Kasuistik
(
lateinisch
casus
‚Fall‘
; vgl. dazu ?
Kasus
“) bezeichnet allgemein die Betrachtung von
Einzelfallen
in einem bestimmten
Fachgebiet
.
Der Begriff Kasuistik findet sich in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, insbesondere in der
Rechtswissenschaft
,
philosophischen Ethik
und
Medizin
.
Unter Kasuistik wird eine Methode der Rechtsfindung verstanden, die nicht von abstrakten, umfassend geregelten Tatbestanden ausgeht, unter die Lebenssachverhalte subsumiert werden, sondern von spezifischen Einzelfallregelungen und damit von einer Vielzahl gesetzlich geregelter Einzelfalle. Die Einzelfalle werden im Gesetz aufgezahlt. Auch konnen fruhere Gerichtsentscheidungen
prajudizielle
Wirkung im Rahmen des
Richterrechts
entfalten.
Ausgangspunkt ist der
Einzelfall
(
casus
), bekannt bereits aus dem
romischen Recht
. Kasuistik zwingt zum Vergleich eines Lebenssachverhalts mit einem vormals bereits entschiedenen Fall gleichen Zuschnitts. Durch Kasuistik entstehen
Gesetzeslucken
, die durch
Generalklauseln
geschlossen werden konnen. Eine Verallgemeinerung (
Abstraktion
) in Gesetzen birgt andererseits die Gefahr, dass sie inhaltslos werden und auf mehr Lebenssachverhalte zutreffen als es dem ursprunglichen Gesetzeswillen entsprach.
Das anglo-amerikanische
Fallrecht
und das islamische Recht (?
Scharia
“) sind bis heute kasuistisch geblieben und sollen einerseits einen lebensfremden
Normativismus
und Formalismus verhindern,
[1]
andererseits unterliegen sie der Gefahr, unubersichtlich zu werden. Doch auch in der Kasuistik bilden sich im Laufe der Zeit durch Ansammlung vieler Einzelfalle abstrakte Regeln und Prinzipien heraus. Kasuistische Ansatze finden sich im deutschen Recht insbesondere dort, wo die Gesetzgebung der aktuellen, sich schnell andernden Lebenssituation hinterherhinkt. Das ist vor allem im
Steuerrecht
,
Handelsrecht
oder
Medienrecht
der Fall.
Vor- und Nachteile der Kasuistik:
[2]
Vor- oder Nachteil
|
Kasuistische Standards
|
Prinzipienorientierte Standards
|
Vorteile
|
Detailgenauigkeit
|
lediglich konzeptionelle Vorgaben
|
Nachteile
|
hoher Gesamtumfang des Regelwerks
|
hoher Abstraktionsgrad
|
In der philosophischen Ethik und in der katholischen
Moraltheologie
ist die Kasuistik der Teil der
Sittenlehre
, der fur mogliche Falle des praktischen Lebens anhand eines Systems von
Geboten
das richtige Verhalten bestimmt. Die aus dem Repertoire der
praktischen Philosophie
stammende Kasuistik ist nicht einheitlich zu verstehen. Einerseits beschreibt der Begriff im weiteren Sinne ein empirisches Verfahren, das nach Analogien und Ahnlichkeiten vorgeht, andererseits versteht man hierunter im engeren Sinne die Subsumption nach logischer Gesetzmaßigkeit.
Die klinische Medizin benutzt den Begriff bei der Beschreibung von einzelnen, oft paradigmatischen und
propadeutischen
Fallbeschreibungen bei
Krankheitsverlaufen
(
Patientengeschichten
,
Narrative Medizin
).
[3]
Dabei werden die Analyse von Einzelfallen und ihre Beurteilung als alleinige Erkenntnisquelle angesehen. Werden allgemeine Prinzipien erkennbar, so gewinnen sie ihre
Plausibilitat
erst aus Einzelfallen. Die Analyserichtung ist
induktiv
.
[4]
In der
Sozialen Arbeit
und
Sozialpadagogik
sowie in der
Psychologie
[5]
wird eine
komparative Kasuistik
eingesetzt. Dabei werden in ?Fallarbeit“ erstellte Einzelfallanalysen abstrahiert und zu ?Typen“ gruppiert, um sie dann zu vergleichen.
Beispielsweise schlagt
Reinhard Horster
fur die Kasuistik in der Sozialen Arbeit eine Typologie mit drei Schritten vor: (1.) symbolische Darstellung des Verstandnisses eines Falles, (2.) Analyse dieses Verstehens und (3.) Bildungsprozess, der durch die kasuistische Tatigkeit ausgelost wird.
[6]
Regula Kunz
schlagt ein Reflexionsmodell fur eine ?situative Kasuistik“ vor, die in acht Schritte strukturiert ist.
[7]
Durch eine Abstraktion von Schlusselsituation und ihre Gruppierung im Rahmen einer kasuistischer Arbeitsweise sowie durch die Verwendung von Schlusselsituationen als Modell fur die
Reflexion
und fur den Diskurs in
Intervisions
gruppen sollen Wissen und Handeln miteinander verknupft und so die eigene Professionalitat entwickelt werden.
[8]
Aufbauend auf Bauer/Ahmed/Heye (2010)
[9]
und Schon (1983)
[10]
betont
Maja Heiner
, dass es fur das professionelle Fallverstehen notwendig ist, dass die Fachkraft sich bewusst ist, dass schon die Entscheidung daruber, was das Bedeutsame eines Falles ist (was den ?Fall“ ausmacht), Konsequenzen hat, zumal die weiteren Begegnungen und Interaktionen zwischen Fachkraft und Klient sich vorrangig auf diese Feststellungen beziehen werden und andere Unterscheidungen tendenziell aus der Kommunikation ausgeschlossen werden. Damit der Beobachter die Prozesse uberhaupt spater außerhalb des konkreten Handlungserfordernisses (?handlungsentlastet“) rekonstruieren und reflektieren kann, erfordert das professionelles Fallverstehen eine Reflexion dieser Prozesse: ?der Beobachter muss sich beim Beobachten beobachten“.
