Dieser Artikel behandelt den Politiker Joseph Wirth. Zu anderen Personen dieses Namens siehe
Josef Wirth
.
Karl Joseph Wirth
(*
6. September
1879
in
Freiburg im Breisgau
; †
3. Januar
1956
ebenda) war ein deutscher Politiker (
Deutsche Zentrumspartei
) und vom 10. Mai 1921 bis zum 14. November 1922
Reichskanzler
der
Weimarer Republik
. Bei seinem Amtsantritt war Wirth der jungste deutsche Kanzler.
Der dem linken Flugel der katholischen Partei zugehorige Wirth wurde als Erfullungspolitiker beschimpft, da er im Prinzip die Zusammenarbeit mit den Siegern des Ersten Weltkriegs suchte. Allerdings ging er im April 1922, auch aus Verargerung uber geringe Zugestandnisse des Westens, auf ein Vertragsangebot
Sowjetrusslands
ein. Das Ergebnis war der
Vertrag von Rapallo
. In der fruhen Bundesrepublik beteiligte Wirth sich an
Wiedervereinigungsinitiativen
und fuhrte dazu auch Gesprache mit Politikern der
DDR
und der
Sowjetunion
.
Joseph Wirth wurde 1879 als Sohn des Werkmeisters Karl Wirth und dessen Frau Agathe, geborene Zeller, in Freiburg geboren. Seine Eltern ermoglichten ihm und seinen beiden Brudern eine hohere Schulbildung. Nach der Erlangung der Reifeprufung begann er sein Studium der
Sozialokonomie
und der
Mathematik
an der
Albert-Ludwigs-Universitat Freiburg
, wo er 1906 bei
Ludwig Stickelberger
promoviert wurde
(Uber die Elementarteiler einer linearen homogenen Substitution)
[1]
. 1908 fand er eine Anstellung als Professor am Realgymnasium in seiner Heimatstadt. 1909 war er einer der Grunder des
Vinzenzverein
s, einer katholischen Organisation zur Hilfe fur sozial Benachteiligte. In dieser Zeit trat Wirth der Zentrumspartei bei, fur die er ab 1912 in der Stadtverordnetenversammlung saß. Ein Jahr spater zog er in die
Badische Standeversammlung
ein. Im Februar 1914 wurde er Mitglied des
Reichstags
, er gewann die Stichwahl gegen den Karlsruher Stadtrat
Leopold Kolsch
.
[2]
Nach Ausbruch des
Ersten Weltkrieges
meldete sich Wirth als
Kriegsfreiwilliger
. Er wurde fur dienstuntauglich erklart; daraufhin meldete er sich zum
Roten Kreuz
, fur das er bis 1918 als Krankenpfleger an der
Westfront
tatig war.
[3]
Joseph Wirth begrußte die
Novemberrevolution
1918, obwohl er sich noch ein Jahr zuvor mit der
Burgfriedenspolitik
des Reichskanzlers
Theobald von Bethmann Hollweg
identifiziert hatte. 1918 wurde Wirth badischer Finanzminister. Nach dem Rucktritt
Matthias Erzbergers
berief Reichskanzler
Hermann Muller
den Freiburger als dessen Nachfolger im Amt des
Reichsfinanzministers
. Im
Kabinett Fehrenbach
arbeitete sich Joseph Wirth in die Materie der Reparationszahlungen ein. Nach dem Rucktritt der Regierung
Constantin Fehrenbachs
infolge des
Londoner Ultimatums
, in dem die Entente die Annahme des Reparationsplanes verlangt hatte, stieg Joseph Wirth zum Reichskanzler auf.
