Dieser Artikel beschreibt Gedachtnis als Erinnerungsvermogen (im biologisch-psychologischen Sinne). Zur Bedeutung im Sinne von Gedenken siehe:
Erinnerungskultur
.
Gedachtnis
(von mittelhochdeutsch
gedaechtnisse
, ?Andenken, Erinnerung“) oder
Mnestik
bezeichnet die Fahigkeit der
Nervensysteme
von
Lebewesen
, aufgenommene
Informationen
umzuwandeln, zu speichern und wieder abzurufen. Beide Begriffe leiten sich ab von
mn?stis
, ?Gedachtnis‘
[1]
oder ?Gedenken‘
[2]
[3]
(dies von
altgriechisch
μν?μη
mn?m?
, deutsch
‚Gedachtnis, Erinnerung‘
; vergleiche auch
Amnesie
und
Amnestie
).
Im Gedachtnis gespeicherte Informationen sind das Ergebnis von bewussten oder unbewussten
Lernprozessen
. Die Gedachtnisbildung wird dabei durch die
neuronale Plastizitat
ermoglicht. Im ubertragenen Sinne wird das Wort ?Gedachtnis“ auch allgemein fur die Speicherung von Informationen in anderen biologischen und technischen Systemen benutzt.
Auch primitive Nervensysteme (z. B. jene von
Nesseltieren
) sind zu einfachen Lernprozessen befahigt. Komplexitat und Umfang von moglichen Gedachtnisleistungen haben im Laufe der Evolution zugenommen.
Eine einzelne gespeicherte und abrufbare Information wird
Engramm
(Gedachtnisspur) genannt. Die Gesamtheit aller Engramme bildet das Gedachtnis.
Die verschiedenen Gedachtnisarten konnen auf psychologischer Ebene nach zwei Aspekten eingeteilt werden: der
Dauer der Speicherung
oder der
Art des Gedachtnisinhalts
.
Nach der Dauer der Informationsspeicherung lasst sich das Gedachtnis in verschiedene Subsysteme einteilen. Unterschieden werden ublicherweise drei Systeme:
- Sensorisches Gedachtnis (auch
sensorisches Register
): Es halt Informationen fur Millisekunden bis Sekunden fest (z. B.
ikonisches oder echoisches Gedachtnis
).
- Arbeitsgedachtnis
(auch
Kurzzeitgedachtnis
): Es speichert Informationen etwa 20?45 Sekunden.
- Langzeitgedachtnis
: Es speichert Informationen uber Jahre.
Innerhalb des Langzeitgedachtnisses wird weiter unterschieden zwischen
deklarativem und prozeduralem
Gedachtnis. Das
deklarative
Gedachtnis speichert bewusst zugangliche Informationen: Das umfasst Fakten und Ereignisse, die entweder zur eigenen Biographie gehoren (
episodisches Gedachtnis
) oder das so genannte
Weltwissen
eines Menschen ausmachen (
semantisches Gedachtnis
, z. B. berufliche Kenntnisse, Fakten aus Geschichte, Politik, Kochrezepte). Das
prozedurale
Gedachtnis umfasst dagegen Fertigkeiten, die in der Regel automatisch und ohne Nachdenken eingesetzt werden. Dazu gehoren vor allem motorische Ablaufe (Fahrradfahren, Schwimmen, Tanzen, Skifahren). Prozedurale Gedachtnisinhalte werden uberwiegend durch
implizites Lernen
erworben,
deklarative
Inhalte dagegen durch
explizites Lernen
angeeignet.
Ein anderes Modell vertritt der
Levels-of-processing-Ansatz
.
