Empfindsamkeit

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Empfindsamkeit bezeichnet in der europaischen Aufklarung eine Tendenz, die etwa von 1720 bis zur Franzosischen Revolution (1789?1799) reicht. In Frankreich und England tritt die Tendenz der Empfindsamkeit bereits ab etwa 1700 auf. In der Literaturwissenschaft ist die Empfindsamkeit eine Epoche zwischen 1740 und 1790. In der Literatur ist die Empfindsamkeit eine Stromung der Aufklarung.

Nach Auffassung der Empfindsamkeit ist das uberschwangliche Gefuhl kein Makel fur denjenigen, der es hat, sondern zeichnet ihn als sittlichen Menschen aus. Der Betonung der Offentlichkeit im Absolutismus setzte die Empfindsamkeit eine Betonung des Privatlebens entgegen. Ausgehend vom religios motivierten Mitleid weitete sie sich bald auf andere Empfindungen aus. Das Motiv der sinnlichen Liebe wurde zum Beispiel nicht mehr als zerstorerische Leidenschaft ( Vanitas ), sondern im Gegenteil als Grundlage sozialer Institutionen verstanden, wie etwa bei Antoine Houdar de la Motte . Die gegluckte Liebe wurde in der ernsten Oper ( Tragedie lyrique oder Opera seria ) etwa zum Symbol fur einen gegluckten Staatenbund. Auch die Lesesucht wurde gesellschaftsfahig, der Roman wurde als Literaturgattung gegenuber dem Drama erheblich aufgewertet.

Die Empfindsamkeit hangt mit dem Ende des franzosischen Rationalismus nach dem Tode von Ludwig XIV. im Jahr 1715 zusammen. Sie wendet sich gegen eine strikt vernunftorientierte Lebensweise, wie sie bei der Disziplinierung und Zivilisierung der europaischen Gesellschaft in der Zeit des Absolutismus aufkam. Das deutsche ?Zeitalter der Aufklarung“ begann erst, als das franzosische ?Zeitalter der Vernunft “ durch sozialkritische und emanzipatorische Tendenzen erganzt oder in Frage gestellt wurde. Es fallt daher ungefahr mit der ?Epoche der Empfindsamkeit“ oder dem Rokoko zusammen.

Der Ursprung der Empfindsamkeit ist großtenteils religios, Beispiele finden sich in den emotional gefarbten Texten zu den Oratorien und Kantaten von Johann Sebastian Bach . Die Empfindsamkeit wird auch als sakularisierter Pietismus gedeutet, weil sie haufig mit moralisierenden Inhalten zusammenhangt, die sich allerdings zunehmend von kirchlichen und auch von religiosen Vorgaben losen. Ein wichtiger Theoretiker war Jean-Baptiste Dubos .

Frankreich und England

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Um die Jahrhundertmitte entdeckte Jean-Jacques Rousseau in seinem Briefroman Julie ou la nouvelle Heloise (1761) eine ?unberuhrte“ Natur als Gegenbild zur (hofischen) Zivilisation. Auch dessen Vorlaufer, der sentimentale Briefroman Pamela or Virtue rewarded (1740) von Samuel Richardson , hatte mit seinen sozialkritischen Tendenzen großen literarischen Einfluss. Denis Diderot , der dem Sensualismus nahestand, zeigt in seinem von Rousseaus Menschenbild beeinflussten Briefroman La religieuse (?Die Nonne“, um 1760, veroffentlicht 1796) das Martyrium einer Nonne und die Widernaturlichkeit des Klosterlebens. Sowohl Richardsons als auch Diderots Roman ahneln dem barocken Martyrerdrama , womit sie die Kirche sozusagen mit ihren eigenen Waffen schlagen. [1] Generell ist der Briefroman ein bevorzugtes Ausdrucksmedium der Empfindsamkeit.

Deutsche Empfindsamkeit

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Der Musiker und Verleger Johann Christoph Bode ubersetzte Laurence Sternes Roman A Sentimental Journey Through France and Italy , das in England eher als Moralkomodie wahrgenommen wurde, unter dem Titel Yoricks empfindsame Reise im Jahr 1768 ins Deutsche und hatte damit großen Erfolg. Das Wort ?empfindsam“ war ein Neologismus , zu dem Gotthold Ephraim Lessing geraten hatte und der in der Folge auf die ganze Epoche ubertragen wurde.

Deutsche Dichter, die der Empfindsamkeit nahestehen, waren Friedrich Gottlieb Klopstock (1724?1803), Christian Furchtegott Gellert (1715?1769) und Sophie von La Roche (1730?1807), die erste Autorin eines Briefromans in deutscher Sprache. Johann Timotheus Hermes hat mit seinem Roman Sophiens Reise von Memel nach Sachsen ein erfolgreiches Werk dieser Literaturepoche verfasst. Der Einfluss der Empfindsamkeit zeigt sich noch in Goethes Jugendwerk Die Leiden des jungen Werthers (1774), einem Hauptwerk des Sturm und Drang . Der Roman ist der literarische Hohepunkt des ?Zeitalter[s] der Empfindsamkeit“ ( Renate Kruger ) und der Beginn ihres Ruckganges als Kunstepoche (Goethe in ?Dichtung und Wahrheit“).

Die religiose Empfindsamkeit wurde etwa bei Francois-Rene de Chateaubriand zu einer Inspiration der Romantik . In der popularen Literatur hat die Empfindsamkeit bis weit ins 19. Jahrhundert hinein eine Rolle gespielt, bis hin zu Fortsetzungsromanen in Zeitschriften wie Die Gartenlaube . Im Bereich des Theaters ist das Ruhrstuck aus der Empfindsamkeit hervorgegangen.

  • Renate Kruger: Das Zeitalter der Empfindsamkeit . Koehler & Amelang, Leipzig 1972
  • Nikolaus Wegmann : Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefuhls in der Literatur des 18. Jahrhunderts . Metzler, Stuttgart 1988, ISBN 3-476-00637-9
  • Gerhard Sauder (Hrsg.): Theorie der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang . Reclam, Ditzingen 2003, ISBN 3-150-17643-3
  • Burkhard Meyer-Sickendiek : Zartlichkeit. Zu den aristokratischen Quellen der burgerlichen Empfindsamkeit. In: Deutsche Vierteljahrsschrift fur Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 2. 2014, S. 206?233.
  • Felix Vogel: Empfindsamkeitsarchitektur. Der Hameau de la Reine in Versailles. Diaphanes, Zurich u. a. 2023, ISBN 978-3-0358-0628-1 .

Einzelnachweise

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  1. W. Kr. - KLL: Denis Diderot: La religieuse , in: Kindlers Neues Literatur-Lexikon, Munchen 1996, Band 4, S. 679 f.