Franz Karl Stanzel
(*
4. August
1923
in
Molln
;
[1]
†
17. Oktober
2023
in
Graz
)
[2]
war ein
osterreichischer
Anglist
,
Literaturwissenschaftler
und
Komparatist
.
Franz Karl Stanzel wurde am 4. August 1923 als Sohn des
Gendarmerie
-Revierinspektors Franz Josef Stanzel (* 24. Juni 1883) und dessen Ehefrau Aloisia (geborene Seyerlehner; * 29. Mai 1894) in Molln geboren und am 7. August 1923 auf den Namen Franz Karl getauft.
[1]
Seine Eltern hatten am 8. Februar 1919 geheiratet.
[1]
Schon wahrend seiner Schulzeit in
Steyr
erlebte Stanzel 1934 sowohl den
sozialistischen Schutzbundaufstand
wie auch im Juli den Naziputsch hautnah. Als Mitglied einer Schulerorganisation der
Vaterlandischen Front
demonstrierte er 1938 fur
Schuschniggs
Volksbefragung fur die Unabhangigkeit Osterreichs, die dann durch den
Einmarsch
der Deutschen Wehrmacht verhindert wurde. Am 15. Marz 1938, also zwei Tage nach dem Einmarsch, wurde er zusammen mit zwei Mitdemonstranten nachts aus dem Schlafsaal des
Franziskaner-Konvikts Voglsang in Steyr
zu einem Verhor durch einen SS-Offizier gerufen, der die drei Schuler ?verwarnte“.
Im Fruhjahr 1940 meldete sich Stanzel zur
deutschen Kriegsmarine
, motiviert vom jugendlichen Wunsch zur See zu fahren. Es war aber auch eine Flucht-Reaktion auf Jahre der klosterlichen Erziehung und wenig inspirierenden Schulalltag. Nach Versenkung seines
U-Bootes
U 331
1942 im Mittelmeer geriet er als einer der wenigen Uberlebenden in
britische Kriegsgefangenschaft
in England und Kanada. Nach seiner Entlassung begann er in
Graz
ein Studium der
Anglistik
und
Germanistik
. Er
promovierte
1950 mit der
Dissertation
Das Amerikabild Thomas Wolfes 1900?1938
. Die Nachkriegszustande an der
Universitat Graz
nach dem Krieg schildert er in
Die typischen Erzahlsituationen 1955?2015
, wie auch die ganz andere Erfahrung als
Fulbright
-Student 1950/51 an der
Harvard-Universitat
: ?Eine intellektuelle Wiedergeburt.“ Im Jahr 1955
habilitierte
er in Graz fur englische Philologie bei
Herbert Koziol
mit
Die typischen Erzahlsituationen im Roman
. Es ist fur die Nachkriegszeit bezeichnend, dass das Illegale NSLB Mitglied Koziol (ab
1932
) und der NS-Gegner Stranzel sich im Nachkriegsosterreich tolerierten und schatzten, was in Stranzels Festschrift fur Koziol (1973) versinnbildlicht wird.
[3]
Bereits 1957 erhielt Stanzel eine Dozentur fur Anglistik in
Gottingen
und 1959 den Ruf als ordentlicher Professor fur Anglistik nach
Erlangen
(Nachfolge
Levin Ludwig Schuckings
). 1962 erfolgte die Ruckberufung nach Graz, wo er 1993
emeritiert
wurde. Wahrend seiner Aktivzeit hatte er Gastprofessuren an englischen, kanadischen und amerikanischen Universitaten inne.
Besonders erfolgreich waren Stanzels Arbeiten zur
Narratologie
, wie aus den hohen Auflagen und den zahlreichen Ubersetzungen (siehe Werke) zu entnehmen ist. Neben
Strukturalismus
und amerikanischem
New Criticism
war es die aktive Teilnahme an der Kontroverse, ausgelost von
Kate Hamburgers
Logik der Dichtung
(1957), die ihn zur Abfassung einer erweiterten
Theorie des Erzahlens
(1979) veranlasste. Seine Einwande an Hamburgers Thesen fanden einen Niederschlag in ihrer ?stark veranderten“ Neuauflage der
Logik
1968. Stanzels ?Typische Erzahlsituationen“ haben auch Aufnahme in Einfuhrungen zur Literaturwissenschaft von
Monika Fludernik
,
Ansgar Nunning
,
Jochen Vogt
u. a. gefunden. Was seinen Ansatz besonders auszeichnet ist Textnahe, strukturalistische Systematik, binare Oppositionen wie Erzahler- und Reflektormodus, und Absicherung durch linguistische Begriffe wie erlebte Rede, episches Prateritum, emische und etische Textanfange.