Neue Informationen erreichen das Gehirn uber die Sinnesorgane und werden im
sensorischen Gedachtnis
(auch
sensorisches Register
, fruher auch
Immediatgedachtnis
,
Ultrakurzzeitgedachtnis
oder
Ultrakurzzeitspeicher
genannt) zwischengespeichert. Das sensorische Gedachtnis ist fur jede
Sinnesmodalitat
spezifisch, es wird auch als
ikonisches Gedachtnis
fur die
visuelle Wahrnehmung
und
echoisches Gedachtnis
fur die
auditive Wahrnehmung
bezeichnet. Die Fahigkeit, in einem Gesprach etwas zuvor Gesagtes zu wiederholen, obwohl gerade nicht hingehort wurde, ist ein Beispiel fur das auditive sensorische Gedachtnis.
Im sensorischen Gedachtnis werden weitaus mehr Informationen aufgenommen als im Arbeitsgedachtnis. Allerdings zerfallen diese auch schon nach wenigen Zehntelsekunden. Eine Moglichkeit, den Zerfall der Informationen in diesem Gedachtnissystems zu untersuchen, ist die sogenannte
Teilbericht-Methode
(engl.
partial-report
), die von
George Sperling
(1960)
[4]
entwickelt wurde. Bei dieser werden Versuchspersonen mehrere Reihen von Buchstaben (Set) in verschiedenen Zeilen dargeboten, wovon beim spateren Abruf immer nur einzelne Zeilen wiedergegeben werden sollen. Dies soll verhindern, dass in der Zeit wo einzelne Teile aus dem Set wiedergegeben werden, die anderen vergessen werden. Wird in einem Experiment die Zeit zwischen der Darbietung des Sets und dem Hinweis, welche Zeile wiedergegeben werden soll, variiert und die Gedachtnisleistung je nach Zwischenzeit verglichen, wird ein Schatzwert fur die Dauer der Speicherung erhalten. Mit dieser Methode konnte gezeigt werden, dass das visuelle sensorische Gedachtnis Informationen uber etwa 15 Millisekunden, das auditorische sensorische Gedachtnis hingegen uber etwa 2 Sekunden speichern kann.
[5]
Bei dieser Art der Erinnerung spielen zentral gesteuerte Prozesse, wie
Bewusstsein
oder
Aufmerksamkeit
, meist keine bedeutende Rolle. Diese konnen jedoch bei der Ubertragung von Information ins Arbeitsgedachtnis einen großen Einfluss haben.
Grundlage bewusster Informationsverarbeitung ist das Kurzzeitgedachtnis (in einigen Modellen auch
Arbeitsgedachtnis
). Das Kurzzeitgedachtnis ist ein Speicher, der eine eng begrenzte Menge von Information in einem unmittelbar verfugbaren Zustand bereithalt.
Nach einer Hypothese, die als historisch uberholt gilt, verfugt es uber eine ungefahre Kapazitat von etwa
7 ± 2
[6]
Informationseinheiten, sofern es sich um zahlenmaßig auflistbare Dinge handelte. Diese wurden auch
Chunks
genannt (siehe dort zu neueren Erkenntnissen).
Ein Aspekt, der im Rahmen der Erforschung des Kurzzeitgedachtnis besondere Beachtung fand, ist das ?schnelle Vergessen“. Dieses wurde zum ersten Mal von Peterson & Peterson (1959)
[7]
untersucht. Indem sie ihren Probanden einzelne Worter, Wort-Triaden und Konsonanten-Triaden zeigten, auf die eine ablenkende Aufgabe (ruckwarts zahlen) folgte, stellten sie einen deutlichen Abfall der Speicherleistung in Abhangigkeit von der Lange der ablenkenden Aufgabe fest. Zudem machte es einen Unterschied, ob die Worter einzeln oder in Gruppen dargeboten wurden. Einzelworter zeigten eine deutlich geringere Vergessensrate als eine Gruppe von drei Konsonanten oder drei Wortern. Letztere beiden unterschieden sich nicht voneinander. Murdock (1961)
[8]
bestatigte die Ergebnisse von Peterson & Peterson und konnte zusatzlich zeigen, dass die Darbietung mehrerer Dinge der gleichen semantischen Kategorie eine vorwarts gerichtete
Hemmung
verursachte. Den Probanden fiel es umso schwerer, zwischen den Dingen zu unterscheiden, je mehr sie gesehen hatten (Listenlangeneffekt). Dies zeigte sich in einem deutlichen Abfall der Erinnerungsleistung.