Im Mai 1921 wurde der Wortfuhrer des linken Zentrumsflugels mit 41 Jahren zum bis heute jungsten deutschen Kanzler vereidigt. Anfangs hatte er weiterhin das Amt des Reichsfinanzministers inne. Seine Regierung stutzte sich auf die sogenannte
Weimarer Koalition
aus den Parteien der Mitte:
SPD
, Zentrum und
DDP
. Das
Kabinett Wirth I
entschloss sich bald zur Annahme des Londoner Ultimatums, um
an der Erfullung der Forderungen deren praktische Unerfullbarkeit
zu demonstrieren. Wirth rechnete mit der volligen Uberschreitung der volkswirtschaftlichen Leistungsfahigkeit des Reiches, weshalb die Reparationszahlungen ohnehin revidiert werden wurden. Rechte Kreise bekampften die
Erfullungspolitik
des Reichskanzlers auf das scharfste. Der Versuch, die Reparationsforderungen zu erfullen, uberforderte die bereits durch den Wiederaufbau hoch verschuldete Reichsregierung zunehmend. Die Aufnahme immer neuer Kredite trieb die Staatsverschuldung weiter in die Hohe. Die Reichsbank reagierte durch zunehmenden Druck von Banknoten und durch steigende Gelduberweisungen an die Regierung. Die Instabilitat der Weimarer Republik nach den
Fememorden
an
Karl Gareis
,
Matthias Erzberger
und
Walter Rathenau
und die Androhung der
Ruhrbesetzung
durch die Franzosen zur Eintreibung der Reparationszahlungen im Jahr 1923 fuhrten schließlich zu einer
Hyperinflation
. Die dadurch verursachte Verarmung der Bevolkerung trug dazu bei, das Vertrauen in die Republik zu untergraben und die Nationalsozialisten zu starken.
Nachdem sich bei der
Volksabstimmung in Oberschlesien
vom 20. Marz 1921 eine 60-%-Mehrheit fur den Verbleib in den bestehenden Grenzen ausgesprochen hatte, beschloss der
Volkerbundsrat
gemaß einer eigens im
Versailler Vertrag
vorgesehenen Moglichkeit, das industriell bedeutsame
Ostoberschlesien
Polen
zuzuteilen. Aus Protest gegen die in den Augen der deutschen Regierung gegen das
Selbstbestimmungsrecht der Volker
verstoßende Regelung trat das erste Kabinett Wirth zuruck.
Reichsprasident
Friedrich Ebert
beauftragte erneut Wirth mit der Regierungsbildung. Im Oktober 1921 nahm das
Kabinett Wirth II
die Arbeit auf. Die entscheidende personelle Veranderung war auf dem Gebiet der Außenpolitik zu verzeichnen: Außenminister
Friedrich Rosen
wurde ? nachdem kurzzeitig Wirth selbst dieses Amt innehatte ? durch Walther Rathenau abgelost. Im April 1922 nahm eine deutsche Delegation unter Wirth und Rathenau erstmals wieder gleichberechtigt an der Weltwirtschaftskonferenz in
Genua
teil. Am 16. April kam es auf Initiative Rathenaus zum uberraschenden Abschluss des bedeutenden
Vertrags von Rapallo
. Darin erkannten sich die Russische Sozialistische Foderative Sowjetrepublik (spateres Grundungsmitglied der Sowjetunion) und das Deutsche Reich volkerrechtlich an und verzichteten auf Reparationszahlungen. Dies stellte fur das Deutsche Reich eine stuckweite Wiedererlangung der Souveranitat dar. Wirth außerte intern, das Zusammengehen mit Russland erlaube es, dass Polen ?zertrummert“ werde.
[4]
Der diplomatische Erfolg des Kabinetts Wirth schmalerte aber nicht den Hass der Rechtsextremen auf die Erfullungspolitik. Nach der
Ermordung Rathenaus
am 24. Juni 1922 trat Wirth vor den
Reichstag
und rief am Ende seiner sehr emotionalen Rede, nach rechts zeigend, die bis heute bekannten Worte:
?Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes traufelt. ? Da steht der Feind ? und daruber ist kein Zweifel: dieser Feind steht
rechts
!“
?
Joseph Wirth
:
Der Reichskanzler anlaßlich der Ermordung des Reichsaußenministers Walther Rathenau
. Rede im Deutschen Reichstag, 25. Juni 1922
[5]
Dieser Auftritt beeindruckte auch
Harry Graf Kessler
, der seinen ungunstigen fruheren Eindruck von einer personlichen Begegnung
[6]
ausdrucklich revidierte: ?Schließlich hatte er drei Funftel des dichtgefullten Hauses auf den Beinen und gegen die Rechte gewendet, die blaß und schweigend dasaß wie auf einer Angeklagtenbank. […] Man fuhlt, es kommt eben wirklich aus der Tiefe seiner Uberzeugung: Ich habe dem Mann Unrecht getan; er ist doch jemand.“
[7]
Als Wirth wenige Wochen spater am 11. Juli eine Rede fur die Annahme des Republikschutzgesetzes durch die Parteien des Reichstags hielt, kam er auch auf einen Hetzartikel des deutschnationalen Abgeordneten
Wilhelm Henning
zu sprechen, der sich mit Bezug auf den allseits geachteten Rathenau ereifert hatte, die deutsche Ehre sei verloren, seit sie in die Hande eines Juden geraten sei. Wirth bezeichnete es als unerhort, dass solche Verleumdungen ausgesprochen werden konnten, und sprach sein Bedauern daruber aus, dass die deutschnationale Partei nicht den Mut gefunden habe, sich von solchen Mitgliedern zu trennen.