[11]
Heiner hebt drei haufig auftretende Arten von Falldarstellungen hervor:
- den Demonstrationsfall (fokussiert dargestellt, mit deutlicher Schlussfolgerung, soll oft die
Allgemeingultigkeit
von Erkenntnissen und Erfahrungen illustrativ belegen oder das eigene Handeln rechtfertigen),
- den Kaleidoskopfall (erlaubt mehrere Deutungen, multiperspektivisch, wird oft in der Aus- und Fortbildung verwendet) und
- den Konfusionsfall (unklar/diffus, oft mundlich vorgetragen und mit offenem Handlungsausgang, mit unklarer Deutung, wird oft in eine
kollegiale Fallberatung
eingebracht).
[12]
John Forrester
postulierte, ausgehend von einer Betrachtung der
Psychoanalyse
im Vergleich zur
experimentellen Psychologie
, dass ganz allgemein das Wissen in
Humanwissenschaften
im Grunde auf Fall-basiertem Schlussfolgern beruhe.
[13]
Gemaß Duden ist Kasuistik ein bildungssprachlicher Begriff fur
Haarspalterei
,
spitzfindige Argumentation oder Wortverdreherei
.
- ↑
Martin Honecker:
Einfuhrung in die theologische Ethik
. 2002, S. 171.
- ↑
Stefan Hofmann:
Handbuch Anti-Fraud-Management
. 2008, S. 183.
- ↑
Robert Jutte
:
Vom medizinischen Casus zur Krankengeschichte.
In:
Berichte zur Wissenschaftsgeschichte.
Band 15, 1992, S. 50?52.
- ↑
Boris Zernikow
:
Palliativversorgung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen
. 2008,
S.
48
(
eingeschrankte Vorschau
in der Google-Buchsuche).
- ↑
G. Juttemann:
Komparative Kasuistik als Strategie Psychologischer Forschung
. In:
Zeitschrift fur Klinische Psychologie und Psychotherapie
.
Band
29
, 1981,
S.
101?118
.
- ↑
Reinhard Horster:
Sozialpadagogische Kasuistik
. In: Werner Thole (Hrsg.):
Grundriss Soziale Arbeit. Ein einfuhrendes Handbuch
. Leske + Budrich, 2002,
S.
449?558
,
hier S. 555
.
Zitiert nach Regine Kunz:
Wissen und Handeln in Schlusselsituationen der Sozialen Arbeit. Empirische und theoretische Grundlegung eines neuen kasuistischen Ansatzes.
Kapitel ?4.4.2 Begriffsbestimmung von Kasuistik als Ort der Theorie-Praxis-Relationierung“, S. 166.
- ↑
Regula Kunz:
Wissen und Handeln in Schlusselsituationen der Sozialen Arbeit. Empirische und theoretische Grundlegung eines neuen kasuistischen Ansatzes.
Kapitel ?6.1 Ausblick I ? Eine akteursorientierte Kasuistik: Arbeit mit Schlusselsituationen ? Reflexionsmodell“, S. 196?197.
- ↑
Ansatz.
In:
schluesselsituationen.ch.
Abgerufen am 5. November 2020
.
- ↑
Petra Bauer, Sarina Ahmed, Brit Heyer:
Was ist der Fall? Prozesse der Fallkonstitution in Jugendhilfeeinrichtungen
. In:
neue praxis
.
Band
6
, 2010,
S.
566?580
.
Zitiert nach Maja Heiner:
Handlungskompetenz ?Fallverstehen“
. In: R. Becker-Lenz, S. G. Ehlert, S. Muller-Hermann (Hrsg.):
Professionalitat Sozialer Arbeit und Hochschule
. VS Verlag fur Sozialwissenschaften, 2012,
S.
201?217
,
hier S. 202
,
doi
:
10.1007/978-3-531-94246-9_11
.
- ↑
Donald Alan Schon:
The reflective practioner. How professionals think in action
. Basic Books, New York 1983 (englisch).
Zitiert nach Maja Heiner:
Handlungskompetenz ?Fallverstehen“
. In: R. Becker-Lenz, S. G. Ehlert, S. Muller-Hermann (Hrsg.):
Professionalitat Sozialer Arbeit und Hochschule
. VS Verlag fur Sozialwissenschaften, 2012,
S.
201?217
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hier S. 202
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10.1007/978-3-531-94246-9_11
.
- ↑
Maja Heiner:
Handlungskompetenz ?Fallverstehen“
. In: R. Becker-Lenz, S. G. Ehlert, S. Muller-Hermann (Hrsg.):
Professionalitat Sozialer Arbeit und Hochschule
. VS Verlag fur Sozialwissenschaften, 2012,
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- ↑
Maja Heiner:
Handlungskompetenz ?Fallverstehen“
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Professionalitat Sozialer Arbeit und Hochschule
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- ↑
John Forrester:
If p, then what? Thinking in cases
. In:
History of the Human Sciences
.
Band
9
,
Nr.
3
, 1. August 1996,
ISSN
0952-6951
,
S.
1?25
,
doi
:
10.1177/095269519600900301
(englisch,
sagepub.com
[abgerufen am 16. April 2016]).