Delos Wickens (1970)
[9]
konnte zeigen, dass sich die vorwarts gerichtete Hemmung aufheben lasst, wenn Probanden Worter unterschiedlicher semantischer Kategorien prasentiert werden. Nach einem Kategorienwechsel stieg die Erinnerungsleistung wieder deutlich an. Gunter u. a. (1981)
[10]
fuhrten drei Experimente durch, in denen sie die vorwarts gerichtete Hemmung und ihre Aufhebung nachweisen konnten. Sie ließen ihren Probanden einzelne Fernsehnachrichten unterschiedlicher Themengebiete vorsprechen, von zum Beispiel innen- und außenpolitischen Themen. Einer Gruppe wurden vier ahnliche Themen prasentiert, der anderen drei ahnliche und ein Nachrichtenpunkt aus einem anderen Themengebiet. Bei der ersten Gruppe zeigte sich die vorwarts gerichtete Hemmung im Sinne einer abfallenden Gedachtnisleistung und bei der zweiten Gruppe zeigte sich die Aufhebung der Hemmung durch den Themenwechsel. Beide Effekte konnten auch bei einer verringerten Anzahl von Dingen und bei der zusatzlichen Aufgabe, diese genau zu beschreiben, gefunden werden. Außerdem konnten die Autoren einen Lerneffekt nachweisen, wenn bestimmte Dinge bereits in einem vorhergehenden Test gezeigt worden waren. Die Probanden konnten sich dann an diese in einem zweiten Test besser erinnern. Untersuchungen zum Zeitraum des Effekts der vorwarts gerichtete Hemmung deuteten am ehesten auf die Abrufphase.
Das ursprungliche
Modell
des Kurzzeitgedachtnisses wurde seit 1974 durch das
Arbeitsgedachtnismodell
von
Baddeley
erganzt, das folgende drei Systeme anfuhrt:
- Der
raumlich-visuelle Notizblock
zur kurzfristigen Speicherung visueller Eindrucke.
- Die
artikulatorische
oder
phonologische Schleife
dient zur Speicherung von verbalen Informationen, welche durch ein inneres Wiederholen relativ lange verfugbar bleiben konnen.
- Die
zentrale Exekutive
verwaltet die beiden Teilsysteme und verknupft Informationen aus diesen mit dem Langzeitgedachtnis.
Zuletzt ist das Modell um einen
episodischen Puffer
erweitert worden.
Das
Langzeitgedachtnis
ist das dauerhafte Speichersystem des Gehirns. Es handelt sich nicht um ein einheitliches Gebilde, sondern um mehrere Speicherleistungen fur verschiedene Arten von Information. Sie kann im Langzeitgedachtnis von Minuten bis zu Jahren gespeichert werden (sekundares Gedachtnis) oder sogar ein Leben lang (tertiares Gedachtnis). Uber Begrenzungen der Kapazitat des Langzeitgedachtnisses ist nichts bekannt. Allerdings lassen Studien bei sog. Savants (franz.) oder
Inselbegabten
eine deutlich hohere Gedachtniskapazitat vermuten als die normal genutzte.
[11]
Vergessen
scheint kein Kapazitatsproblem, sondern ein Schutz vor zu viel Wissen zu sein. Vergessen findet anscheinend weniger durch Informationsverlust wie in den anderen, kurzzeitigen Gedachtnisformen statt, sondern durch loschenden oder
verfalschenden
Einfluss von anderen, vorher oder nachher gebildeten Inhalten.
