der Sowjetunion. Von Lenin bis Jelzin.
Pustet, Regensburg 2000,
ISBN 3-7917-1687-5
.
- Stephan Merl
:
Sowjetisierung in Wirtschaft und Landwirtschaft.
In: Institut fur Europaische Geschichte (Hrsg.):
Europaische Geschichte Online
.
Mainz 2011 (
Digitalisat
).
- Jens Schone
.
Fruhling auf dem Lande? Die Kollektivierung der DDR-Landwirtschaft.
Berlin: Links-Verlag, 2005.
- Lynne Viola, V. P. Danilov, N. A. Ivnitskii, and Denis Kozlov (Eds.):
The War Against the Peasantry. The Tragedy of the Soviet Contryside.
Yale University Press, New Haven & London 2005,
ISBN 0-300-10612-2
.
- ↑
Hildermeier, 1998, S. 378.
- ↑
Luks,
Geschichte Russlands und der Sowjetunion
, S. 265. Zur Rede Stalins vom ?Tribut“ der Bauern siehe Viola,
The unknown Gulag
, S. 15 f.
- ↑
Viola et al. (Eds.),
The War Against the Peasantry
, S. 64.
- ↑
Hildermeier, 1998, S. 379.
- ↑
Hildermeier, 1998, S. 389, Tabelle 9.
- ↑
Manfred Hildermeier:
Die Sowjetunion 1917?1991
(Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Bd. 31), Oldenbourg, 2. Aufl., Munchen 2007, S. 38 f.
ISBN 978-3-486-58327-4
.
- ↑
Wolfgang Zank:
Stille Vernichtung
,
Zeit online
, 3. Dezember 2008.
- ↑
Hellmuth Vensky:
Stalins Jahrhundertverbrechen
, in:
Die Zeit
online, 1. Februar 2010.
- ↑
N. Pianciola:
The collectivization famine in Kazakhstan, 1931-1933.
In:
Harvard Ukrainian studies.
Band 25, Nummer 3?4, 2001, S. 237?251,
PMID 20034146
.
- ↑
Wolfgang Bohmer: in
"Das war ein großes Unrecht". Zwangskollektivierung vor 50 Jahren
. Thuringische Landeszeitung, 26. April 2010
- ↑
Mechthild Kupper:
Kyritz. Bohmer und der funfte Agitator.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. April 2010
- ↑
Carlos Collado Seidel: Der Spanische Burgerkrieg: Geschichte eines europaischen Konflikts, Ausgabe 2, 2010,
ISBN 3-406-60288-6
, Seite 79?81,
Online
- ↑
Einfuhrend hierzu
Walther L. Bernecker
:
Agrarkollektivismus und Revolution. Zur sozio-okonomischen Entwicklung im republikanischen Herrschaftsgebiet wahrend des Spanischen Burgerkrieges 1936?1939
, in:
Geschichte und Gesellschaft
4. Jg., H. 3, 1978, S. 392?411.
- ↑
Walther L. Bernecker: Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert, 2010,
ISBN 3-406-60159-6
, Seite 164,
Online