Das von Stanzel vorgelegte
Erzahlmodell
zeichnet sich durch drei sogenannte Erzahlsituationen aus: die
Icherzahlung
(hier ist der Erzahler auch gleichzeitig Protagonist auf der Handlungsebene der Geschichte, Beispiel:
Thomas Manns
Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull
); die
auktoriale Erzahlungsituation
(hier ist der Erzahler, der durchaus auch mit ?ich‘ auf sich referieren kann, keine der handelnden Figuren, sondern steht uber der erzahlten Welt, daher dem Autor naher (?auktorial‘), und kommentiert als Autoritat die fiktionale Welt, Beispiel:
Wilhelm Meisters Lehrjahre
); und die
personale Erzahlsituation
(hier scheint es keine Erzahlerfigur zu geben, die fiktionale Welt wird durch die Augen einer oder mehrerer Figuren geschildert, haufig unter Anwendung von
erlebter Rede
oder von
innerem Monolog
, Beispiel:
Hermann Brochs
Der Tod des Vergil
).
Die drei Erzahlsituationen sind als typisch in Vorwegnahme der prototypischen Kategorien der
kognitiven Linguistik
konzipiert: Einzelne Romane entsprechen jeweils nur teilweise einer typischen Erzahlsituation oder mischen auch mehrere dieser in ihrem Text. Die Erzahlsituationen sind auf einem Kreis (dem ?typologischen Kreis“) angeordnet, um zu zeigen, dass es in der Geschichte der Literatur alle moglichen Ausformungen der Erzahlung gibt und dass die Felder zwischen den Erzahlsituationen ineinander ubergehen. So ist der periphere Icherzahler (z. B. Serenus Zeitblom in Thomas Manns
Doktor Faustus
) ein Ich-Erzahler, der nur mehr marginal als handelnde Person tatig ist und sich daher bereits der Funktion eines Herausgebers und in weiterer Folge eines auktorialen Erzahlers annahert.
In der uberarbeiteten Form der Theorie in
Theorie des Erzahlens
werden die drei Erzahlsituationen mit drei Achsen kombiniert. So ist die Icherzahlsituation mit der Achse Person (Identitat ? Nicht-Identitat der Seinsbereiche zwischen Erzahler und Figurenwelt) assoziiert; das konstituierende Merkmal der Icherzahlsituation ist, dass sie am Typenkreis um den Pol Identitat der Seinsbereiche platziert ist. Die auktoriale Erzahlsituation wird durch den Pol Außenperspektive der Achse Perspektive konstituiert (Außen- vs. Innenperspektive); die personale Erzahlsituation durch den Pol Reflektor der Achse Modus (Erzahler- vs. Reflektormodus). Die unter anderem auf linguistischen Einsichten des germanistischen Linguisten
Roland Harweg
basierende Unterscheidung von
emischen
und
etischen
Textanfangen basierende Unterscheidung zwischen Erzahler- und Reflektormodus stellte seinerzeit eine wesentliche Erweiterung erzahltheoretischer Erkenntnisse dar. Sie entwickelt fruhere Unterscheidungen zwischen
telling
und
showing
(Percy Lubbock) und erklart die erst seit dem spaten 19. Jahrhundert existierende personale Erzahlsituation als eine Illusion unmittelbarer Teilhabe am Geschehen durch den Wegfall einer sich als Vermittler in den Vordergrund drangenden Erzahlerfigur.
Neben seinen narratologischen Forschungen hat sich Stanzel auch der
literarischen Imagologie
und
Stereotypenforschung
(Auslandercharaktere) gewidmet und 1991 ein international besetztes Symposium im Auftrag der Osterreichischen Akademie der Wissenschaften organisiert. Als wichtigstes Ergebnis kann die Erkenntnis bezeichnet werden, dass unsere Vorstellung vom Fremden mehr von traditionellen, literarisch uberlieferten Vorstellungen (Hetero-Stereotypen) als von tatsachlichen historischen Erfahrungen der Volker miteinander bestimmt werden (siehe Werke
Europaer
und
Volkerspiegel
). Mit
Telegonie-Fernzeugung
(2008) legte Stanzel eine originelle Motivgeschichte des Zentralthemas von Goethes
Wahlverwandtschaften
von der Antike uber Shakespeare bis zur Moderne (Ibsen, Schnitzler, Joyce, Kazantzakis u. a.) vor. Mit
James Joyce
, vor allem mit
Ulysses
und dem sogenannten Subtext, dem Echo von Joyce’ Jahren in diesem Roman in Alt-Osterreich, 1904?1915, hat sich Stanzel von Anbeginn beschaftigt. Eine Zusammenfassung der verstreuten Arbeiten daruber befindet sich im Druck.