Zu unterscheiden sind verschiedene Prozesse des Langzeitgedachtnisses:
- Lernen
/
Enkodierung
: Neues Einspeichern von Information
- Erinnern/Abrufen: Bewusstwerden von Gedachtnisinhalten
- Konsolidieren
/Behalten: Festigung von Information durch wiederholten Abruf
- Verknupfen von neuen und alten Informationen
- Vergessen: Zerfall von Gedachtnisinhalten oder Abanderung durch konkurrierende Information
Fur die Uberfuhrung von neuen Gedachtnisinhalten in das Langzeitgedachtnis und das Bewahren von Information ist Uben oft forderlich, zum Beispiel durch das bewusste Abrufen und Uberdenken von Information im Arbeitsgedachtnis. Die Verankerung im Gedachtnis nimmt zu mit der Bedeutung, dem
emotionalen
Gewicht und der Anzahl der
Assoziationen
(Verknupfung mit anderen Inhalten).
Grundsatzlich werden zwei Formen des Langzeitgedachtnisses unterschieden, die unterschiedliche Arten von Information speichern: das
deklarative (explizite)
und das prozedurale
implizite Gedachtnis
. Die unterschiedlichen Informationsformen sind unabhangig voneinander und werden in verschiedenen Gehirnarealen gespeichert, so dass zum Beispiel Patienten mit einer
Amnesie
(Gedachtnisstorung) des deklarativen Gedachtnisses ungestorte prozedurale Gedachtnisleistungen aufweisen konnen.
Das
deklarative Gedachtnis
oder
explizite Gedachtnis
, auch Wissensgedachtnis, speichert Tatsachen und Ereignisse, die bewusst wiedergegeben werden konnen. Das deklarative Gedachtnis wird unterteilt in zwei Bereiche:
- Das ?semantische Gedachtnis“ enthalt das Weltwissen, von der Person unabhangige, allgemeine Fakten (?Paris ist die Hauptstadt von Frankreich“, ?Man hat eine Mutter und einen Vater“).
- Im
?episodischen Gedachtnis“
finden sich Episoden, Ereignisse und Tatsachen aus dem eigenen Leben (Erinnerung an Erlebnisse bei einem Besuch in Paris, das Gesicht und der Name des eigenen Vaters).
Das
prozedurale Gedachtnis
, auch
Verhaltensgedachtnis
, speichert automatisierte Handlungsablaufe bzw. Fertigkeiten. Beispiele dafur sind Gehen, Radfahren, Tanzen, Autofahren, Klavierspielen. Dies sind komplexe Bewegungen, deren Ablauf gelernt und geubt wurde und die dann,
ohne nachzudenken,
abgerufen und ausgefuhrt werden.
Die Kapazitat des menschlichen Gedachtnisses ist schwer zu bestimmen und hangt von der Art von Informationen ab, die gespeichert werden. So wurde geschatzt, dass jeder Mensch im Mittel etwa 5000 Gesichter anderer Menschen erkennen und damit erinnern kann.
[12]
[13]
Im Gegensatz zu anderen Bereichen wie
Sprache
,
Motorik
,
Sehen
oder
Horen
gibt es keinen abgrenzbaren umfassenden ?Gedachtnisbereich“ im Gehirn. Vielmehr beruht das Gedachtnis uberwiegend auf Zusatzleistungen anderweitig spezialisierter Teile des Gehirns. Dennoch konnen verschiedene anatomische Strukturen unterschieden werden, die fur das Erinnerungsvermogen notwendig sind. Zuvor ist zu klaren, was auf unterster Ebene, am einzelnen
Neuron
, das
Korrelat
(Entsprechung) des Lernens und des Gedachtnisses darstellt.
Der Gedachtnisinhalt ist in den Verbindungen der
Nervenzellen
, den
Synapsen
, niedergelegt, genauer in der synaptischen Effizienz
neuronaler Netze
. Nachdem bis in die 1970er die Hypothese vertreten wurde, dass chemische Molekule diese Rolle ubernehmen konnten ? besonders beruhmt ist
Scotophobin
geworden ? stellte sich diese Hypothese als nicht mehr haltbar heraus.
