Die
Diathese
(
altgriechisch
δι?θεσι?
diathesis
?Aufstellung, Zustand‘), manchmal in gleicher Bedeutung
Genus Verbi
(
lateinisch
: ?Gattung (Art, Geschlecht) des Zeitworts“), deutsch auch
Handlungsrichtung
genannt, ist in der
Sprachwissenschaft
eine
grammatische Kategorie
des
Verbs
. Es gibt verschiedenartige Konzeptionen, welche Erscheinungen als Diathese bezeichnet werden und wie der Begriff insgesamt bestimmt wird.
Als typischster Beispielfall einer Diathese gilt das
Passiv
. In der deutschen Grammatik wird
Diathese
oft nur als die Kategorie definiert, die
Aktiv und Passiv
zusammenfasst. Dann ist Diathese eine Kategorie in der
Konjugation
des Verbs und die Bezeichnung wird uberwiegend als synonym zu
Genus Verbi
gesehen. In vielen anderen Ansatzen werden aber weitere grammatische Erscheinungen einbezogen wie z. B.
Kausativ
,
Antikausativ
,
Reflexiv
usw. (wodurch der Bereich der Konjugationsformen verlassen wird).
Diathese
wird somit zu einem sehr abstrakten Begriff: Er fasst verschiedene, schon fur sich bestehende grammatische Kategorien zusammen, um bestimmte Gemeinsamkeiten in ihrer Funktionsweise herauszustellen. Unterschiede in der Fachliteratur uber Diathesen entstehen daraus, was fur Gemeinsamkeiten man dabei genau ins Auge fasst.
Ursprunglich wurde der Begriff
Diathese
von den antiken Grammatikern des
Altgriechischen
gepragt; dort bezieht er sich auf die Art der Bedeutungsbeziehung zwischen dem Verb und dem Subjekt des Satzes. Das Griechische unterscheidet hierbei Verbformen fur ein nichtbetroffenes (folglich aktives) Subjekt im Gegensatz zu einem Subjekt, das von der Handlung in irgendeiner Weise betroffen oder mitbetroffen wird (egal ob es zugleich auch aktiv ist oder nicht). Dieses System wird als ein Kontrast
Aktiv/Medium
bezeichnet. Ein Aktiv/Passiv-System, wie es im Deutschen vorliegt, ist jedoch im Ganzen anders geartet. So kommt es, dass der Begriff der Diathese seit seiner Entstehung im antiken Griechenland mehrfach fundamental umgedeutet worden ist. In manchen heutigen Darstellungen findet dadurch auch eine Vermengung von Aspekten der klassischen Begrifflichkeit mit modernen Weiterentwicklungen statt.
Eine heute gangige Definition in einer weiter gefassten Bedeutung ist, dass Diathesen regeln, ob und in welcher Anordnung die von der Verbbedeutung vorgegebenen Teilnehmerrollen (
Semantische Rollen
) im Satzbau erscheinen. ?Diathese“ bezeichnet hier insbesondere verschiedene Arten von Abwandlung einer zugrundeliegenden Anordnung (was fur das altgriechische Medium weniger zutrifft).
Die sprachwissenschaftliche Literatur verhalt sich nicht nur uneinheitlich darin, auf welche Phanomene der Begriff
Diathese
sich erstrecken soll, sondern auch darin, ob der traditionelle Begriff
Genus Verbi
und seine englische Ubersetzung
voice
mit Diathese gleichgesetzt oder von Diathese unterschieden werden. Anders als in der Grammatik der klassischen Sprachen wird in neuerer Literatur haufig eine Unterscheidung definiert. Hiernach soll
Genus Verbi
(bzw.
voice
) beim Verb die konkreten grammatischen Formen bezeichnen, die eine Diathese anzeigen; entsprechend ist dann
Diathese
eine formale Operation, die an der Schnittstelle von Verbbedeutung und Satzgrammatik stattfindet, und die unabhangig davon ist, ob und wie sie außerlich angezeigt wird. Genus Verbi ist dann also eine
morphologische
Kategorie, Diathese ein Begriff, der mit grammatischen Funktionen zu tun hat.