Stanzel erhielt 1985 die Ehrendoktorwurde der Schweizer
Universitat Fribourg
und 2015 der
Philipps-Universitat Marburg
.
- Die typischen Erzahlsituationen im Roman. Dargestellt an Tom Jones, Moby-Dick, The Ambassadors, Ulysses u. a.
(=
Wiener Beitrage zur englischen Philologie.
63,
ISSN
0083-9914
). Braumuller, Wien u. a. 1955.
- Typische Formen des Romans
.
Vandenhoeck & Ruprecht, Gottingen 1964, (Neuauflagen).
- Theorie des Erzahlens
(=
Uni-Taschenbucher
.
904). Vandenhoeck & Ruprecht, Gottingen 1979,
ISBN 3-525-03204-8
(8. Auflage. ebenda 2008,
ISBN 978-3-8252-0904-9
).
- Europaer. Ein imagologischer Essay.
Winter, Heidelberg 1997,
ISBN 3-8253-0616-X
(2., aktualisierte Auflage. ebenda 1998,
ISBN 3-8253-0700-X
).
- Unterwegs. Erzahltheorie fur Leser.
Ausgewahlte Schriften mit einer bio-bibliographischen Einleitung und einem Appendix von
Dorrit Cohn
. Vandenhoeck & Ruprecht, Gottingen 2002,
ISBN 3-525-20823-5
.
- Telegonie ? Fernzeugung. Macht und Magie der Imagination.
Bohlau, Wien u. a. 2008,
ISBN 978-3-205-77695-6
.
- Welt als Text. Grundbegriffe der Interpretation.
Konigshausen & Neumann, Wurzburg 2011,
ISBN 978-3-8260-4669-8
.
- Verlust einer Jugend. Ruckschau eines Neunzigjahrigen auf Krieg und Gefangenschaft.
Konigshausen & Neumann, Wurzburg 2013,
ISBN 978-3-8260-5234-7
(Autobiographie).
- James Joyce in Kakanien. (1904?1915).
Mit erzahltheoretischen Analysen des Ulysses im Anhang. Konigshausen & Neumann, Wurzburg 2018,
ISBN 978-3-8260-6615-3
.
- 2002 errichtete Stanzel beim Deutschen Anglistenverband die Stiftung
In Memoriam Helene Richter 1861?1942
, welche die Erinnerung an die anglistische Privatgelehrte
Helene Richter
, die 1942 im
KZ Theresienstadt
ums Leben kam, wach halten soll. Es war die ?Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Ernst Bloch) des Todes von Helene Richter im KZ und seine Rettung nach Versenkung von U 331 im November 1942, die ihn zur Stiftung dieses Forderpreises veranlasst hat. Der Preis in der Hohe von 2000 Euro wird seit 2003 jahrlich von einer Jury des Deutschen Anglistenverbandes fur eine ausgezeichnete Arbeit aus englischer Literaturwissenschaft vergeben.
- Forderpreis Franz Karl Stanzel
am
Bundesrealgymnasium
Steyr Michaelerplatz, erstmals verliehen 2017, dotiert mit 1000 Euro. Dieser Preis an seiner alten Schule lehrt die Jugendlichen, ?wie wichtig es ist, aktuelle politische und gesellschaftliche Stromungen zu reflektieren sowie Meinungen nicht kritiklos zu ubernehmen“.
[5]
Uber seine Erfahrung von sechs Jahren Krieg und Gefangenschaft berichtet Stanzel in
Verlust einer Jugend. Ruckschau eines Neunzigjahrigen auf Krieg und Gefangenschaft
, Wurzburg 2013, die Versenkung von U 331 mit Verlust von 2/3 der Besatzung wird aus deutscher und britischer Sicht dargestellt. Ein besonders literarhistorisch interessantes Kapitel ist
Totalverlust ? eine ominose Leerstelle der Kriegsliteratur
. Der Band enthalt auch eine kritische Analyse der Zweideutigkeit des Laconia-Befehls von
Admiral
Karl Donitz
betreffs Rettung Schiffbruchiger, weiters detaillierte Beschreibungen der Routine des Lebens im kanadischen POW-Camp 44: Programm der Lager-Universitat, Sport und Musik, Ausbruchsversuche, ?Triebabfuhr und Sex hinterm Stacheldraht“ usw.