[14]
Zwischen den ungefahr 100 Milliarden Nervenzellen bestehen schatzungsweise 100 bis 500 Billionen Synapsen. Entscheidend ist hierbei die
synaptische Plastizitat
: Viele Synapsen sind anatomisch anpassungsfahig. Dadurch konnen sie die Effizienz der Ubertragung zwischen den Neuronen verandern. Außerdem werden Ubertragungseigenschaften durch Neubildung und Abbau von Synapsen angepasst.
Donald O. Hebb
schlug 1949 als Erster vor, dass Synapsen ? in Abhangigkeit vom Ausmaß ihrer Aktivierung durch Neuronentatigkeit ? die Starke ihrer Signalfahigkeit durch anatomischen Umbau ?dauerhaft“ andern. Die von ihm in der sogenannten
Hebbschen Lernregel
aufgestellte Hypothese konnte experimentell bestatigt werden. So wird eine Synapse, die durch gleichzeitige Aktivitat im vor- und nachsynaptischen Neuron starker wird, als ?Hebb-Synapse“ bezeichnet. Eine solche dauerhafte Veranderung einer Synapse wird in der
Neurophysiologie
als ?homosynaptische“
Langzeitpotenzierung
(Langzeitverstarkung) bezeichnet.
Es gibt eine Vielzahl weiterer Formen synaptischer Plastizitat. Sie unterscheiden sich vor allem in ihrer Richtung (Potenzierung oder Depression, d. h. Verstarkung oder Abschwachung), in ihrer Dauer (Kurzzeit- oder Langzeitveranderung), in ihrer synaptischen Spezifitat (homo- oder heterosynaptisch) sowie den molekularen Mechanismen ihrer Entstehung und Aufrechterhaltung.
Es wurden verschiedene
Signalkaskaden
beschrieben, die ihren Ausgang in der Erregung einer Nervenzelle durch eine bestimmte Synapse und ein daraufhin ausgelostes
Aktionspotential
nehmen und zu kurz- oder auch langfristiger Veranderung der synaptischen Effizienz fuhren. Solche Mechanismen umfassen kurzfristig die
Phosphorylierung
von
Rezeptor
molekulen, die Ausschuttung von retrograden (ruckwartig wirkenden) Botenstoffen fur das prasynaptische
Axon
(
Nervenfaser
), und fur die langfristige Wirkung insbesondere die Aktivierung von
Transkriptionsfaktoren
, die die
Proteinbiosynthese
regulieren und zur vermehrten Synthese von Rezeptormolekulen,
Enzymen
fur Transmitter-Auf- und Abbau und Strukturproteinen fuhren.
Den verschiedenen Arten des Gedachtnisses werden heute bestimmte Gehirnregionen zugeordnet. Die Zuordnungen konnten durch Vergleiche von Gedachtnisstorungen bei lokalisierten Schadigungen des Gehirns (etwa durch
Schlaganfall
) vorgenommen werden.
Das Arbeitsgedachtnis wird dem
prafrontalen Cortex
zugeordnet. Das Langzeitgedachtnis hingegen grundet auf einem Zusammenwirken des Cortex und zahlreicher subkortikaler Bereiche. Dabei wird zwischen den verschiedenen Informationsqualitaten unterschieden.
Beteiligt beim deklarativen Gedachtnis ist der gesamte Neocortex, beim episodischen Gedachtnis insbesondere der rechte Frontal- und der Temporalcortex, beim semantischen Gedachtnis speziell der Temporallappen.