Einer der einfachsten Diathesebegriffe ? der auch in der deutschen Grammatik am meisten verwendet wird ? definiert Diathese als diejenige Kategorie, die
Aktiv und Passiv
zusammenfasst.
[1]
[2]
Die Funktionsweise des Passivs zeigt aber auch wichtige Grundlinien dessen, worauf es bei anderen heute gangigen Varianten des Diathesebegriffs ankommt.
Das Passiv hat die Funktion, die Zahl der Erganzungen zu reduzieren, die im Satz mit einem Verb erscheinen mussen. Beispiel:
- ?Die großen Fische fressen die kleinen Fische“
- → PASSIV → ?Die kleinen Fische werden gefressen.“
Die Passivierung, und Diathese allgemein, kann modelliert werden, indem zwei Ebenen unterschieden werden: Die inhaltlichen Beschreibungen, die fur die Rolle der Teilnehmer im Ereignis gegeben werden konnen, und Regeln, wie die Teilnehmerrollen auf grammatische Funktionen wie Subjekt und Objekt abgebildet werden sollen. Hierzu wird eine Hierarchie der Rollen gebildet, die vor allem danach geht, in welcher Reihenfolge verschiedene Rollen ?subjektwurdig“ sind (dies wird im Artikel
Semantische Rolle
im Einzelnen dargestellt). Wenn ein aktiv handelnder, verursachender Teilnehmer vorhanden ist (
Agens
), hat er die hochste Prioritat fur die Subjektstelle. Im obigen Beispiel ist sonst noch ein Teilnehmer beteiligt, der sich verandert bzw. etwas ?erleidet“,
Patiens
genannt. Ein Patiens hat als Rolle einen niedrigeren Rang und wird nur Subjekt, wenn kein Agens da ist. Im transitiven Satz bleibt dem Patiens die Objektposition. Diese Abbildungsregeln ergeben also die Anordnung der Teilnehmer im Satz:
fressen:
AGENS, PATIENS
<1, 2 >
Subjekt Objekt
Das Passiv unterdruckt die Ubernahme der hochsten Teilnehmerrolle in den Satz (die Agensrolle verschwindet aber nicht aus der Darstellung der Bedeutung). Typischerweise fuhrt dies dazu, dass das Patiens an die Subjektstelle gesetzt wird (so wie es auch bei dem Verb ?sterben“ geschehen wurde, wo von vornherein kein aktiver Teilnehmer da ist):
wird gefressen:
AGENS, PATIENS
< 1 , 2 >
*** Subjekt
Das Passiv ist also ein Eingriff in die Wiedergabe der Teilnehmerrollen, das Aktiv ist die normale Wiedergabe. Auch dem Passiv liegt dieselbe Hierarchie der Teilnehmerrollen zugrunde, denn es soll die hochste Teilnehmerrolle in der Hierarchie finden und diese nur fur die grammatische Wiedergabe blockieren. Daher sind Aktiv und Passiv Mechanismen der gleichen Art (Abbildungen von Rollen auf syntaktische Funktionen) und werden beide als Diathesen bezeichnet, auch wenn das Aktiv ein besonders neutraler Fall ist, manchmal daher als ?Basisdiathese“ oder auch ?Nulldiathese“ bezeichnet.
[3]
Die Diathese Passiv wird ferner durch eine grammatische Form angezeigt: Dies kann eine Endung am Verb sein oder, wie im Deutschen, die Verbindung mit einem Hilfsverb. Daher wird manchmal unterschieden zwischen der eigentlichen Diathese als grammatischer Operation (?unterbreche die Verbindung AGENS → Subjekt“) und dem
Genus Verbi
(englisch
voice
) als Konjugationsform: ?Hilfsverb
werden
+ Partizipform signalisiert Diathese
Passiv
“ (dies ist allerdings eine Umdeutung des ursprunglichen Sinns von
Genus Verbi,
vergleiche den Abschnitt
zur Diathese in den klassischen Sprachen
).