Als am 14. November 1922 der Versuch, alle demokratischen Krafte von SPD bis
DVP
in einer Koalition zu einigen, scheiterte, trat Reichskanzler Joseph Wirth zuruck.
In den folgenden Jahren setzte sich der Altkanzler fur die Republikschutzorganisation
Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold
ein. Zudem gab er die Zeitschrift
Deutsche Republik
heraus, wahrend er weiterhin Abgeordneter blieb. Im August 1925 ging die Zentrumspartei in der Regierung
Luther I
erstmals eine Koalition mit der
DNVP
ein, weshalb Wirth aus der Reichstagsfraktion austrat.
Hermann Muller
reaktivierte ihn fur das Amt des
Reichsministers fur die besetzten Gebiete
in der ersten
Großen Koalition
. In der Regierung
Heinrich Bruning
bekleidete Wirth das Amt des
Reichsinnenministers
(1930/31), das vorher von
Carl Severing
(SPD) gefuhrt worden war. In diesem einen Jahr fungierte er als Vermittler zwischen dem Reichskanzler und der SPD, bei der sich der Altkanzler großer Beliebtheit erfreute.
Im Jahr 1931 schied Joseph Wirth auf personliches Betreiben des Reichsprasidenten
Paul von Hindenburg
, dem der Badener als zu links gerichtet galt, aus dem Kabinett aus.
Im Marz 1933 stand das
Ermachtigungsgesetz
im Reichstag zur Debatte, das er in einer leidenschaftlichen Rede ablehnte. Am 24. Marz 1933, nach der Annahme des Ermachtigungsgesetzes, dem die Zentrumsfraktion einschließlich Wirth selber aufgrund des verfugten strikten Fraktionszwangs geschlossen zustimmte, verließ der entschiedene Gegner der nationalsozialistischen Ideologie das Deutsche Reich und emigrierte in die neutrale
Schweiz
.
Wirth erwarb eine Villa in
Luzern
und reiste zu Gesprachen mit fuhrenden Staatsmannern durch
Frankreich
und
Großbritannien
. Auf einer Reise entlang der Ostkuste der
USA
hielt er Vortrage an der
Universitat Harvard
, wo er mit dem im amerikanischen Exil lebenden Altkanzler Bruning zusammentraf, und in
Princeton
, um uber die Methoden des NS-Regimes aufzuklaren. Von 1935 bis 1939 lebte Wirth in
Paris
. Danach kehrte er nach Luzern zuruck. Er bemuhte sich uber personliche Beziehungen nach Rom um eine gegen die antisemitische Politik Deutschlands gerichtete Stellungnahme des
Vatikans
. Auf seine Initiative ging z. B. die Denkschrift
Die Kirche Christi und die Judenfrage
zuruck, die 1937 in der osterreichischen Zeitschrift
Die Erfullung
erschien und alle Christen, besonders aber den Papst und die romische Kurie, zu einer offentlichen Stellungnahme gegen die Judenverfolgung in Deutschland aufrief.
[8]
Außerdem unterhielt er Kontakte zu den Widerstandsgruppen
Solf-Kreis
und
Kreisauer Kreis
.
[9]
1949 kehrte Joseph Wirth in seine Heimat zuruck, nachdem die franzosischen Besatzungsbehorden dies bis dato verhindert hatten. Er lehnte die Politik
Konrad Adenauers
ab, da diese die Teilung Deutschlands zementiere. Daher grundete Wirth gemeinsam mit
Wilhelm Elfes
den neutralistischen ?
Bund der Deutschen
“ (BdD) und die
Deutsche Volkszeitung
. Der Altkanzler war Gegner einer reinen Westintegration und glaubte in der Tradition von Rapallo an einen Ausgleich mit der Sowjetunion, obgleich er deren Politik nicht guthieß. Zu politischen Gesprachen weilte Wirth 1951 erstmals in
Moskau
.
