Joseph Fridolin Anderwert
[1]
(*
19. September
1828
in
Frauenfeld
; †
25. Dezember
1880
in
Bern
,
heimatberechtigt
in
Emmishofen
und
Tagerschen
; meist
Fridolin Anderwert
genannt) war ein
Schweizer
Politiker
,
Rechtsanwalt
und
Richter
. Als langjahriges Mitglied von Parlament und Regierungsrat des
Kantons Thurgau
verwirklichte er mehrere politische Reformen. Auf Bundesebene war er im
Nationalrat
und im
Bundesgericht
tatig. 1876 wurde er als Vertreter der radikalen Fraktion (der heutigen
FDP
) in den
Bundesrat
gewahlt, in seinem Amt als Justizminister gab er den Anstoss fur die Schaffung des schweizerischen
Obligationenrechts
. Anderwert ist der bisher einzige Bundesrat, der im Amt durch
Suizid
aus dem Leben schied.
Anderwert entstammte einer angesehenen Politikerfamilie aus
Emmishofen
(heute ein Teil von
Kreuzlingen
), sein Vater
Johann Ludwig Anderwert
war von 1841 bis 1849
Regierungsrat
des Kantons Thurgau. Nach seiner Schulzeit in
Tagerwilen
, Frauenfeld und
Konstanz
studierte er zunachst Geschichte und Philosophie an der
Universitat Leipzig
. Anschliessend folgte das Studium der Rechtswissenschaft an der
Ruprecht-Karls-Universitat
in
Heidelberg
und an der
Friedrich-Wilhelms-Universitat
in
Berlin
. 1851 begann er in Frauenfeld als Rechtsanwalt zu arbeiten, von 1853 bis 1856 ubte er das Amt eines Bezirksrichters aus.
[2]
Ab 1861 gehorte Anderwert dem Thurgauer
Grossen Rat
an. Zu Beginn wurde er noch von
Eduard Haberlin
gefordert, der damals die Thurgauer Politik fast nach Belieben beherrschte. Doch ab 1864 wandte sich Anderwert wegen dessen Amterhaufung gegen ihn. Zusammen mit
Adolf Deucher
entwickelte er sich zu einem seiner erbittertsten Gegner. 1868 initiierte er die Revision der thurgauischen Kantonsverfassung, die direkt auf das ≪System Haberlin≫ abzielte. Anderwert war 1868/69 Prasident des Verfassungsrates und konnte zahlreiche Reformen durchsetzen. Dazu gehorten unter anderem die Volkswahl des Regierungsrates, die Grundung der
Thurgauer Kantonalbank
, die Aufhebung der konfessionellen
Paritat
und die Unvereinbarkeit verschiedener Amter. Mit der Annahme der neuen Kantonsverfassung durch das Volk im Jahr 1869 verlor Haberlin seine bisher fast uneingeschrankte Macht.
Im selben Jahr wurde Anderwert, damals Prasident des Grossen Rates, in den Regierungsrat gewahlt und gehorte diesem bis 1874 an. Als Mitglied der Kantonsregierung war er fur das Erziehungswesen zustandig; unter anderem erhohte er die Lohne der Lehrer und schuf Fortbildungsschulen.
[2]
Bei den
Parlamentswahlen 1863
zog Anderwert auch in den Nationalrat ein. Innerhalb der radikalen Fraktion positionierte er sich im linken Flugel. 1870/71 war er
Nationalratsprasident
und vereidigte in dieser Funktion
Hans Herzog
zum General wahrend des
Deutsch-Franzosischen Kriegs
. Als Mitglied der Revisionskommission war Anderwert massgeblich an der Totalrevision der Schweizer
Bundesverfassung
beteiligt. Dabei trat er fur die Rechtsvereinheitlichung, das
fakultative Referendum
und die
Volksinitiative
ein.
[3]
Wahrend des
Kulturkampfs
vertrat Anderwert eine kompromisslos antipapstliche Haltung. Er orientierte sich am
Josephinismus
und forderte den Vorrang des Staates vor der Kirche,
Religionsfreiheit
sowie ein Verbot von geistlichen Orden uber die
Jesuiten
hinaus. Insbesondere das
Unfehlbarkeitsdogma
, das 1870 beim
Ersten Vatikanischen Konzil
verkundet worden war, missfiel ihm sehr. Er nahm im September 1871 am Katholikenkongress in
Solothurn
teil, an der sich die Versammlung auf seinen Antrag hin als ≪Schweizerischer Verein freisinniger Katholiken≫ konstituierte und sich von der
romisch-katholischen Kirche
lossagte. Der Verein bildete die Keimzelle der spateren
Christkatholischen Kirche der Schweiz
.
[4]
1872 war Anderwert zweimal Kandidat bei der Wahl um einen Sitz im Bundesrat. Am 12. Juli unterlag er im vierten Wahlgang dem Zurcher
Johann Jakob Scherer
. Funf Monate spater, am 7. Dezember, zog er gegen den seit 1848 amtierenden St. Galler
Wilhelm Matthias Naeff
den Kurzeren, der trotz zahlreicher Bedenken nochmals bestatigt wurde. Anderwert scheiterte daran, dass er bei der Totalrevision der Bundesverfassung fur eine
zentralistische
Variante eingetreten war. 1874 wahlte ihn die
Bundesversammlung
zum nebenamtlichen Bundesrichter, woraufhin er die Kriminalkammer prasidierte.