Merkmale der Diathese Passiv sind also: (1) Sie reduziert die Anzahl der grammatischen Verberganzungen, (2) sie ist sonst bedeutungsneutral, (3) sie steht im Kontrast zum Aktiv, (4) sie wird durch eine Konjugationsform des Verbs markiert (die ebenfalls im Kontrast zur Aktivform steht).
Das
Passiv
ist der typischste Fall einer Diathese und wird in allen Theorievarianten in diesen Begriff einbezogen. Von da ab unterscheiden sich verschiedene Ansatze aber darin, was sie noch alles zu den Diathesen dazurechnen und mit welcher Begrundung.
In diesem Abschnitt wird eine Konzeption besprochen, die analog zum Passiv eine Ausweitung des Begriffs
Diathese
auf beliebige Prozesse vornimmt, durch die Verberganzungen auf andere grammatische Funktionen im Satz umverteilt werden.
[4]
Die Diathese erscheint so als
Valenzalternation
(Valenzveranderung), d. h. ein Wechsel in der Menge der vom Verb verlangten Erganzungen (der sogenannten
Valenz des Verbs
).
[5]
Die Ansatze in der Literatur unterscheiden sich darin, wie weit diese Erweiterung geht. Die grundsatzliche Motivation lasst sich an folgenden Beispielen ersehen:
- ?Die großen Fische fressen die kleinen Fische“ →
- ?Die kleinen Fische werden (von den großen) gefressen.“
- Einfaches Verb → Kausativ, und dieser in verschiedenen Varianten
- ?Ein Mechaniker schaute den Wagen durch.“ →
- ?Otto ließ einen Mechaniker den Wagen durchschauen“ ? oder ?
- ?Otto ließ den Wagen (von einem Mechaniker) durchschauen.“
Nicht nur das Passiv, auch die
kausative
Konstruktion mit ?lassen“ bildet also Varianten, die sich gegenuber dem einfachen Verb als eine Umordnung von Erganzungen beschreiben lassen (Umordnung im weitesten Sinn: einschließlich Weglassung und Hinzufugung von Erganzungen).
Bei einer solchen Ausweitung des Diathesenbegriffs werden allerdings verschiedene Typen von grammatischen Kategorien zusammengenommen: Zum einen liegt die Veranderung beim Kausativ auch an der Bedeutung des zusatzlichen Verbs
lassen.
Das Passiv ist dann eher ein Sonderfall einer Valenzalternation, weil Passivierung nicht von einer Fusion zweier Pradikate mit eigenen Bedeutungen getrieben ist. Dazu kommt: Im Deutschen gilt das Passiv-Hilfsverb als Konjugation des Hauptverbs (nicht als
Wortform
, aber als ?periphrastische Konjugation“), eine Kausativkonstruktion mit
lassen
zahlt aber nicht als Konjugation. Bei diesen anderen Valenzalternationen handelt es sich stattdessen eher um Wortbildung (
Derivation
)
[6]
oder um beliebige Typen zusammengesetzter Pradikate.
Beim Kausativ tritt im Deutschen ein Verb hinzu, das einen Verursacher und ein Verursachungsereignis zusatzlich einfuhrt. In Verbindung mit dem Vollverb ergibt sich eine Verschmelzung von zwei Pradikaten zu einem zusammengesetzten Pradikat. Hierbei muss die Abbildung von Teilnehmern auf syntaktische Positionen im Vergleich zum einfachen Pradikat neu geregelt werden. Wie im Folgenden gezeigt, kann die erste Erganzung des Vollverbs nun wegfallen oder zum Akkusativobjekt des Ganzen werden.