Die Vortrage eines Symposiums, organisiert 1991 von Stanzel fur die Osterreichische Akademie der Wissenschaften, wurden zusammen mit Martin Loschnigg herausgegeben als
Intimate Enemies. English and German Literary Reactions to the Great War 1914?1918
, Heidelberg 1993. Im Ubrigen ist Stanzel einer der wenigen deutschsprachigen Anglisten, die sich kritisch mit der Geschichte des Faches Anglistik wahrend der NS-Zeit auseinandergesetzt haben, in
Anglistik in der GRM 1933?1945
, in
Germanisch-Romanische Monatsschrift
Neue Folge 52, 2002, Seite 381?399, und
Autobiographisches
in
Welt als Text,
Wurzburg 2011.
- Literatur von und uber Franz Karl Stanzel
im Katalog der
Deutschen Nationalbibliothek
- Franz K. Stanzel:
Warum Milly blond ist.
(
Memento
vom 29. Dezember 2014 im
Internet Archive
) ?
Feldkirch
und
Murzsteg
,
Weininger
und
Mozart
: Was man als ?matter of Austria“ in James Joyce’
Ulysses
und auch in dessen Lebensgeschichte bezeichnen konnte, ist viel komplexer, als von der Joyce-Kritik und von Joyce-Biographen bisher registriert wurde.“ In:
Die Presse
. Spectrum
, 9. Juni 2001.
- Nichts gegen Joyce!
?In seinem ?Joyce-Alphabet“ fuhrt
Kurt Palm
seine Joyce-Kenntnisse samt Sekundarliteratur vor, angereichert durch eine amusante Assoziationsfreudigkeit.“ Von Franz K. Stanzel. In:
Die Presse
. Spectrum
, 15. November 2003.
- Falls wir reisen ab.
?War es ein Missverstandnis? Oder hat der ungepflegte Herr aus Dublin in Zurich schlicht nur nicht entsprochen?“ Zum 100.
Bloomsday
am 16. Juni:
Wie Joyce nach Osterreich kam ? und warum er blieb.
Von Franz K. Stanzel. In:
Die Presse
. Spectrum
, 29. Mai 2004.
- Bloomsday-Feiern und kein Ende?
Der Gedenktag zu Ehren von James Joyce’ herausragendem Roman
Ulysses
, der am 16. Juni spielt, wird weltweit sowohl mit Symposien wie mit Straßenfesten begangen:
Die Geschichte eines Phanomens.
Von Franz K. Stanzel. In:
Die Presse
. Spectrum
, 15. Juni 2010.
- Vom Zufall begluckt.
?Er wollte zur See fahren, stattdessen wurde die englische Literatur seine Leidenschaft: Osterreichs bekanntester Anglist wird 90. Gefangenenlager in England und
Kanada
waren meine Universitaten.“ In:
Kleine Zeitung
, 2. August 2013.
- Fotografien von Franz Karl Stanzel
[1]
; bei der Verleihung der Ehrendoktorwurde der Philipps-Universitat Marburg, 2015
[2]
- ↑
a
b
c
Taufbuch Molln, tom. XVI, fol. 18 (
Faksimile
), abgerufen am 12. Februar 2024.
- ↑
Traueranzeigen von Franz Karl Stanzel | trauer.kleinezeitung.at.
Abgerufen am 19. Oktober 2023
(deutsch).
- ↑
Gero Bauer, Franz Karl Stanzel, Franz Zaic (Hrsg.):
Festschrift Prof. Dr. Herbert Koziol zum siebzigsten Geburtstag
(=
Wiener Beitrage zur englischen Philologie
.
Band
75
). Braumuller, Wien u. a. 1973,
ISBN 3-7003-0057-3
.
- ↑
Franz K. Stanzel:
Theorie des Erzahlens
(=
UTB.
904). 6., unveranderte Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Gottingen 1995,
ISBN 3-8252-0904-0
, S. 81.
- ↑
Details 2017
, von Harald Gebeshuber.