[4]
Die Bundesratswahlen vom 10. Dezember 1875 verliefen turbulent. Bei der Wahl des funften Mitglieds unterlag Anderwert gleich im ersten Wahlgang dem gemassigten Glarner
Joachim Heer
, der sich mit 91 zu 60 Stimmen durchsetze. Im ersten Durchgang der Wahl des sechsten Mitglieds lag zunachst der Solothurner
Bernhard Hammer
, ein weiterer Zentrumsvertreter, mit 62 Stimmen vorne ? zwei mehr als Anderwert. Dieser ubernahm im zweiten Wahlgang mit 80 zu 78 Stimmen die Fuhrung und setzte sich schliesslich im dritten Wahlgang mit 91 zu 78 Stimmen durch (Hammer schaffte die Wahl als siebtes Mitglied). Die Absicht der Radikalen, zwei ihrer Vertreter in den Bundesrat zu bringen, war somit vom Zentrum und den Konservativen durchkreuzt worden.
[4]
Anderwert trat sein Amt am 1. Januar 1876 an und ubernahm das
Justiz- und Polizeidepartement
. Da die Radikalen im Bundesrat nicht mehr die Mehrheit stellten, sah er sich gezwungen, seine Ansichten deutlich zu massigen und vermehrt Kompromisse einzugehen. Er blieb seinen Uberzeugungen treu, doch er stellte die Interessen des Landes und das geltende Recht uber die Wunsche seiner Parteiganger. Als Anderwert zwei Jahre spater den Rekurs eines abgewiesenen politischen Fluchtlings ablehnte, warfen ihn dogmatische Radikale und
Demokraten
sogar vor, er sei ein ≪Sozialistenfresser≫. Bei seiner Wiederwahl am 10. Dezember 1878 wurde er zwar im ersten Wahlgang bestatigt, aber nur relativ knapp mit 91 Stimmen.
[5]
Anderwerts wichtigstes Projekt als Justizminister war die Schaffung des schweizerischen Obligationenrechts. Bei dessen Beratung in den eidgenossischen Raten fand seine Leistung weitherum Anerkennung. Der zustandige Kommissionsprasident
Rudolf Niggeler
hielt fest, dass die Vorlage kein vollkommenes Werk sei, ≪aber doch das Beste […], was unter den jetzigen Umstanden zu erreichen sei≫. Ende 1880 war das Gesetzeswerk im Wesentlichen durchberaten, sodass es 1883 in Kraft treten konnte.
[5]
Am 7. Dezember 1880 wurde Anderwert zum
Bundesprasidenten
fur das Jahr 1881 gewahlt. Unmittelbar darauf entbrannte in der Presse, u. a. im
Nebelspalter
, dem Andelfinger Volksblatt (siehe
Andelfinger Zeitung#Geschichtsdaten der Verleger
) und der
Berner Tagwacht
, eine gehassige Kampagne gegen ihn. Diese hatte vor allem die Essgewohnheiten des stark ubergewichtigen
Junggesellen
im Visier, doch es wurden auch nie bewiesene Geruchte verbreitet, er sei regelmassiger Gast von Bordellen. Einzelne Zeitungen schrieben, seine Wahl zum Bundesprasidenten sei eine Schande fur die ganze Schweiz. Gezeichnet von Erschopfung und Schlaflosigkeit nahm sich Anderwert am Weihnachtstag 1880 auf der
Kleinen Schanze
mit einem Pistolenschuss das Leben. Der einzige veroffentlichte Satz seines Abschiedsbriefes lautete: ≪Sie wollen ein Opfer, sie sollen es haben.≫ Es bildeten sich zwei Lager, die sich gegenseitig die Schuld an Anderwerts Suzid in die Schuhe zuschoben. Die einen machten allein die Presse dafur verantwortlich, die anderen wiesen auf das Ergebnis der
Obduktion
hin. Gemass dieser hatte eine bedeutende Herzvergrosserung die Gesundheit des psychisch angeschlagenen Bundesrates stark angegriffen, was vermutlich schwere
Depressionen
ausgelost habe.
[6]
[7]
- Roger Blum
:
Fridolin Anderwert
. In:
Urs Altermatt
(Hrsg.):
Das Bundesratslexikon
.
NZZ Libro
, Zurich 2019,
ISBN 978-3-03810-218-2
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152?156
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- Peter Gilg:
Anderwert, Joseph Fridolin.
In:
Neue Deutsche Biographie
(NDB). Band 1, Duncker & Humblot, Berlin 1953,
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, S. 269 (
Digitalisat
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- Mario Gmur:
Ein Pressemord vor 120 Jahren: Der Selbstmord des designierten Bundesprasidenten Anderwert 1888.
In: ders.:
Das Medienopfersyndrom.
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- Walter Michel:
Bundesrat Josef Fridolin Anderwert im Spiegel der Presse.
In:
Thurgauische Beitrage zur vaterlandischen Geschichte.
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- Andre Salathe:
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In:
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- Folkmar Schiek:
Fridolin Anderwert. Eine politische Erfolgsgeschichte mit dramatischem Ausgang. Biographische Skizze des ersten Thurgauer Bundesrats
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- Rolf Thalmann:
Fridolin Anderwert ? kein schwuler Bundesrat.
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- ↑
Gerhard Kobler:
Wer war wer im deutschen Recht
, Fassung vom 5. Dezember 2006.
- ↑
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Blum:
Das Bundesratslexikon.
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Blum:
Das Bundesratslexikon.
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- ↑
Marina Amstad:
Schweizer Geschichte - Suizid im Bundesrat.
In:
blog.nationalmuseum.ch.
Schweizerisches Nationalmuseum
, 25. Dezember 2020,
abgerufen am 30. Januar 2024
.