- (a) ?dass er den Wagen (von einem Mechaniker) durchsehen lasst“
- (b) ?dass er einen Mechaniker den Wagen durchsehen lasst.“
lassen: AGENS EREIGNIS
= durchsehen: AGENS THEMA
durchsehen-lassen:
(a)
< 1, (2) 3 >
Subjekt (***) Objekt
(b)
< 1, 2, 3 >
Subjekt Objekt-1 Objekt-2
Die Konstruktion in (a) hat also Gemeinsamkeiten mit einer Passivierung; sie wird in der Literatur zum Deutschen tatsachlich auch manchmal als
?Kausativ-Passiv“
bezeichnet.
Ein weiteres Beispiel fur eine Valenzalternation ist der sogenannte Antikausativ, der seinen Namen daher hat, dass er in gewissem Sinne die Umkehrung dessen ist, was beim Kausativ geschieht: Eine im Verb vorhandene Bedeutungskomponente der Verursachung wird weggenommen. In manchen Sprachen geschieht auch dies durch ein zweites Verb, im Deutschen ist die Markierung dieser Valenzalternation aber anders als der Kausativ und besteht meist aus einem bedeutungsleeren
Reflexivpronomen
(bei anderen Verben kann sie auch ganz ohne Markierung bleiben).
- Beispiel: ?Die Tur offnet sich“
offnen (aufmachen): AGENS verursacht: THEMA geht auf
Valenz < 1, 2 >
sich offnen: ******************** THEMA geht auf
Valenz < 2 >
Wahrend die Bedeutung des transitiven ?offnen“ wie oben zerlegt werden kann (siehe
Verb #Lexikalische Dekomposition
), entsteht durch die Antikausativ-Bildung ?sich offnen“ eine Verbbedeutung des reinen Zustandswechsels. Es bleibt erkennbar, dass es sich um einen Zustandswechsel handelt, der von außen verursacht werden kann, der Verursachungsteil fehlt aber bereits auf der Bedeutungsebene. Dies ist anders als im Passiv: Hier wird nun das Agens nicht grammatisch unterdruckt, sondern auf einer vorgeschalteten Ebene zusammen mit einem Ereignisteil.
Die Bezeichnung
Genus Verbi
stammt aus der Lateingrammatik. Sie ist zusatzlich in mittelalterlichen Traditionen durch
Vox Verbi
ersetzt worden, wovon sich der englische Ausdruck
Voice
herleitet.
[7]
Im vorliegenden Artikel wird daher davon ausgegangen, dass ?Genus Verbi“ in deutschen Texten und ?Voice“ in englischen Texten aquivalent sind. Die Verwendung dieser Gruppe von Bezeichnungen ist in der Literatur uneinheitlich. In Modellen, die Diathesen als Valenzalternationen fassen, wird oft eine unterschiedliche Bedeutung fur Diathese einerseits und Genus Verbi bzw. Vox/Voice andererseits definiert (anders als in Systemen, die der griechisch-lateinischen Tradition naher stehen, siehe
im nachsten Kapitel
).
Die Konzeption der Diathese als Valenzalternation verdankt ihre Entwicklung wesentlich der ?Leningrader Schule“ der Sprachtypologie in den 1970er Jahren.
[8]
[9]
In deren Ansatz wird der Begriff
Diathese
als grammatische Operation definiert, die Abbildungen von semantischen Rollen auf grammatische Funktionen regelt und abwandelt. Im Unterschied dazu wird die Markierung an einem Verb, die eine solche Diathese anzeigt, (in englischer Ubersetzung) als ?Voice“, also ?Genus Verbi“ bezeichnet. Dieses Modell hat sich seither auch in der englischsprachigen Fachliteratur sehr verbreitet, vgl. etwa das Ubersichtswerk von
Zuniga & Kittila (2019)
.
[10]
Bei einigen Autoren in derselben Tradition wird jedoch
Voice
und besonders auch
Genus Verbi
auf Flexionskategorien beschrankt.
[11]
Beispielsweise ist fur den Ausdruck der Kausativitat durch Hilfsverben oder Verbaffixe in der Leningrader Schule die Bezeichnung ?causative voice“ ublich, dies wird aber anderswo eher vermieden.