Die Bundesrepublik verweigerte ihm aufgrund seiner Zusammenarbeit mit Kommunisten und Gesprachen mit Vertretern der DDR die Zahlung einer Rente, wie sie etwa
Heinrich Bruning
und
Hans Luther
erhielten. In der
CIA
-Akte
The background of Joseph Wirth
wird eine Tatigkeit als ein sowjetischer Agent behauptet.
[10]
Die DDR billigte Wirth kleinere Finanzhilfen zu. 1954 wurde Wirth die
Deutsche Friedensmedaille
der DDR verliehen. 1955 erhielt er den
Stalin-Friedenspreis
.
[11]
1956 starb Joseph Wirth in seiner Heimatstadt Freiburg an
Herzversagen
.
[12]
- Bernd Braun:
Die Reichskanzler der Weimarer Republik. Zwolf Lebenslaufe in Bildern.
Droste, Dusseldorf 2011,
ISBN 978-3-7700-5308-7
, S. 202?235.
- Bernd Braun:
Gegen den Strom ? Joseph Wirths politisches Leben fur Weimar, gegen Hitler, fur die deutsche Einheit
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- Georg Herbstritt:
Ein Weg der Verstandigung? Die umstrittene Deutschland- und Ostpolitik des Reichskanzlers a.D. Dr. Joseph Wirth in der Zeit des Kalten Krieges (1945/51?1955)
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(Digitalisat
)
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In:
Exilforschung.
15, 1997, S. 180?199.
Nach Wirth benannt ist die
Joseph-Wirth-Stiftung, Verein zur Forderung der Politik der friedlichen Koexistenz e. V.
, deren Vorsitzende seit 1998
Ulrike Horster-Philipps
ist und die 2012 ins Handelsregister beim
Amtsgericht Freiburg
eingetragen wurde.
[13]
[14]
- ↑
Joseph Wirth
im
Mathematics Genealogy Project
.
- ↑
Kolnische Volkszeitung Nr. 140, 16. Februar 1914, S. 1.
- ↑
Arnulf Scriba:
Joseph Wirth.
Tabellarischer Lebenslauf im
LeMO
(
DHM
und
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) .
- ↑
Heinrich August Winkler
,
Der falsche Charme der Schaukelpolitik
. In:
Frankfurter Allgemeine Zeitung
, 7. Februar 2022, S. 6.
- ↑
Joseph Wirth (Zentrum):
Der Reichskanzler anlaßlich der Ermordung des Reichaußenministers Walther Rathenau
. Im Reichstag (236. Sitzung), 25. Juni 1922. In:
Verhandlungen des Reichstags. Stenographische Berichte. I. Wahlperiode 1920
. Bd. 356. Berlin 1922, S. 8054?8058 (
online
(
Memento
des
Originals
vom 25. Marz 2013 im
Internet Archive
)
Info:
Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht gepruft. Bitte prufe Original- und Archivlink gemaß
Anleitung
und entferne dann diesen Hinweis.
@1
@2
Vorlage:Webachiv/IABot/www.dhm.de
).
- ↑
Harry Graf Kessler:
Tagebuch
, 13. April 1922: ?Mein erster Eindruck jedenfalls der von jemandem sehr Subalternem […] der Hausknecht als Reichskanzler.“
- ↑
Harry Graf Kessler:
Tagebuch
, 25. Juni 1922.
- ↑
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In:
Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart.
Bd. 6:
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- ↑
Ulrich Schlie:
Altreichskanzler Joseph Wirth im Luzerner Exil (1939?1948)
. In:
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15, 1997, S. 180?199.
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Ulrich Schlie:
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In:
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Stalin-Friedenspreis fur Dr. Wirth.
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Bernd Braun:
Die Reichskanzler der Weimarer Republik ? Zwolf Lebenslaufe in Bildern
. Stiftung
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- ↑
Handelsregisterauszug von Joseph-Wirth-Stiftung, Verein zur Forderung der Politik der friedlichen Koexistenz e. V. (VR 700643).
Abgerufen am 8. Juni 2021
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- ↑
Ulrike Horster-Philipps:
Warum der Freiburger Nazi-Gegner Joseph Wirth fur Hitlers Ermachtigungsgesetz stimmte.
Badische Zeitung, 7. Juni 2021,
abgerufen am 8. Juni 2021
.