Beteiligt, insbesondere beim Vorgang der Speicherung, sind jedoch auch subkortikale Regionen, wie das
limbische System
, vor allem das mediale Temporallappensystem, der
Hippocampus
und angrenzende Gebiete. Diese sind im sogenannten
Papez-Neuronenkreis
zusammengefasst. Oft zitiert wird der Fall des
Patienten HM
, dem zur Therapie schwerer
Epilepsie
beide Hippocampi entfernt wurden. Zwar wurde die Epilepsie geheilt, der Patient zeigte jedoch nach der Operation eine schwere
anterograde Amnesie
: Er konnte sich nichts Neues mehr merken. Der Zugriff auf vor der Operation erworbene Gedachtnisinhalte war hingegen nicht beeintrachtigt.
Am Lernen von Fertigkeiten sind beim Menschen neben Cortexarealen, wie den motorischen und prafrontalen Gebieten, insbesondere das
Kleinhirn
und die
Basalganglien
beteiligt. Fur die Speicherung emotional bedeutender Gedachtnisinhalte, wie auch von Angstreaktionen, spielt die
Amygdala
eine wichtige Rolle.
Fur Formen des Lernens nach Art der
klassischen Konditionierung
, die auch bei primitiveren Tieren vorhanden sind, sind dementsprechend auch evolutionar altere Gehirnbereiche beteiligt. Oft liegt hier der Ort des Lernens dort, wo die beiden miteinander zu verknupfenden Reize anatomisch zusammen laufen. Insbesondere das
Kleinhirn
spielt hierbei eine Rolle.
Der Prozess, in dem das menschliche Gehirn durch Lernprozesse die Art und Weise beeinflusst, in der bestimmte Reize eine Emotion hervorrufen, wird als ?emotionales Gedachtnis“ bezeichnet. Um nachzuvollziehen, welche Hirnareale und neuronalen Mechanismen an der Verarbeitung und Abspeicherung solcher emotionaler Gedachtnisinhalte beteiligt sind, wurde die klassische Furchtkonditionierung in Zusammenhang mit Lasionsstudien angewandt. Bei der Furchtkonditionierung (die meist an Ratten durchgefuhrt wird) wird ein neutraler Stimulus (z. B. ein Ton) mit einem aversiven Stimulus (z. B. einem Elektroschock) gepaart, was dazu fuhrt, dass die Ratten anschließend eine Furchtreaktion auf den neutralen Stimulus zeigen. Dies kann bereits nach einer einzigen Paarung der Stimuli der Fall sein. Durch selektive
Lasionen
an Ratten konnte ferner festgestellt werden, welche Gehirnareale fur die Ausbildung solcher Furchtreaktionen notwendig sind (s. u.).
Es besteht die Annahme, dass der Schock die Art beeinflusst, wie Neurone in spezifischen Regionen des Gehirns auf den vorher neutralen Stimulus reagieren. Aus Ergebnissen verschiedener Lasionsstudien an Ratten konnten
Joseph LeDoux
u. a. ableiten, dass sensorische Signale nicht vom Cortex verarbeitet werden mussen, damit eine Konditionierung moglich ist. Es wurde vielmehr festgestellt, dass hier das maßgebliche Areal die
Amygdala
ist, die sowohl direkte Verbindungen zum
Thalamus
(sensorische Bahnen) wie zum
Hirnstamm
(lebenswichtige Grundprogramme) aufweist.
Eine Region innerhalb der Amygdala ist der zentrale Nucleus, der sowohl mit dem Hirnstamm als auch mit dem Hippocampus verbunden ist. Der Hippocampus ist eine wichtige Struktur fur die Gedachtniskonsolidierung und die Verarbeitung komplexer Stimuli. Die Annahme ist nun, dass durch diese Verbindung Gedachtnisinhalte und der Kontext eines Stimulus emotionale Zuordnungen bekommen.