[12]
Auch die Bezeichnung
Diathese
wird in diesem Zusammenhang noch verschieden gehandhabt. In weiter Bedeutung sind mit
Diathese,
wie oben gesagt, alle Arten von valenzverandernden Operationen gemeint.
[13]
Manchmal werden hierbei allerdings nur Valenzanderungen berucksichtigt, die das Subjekt mitbetreffen (die Umordnung von Objekten beim
Applikativ
oder dem englischen
dative shift
wurde so ausgeschlossen).
[14]
In der deutschsprachigen Literatur ist jedoch auch eine besonders enge Bedeutung anzutreffen, die die Einschrankung der traditionellen Grammatik auf Konjugationsformen weiterfuhrt und nicht nur
Genus Verbi
, sondern auch die Bezeichnung
Diathese
in einen Gegensatz zu Valenzanderungen wie Kausativ, Antikausativ etc. stellt, also in einen Gegensatz zu Wortbildungskategorien oder komplexen Pradikaten.
[15]
[16]
Beispielsweise bezeichnet die deutsche Grammatik von Eroms (2000) nur das Passiv als ?Diathese“ neben den anderen Operationen, die dann als ?Konversen“ bezeichnet werden.
[17]
Unterschiedlich ist hier jedoch nur der Sprachgebrauch, nicht das theoretische Modell als solches, da im Begriff der ?Konversen“ dieselbe Zusammenfassung getroffen wird, die in der Leningrader Schule Diathese hieß (namlich ein Oberbegriff fur alle Valenzalternationen inklusive Passiv).
Im Gegensatz zu der
oben dargestellten
Terminologie wird in manchen Quellen keine besondere Unterscheidung zwischen
Genus Verbi
und
Diathese
genannt,
[18]
sondern sie werden als alternative Bezeichnungen fur dieselbe Sache genommen. Das lasst sich darauf zuruckfuhren, dass die lateinische Bezeichnung
Genus Verbi
ursprunglich erschien, um als Ubersetzung von
Diathese
aus dem Griechischen zu fungieren. In einer Lesart sind also auch in heutigen Quellen
Genus Verbi, Vox, Voice, Diathese
austauschbare Bezeichnungen, vor allem dann, wenn es um Flexionskategorien wie Passiv oder Medium geht, wie sie sich in den klassischen Sprachen zeigen. Im Bezug hierauf zeigt sich auch eine andere Konzeption von ?Diathese“.
Im Lateinischen wird ebenso von einer Aktiv-Passiv-Unterscheidung gesprochen wie im Deutschen, nur geschieht der Ausdruck meist innerhalb ein und desselben Wortes, durch eine andere Serie von Endungen:
- Maria lapidem
movet.
- Lapis
movetur.
Die weitlaufig verwandte
altgriechische Sprache
hat ebenfalls solche Wortformen, aber ein anderes System.
Der Hauptkontrast besteht im Griechischen nicht zwischen Aktiv- und Passivformen, sondern zwischen Formen, die hier der Eindeutigkeit halber als
Aktivflexion
und
Mediumflexion
bezeichnet werden. Beispiele fur diese Wortformen sind:
lou-?
Aktivflexion 1.Pers.Sg. = ?ich wasche“
lou-omai
Mediumflexion 1.Pers.Sg.
Es gibt daneben auch ein Passiv, aber nur in zwei Zeitformen: im Futur und im
Aorist
(einem Erzahltempus der Vergangenheit). Im Futur sieht man, dass das Passiv auf der Grundlage der Mediumform mit einem zusatzlichen Affix gebildet wird:
[19]
lou-s-?
Futur Aktivform = ?ich werde waschen“
lou-s-omai
Futur Mediumform = ...
lou-
th?
-s-omai
Futur Passiv = ?ich werde gewaschen werden.“
Die Mediumformen in der griechischen Konjugation haben nun eine Vielzahl von Ubersetzungen und Funktionen, wie in folgendem Beispiel.