Es bestehen auch Verbindungen zwischen Cortex und Amygdala. So wird angenommen, dass emotionales Lernen zum einen auf dem subcorticalen Weg (vom Thalamus direkt zur Amygdala) und zum anderen auf dem corticalen Weg (vom Thalamus uber den Cortex zur Amygdala) stattfinden kann. Der subcorticale Weg geht ?schneller“, beinhaltet jedoch keine weitere Verarbeitung des Stimulus (da bewegt sich etwas ? ich furchte mich). Der corticale Weg verarbeitet den Stimulus umfangreicher (was sich da bewegt ist eine Schlange ? die kann mich beißen ? ich entferne mich besser), erfordert allerdings ?langere Reaktionszeit“, die in manchen Situationen zu lang sein konnte, weshalb sich der schnellere subcorticale Weg evolutionsbiologisch ? bis hin zum Menschen ? erhalten hat.
In Gerichtsverfahren sind Zeugenaussagen von großer Bedeutung, insbesondere wenn sie die wichtigste ? oder gar die einzige ? Entscheidungsgrundlage sind. Deshalb ist es wichtig zu wissen, wie verlasslich Erinnerungen von Zeugen sind. Situationen, in denen Menschen eine Straftat miterleben, sind Situationen, die nicht erwartet werden, oft nur von sehr kurzer Dauer und meist sehr emotionsbeladen sind. Aufgrund der Charakteristik dieser Situationen ist es besonders leicht, die Erinnerungen an sie durch zusatzliche Information, zum Beispiel bei Befragungen, zu verfalschen. Loftus u. a. (1978)
[15]
zeigten Probanden eine Bildersequenz, in der ein Auto einen Fußganger anfahrt, nachdem es entweder ein Stopp- oder ein Vorfahrt-gewahren-Schild passiert hat. In einem nachfolgenden Fragebogen wurde entweder ein Stopp- oder ein Vorfahrt-gewahren-Schild erwahnt. Durch diese nachtragliche begriffliche Lenkung konnten die Forscher erreichen, dass die Gruppe von Probanden, die eine widerspruchliche Frage erhielt, sich bei einem Wiedererkennungstest eher fur das Schild entschied, das ?nach originaler Bildersequenz“ und ?vor Erinnerungstest“ in dem dazwischen vorgelegten Fragebogen erwahnt worden war.
Obwohl es moglich sein konnte, dass die Erinnerung an Gesichter verlasslicher sein sollte, besonders wenn diese im Zentrum des Geschehens standen, konnten Loftus und Greene (1980)
[16]
zeigen, dass auch diese leicht zu verfalschen ist. Hierzu zeigten sie in mehreren Experimenten Probanden Gesichter von Menschen und setzten sie in Form von nachfolgenden Fragen oder Berichten falschen Informationen aus. Bei einem dieser Experimente zeigten sie ihnen einen Mann ohne Bart und gaben einem Teil der Probanden spater die falsche Information, dass die Zielperson einen Bart habe. Die Gruppe von Probanden mit der falschen Information tendierte viel eher dazu, sich bei einem Wiedererkennungstest fur eine Person mit Bart zu entscheiden, als die Gruppe mit dem richtigen Bericht (p<0,01). Insgesamt konnten Loftus u. a. zeigen, dass bei Zeugen auch die Erinnerung an Gesichter unbemerkt und nachhaltig verfalscht werden kann.
Zusammen zeigen diese Ergebnisse, dass Erinnerungen nicht verlasslich und leicht zu verfalschen sind. Deshalb ist es wichtig, dass bei polizeilichen Ermittlungen, wie Befragungen und Gegenuberstellungen, sowie in Gerichtsverfahren mit außerster Vorsicht vorgegangen wird.
Gedachtnistraining ist in vieler Hinsicht moglich. Es gibt zahlreiche Gedachtnistrainer und zahllose Bucher. Meist bauen diese auf
Mnemotechniken
auf. Die beruhmteste ist die
Loci-Methode
. Heutzutage gibt es auch Gedachtnissportler, Gedachtnissportmeisterschaften und eine Weltrangliste. Der Weltrekord im
Memorieren
, also Auswendiglernen, moglichst vieler Ziffern in 5 Minuten liegt beispielsweise bei 520.
[17]
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