[20]
Die folgende Wortform ist hier mehrdeutig zwischen den inhaltlichen Kategorien: (1) Reflexiv, (2) Reziprok, (3) Antikausativ, (4) Passiv.
(?Sie stiegen in die Badewanne, und...“)
lou-sa-nto
(Mediumflexion Aorist 3.Pers.Pl.)
= 1. ?wuschen sich“
2. ?wuschen einander“
3. ?wurden sauber“
4. ?wurden gewaschen“
Das Passiv ist also eine regulare Interpretation der Mediumform; im Futur wird diese Interpretation durch ein eigenes Affix eindeutig, auch diese Bildung verbleibt aber innerhalb des Konjugationstyps der Mediumformen (im Aorist wirkt die zusatzlich existierende Passivform selbstandig, da nicht zerlegbar).
Es kommen aber noch weitere Funktionen hinzu, denn einige Verben erscheinen nur in der Mediumform, oder bestimmte Bedeutungsvarianten eines Verbs entstehen spezifisch nur mit der Aktivform bzw. der Mediumform. Beispiele fur letzteres:
[21]
bouleu?
(Aktivflexion) ?ich plane, uberlege“
bouleuomai
(Mediumflexion) ?ich plane, entscheide mich“
Eine auffallige Gruppe ist auch die Bedeutung ?etwas fur sich selbst, zum eigenen Nutzen tun“:
lou-?
(Aktivflexion) = ?ich wasche“
louomai ta himatia
(Mediumflexion) = ?ich wasche (mir) meine Kleider“
[22]
Verben, die nur in einer der Formen vorkommen konnen, zeigen diesen Effekt noch deutlicherer. Solche Falle werden
media tantum
genannt. Im Griechischen sind dies zum Beispiel regelmaßig Verben, die korperliche Bewegung oder geistige oder emotionale Vorgange bezeichnen (etwa ?tanzen, fliegen, vermuten, klagen“).
[23]
Als Gegenstuck dazu gibt es
activa tantum,
Verben die keine Mediumformen bilden.
Dies fuhrt dazu, dass die Mediumkonjugation auch als eine Klassifikation von Verben und Verbbedeutungen erscheint. Sie wird so zusammengefasst, dass Verben oder Verbbedeutungen, die nur bei Mediumformen vorkommen, eine Klasse von Situationen bilden, in denen das Subjekt des Satzes ein Teilnehmer ist, auf den das Ereignis in irgendeiner Form einwirkt.
[24]
Im Lateinischen gibt es Zuge der sogenannten Passivform, die diesen Verhaltnissen ahneln, nur dass man im Lateinischen von einem Passiv spricht statt von einem Medium. Das Lateinische hat sich hier von den alteren Verhaltnissen, wie sie im Griechischen noch anzutreffen sind, wegentwickelt; die lateinischen
Deponentia
? Verben, die nur im Passiv vorkommen konnen, ohne dass eine typische Passivfunktion zu erkennen ware ? sind also Reste eines medialen Systems.
[25]
Der Begriff der Diathese bzw. des Genus Verbi, wie er bei den antiken griechischen bzw. romischen Grammatikern gebraucht wird,
[26]
unterscheidet sich von der heutigen Verwendung dieser Bezeichnungen. Gemeint waren damit (also auch mit ?Genus Verbi“) weder die Konjugationsformen des Verbs noch deren Interpretationen, sondern verschiedene Beziehungen zwischen Form und Interpretation. Das Medium hat seinen Namen davon, dass es ein gemischter Typ zwischen zwei anderen ist, bei denen die Abbildung Wortform?Bedeutung eindeutiger ist.
Die beiden hauptsachlichen Diathesen-Kategorien, die bei dem altgriechischen Grammatiker
Dionysios Thrax
verwendet werden, heißen
energeia
und
pathos,
ins Lateinische ubersetzt als das
genus verbi activum
bzw.
genus passivum.
Diese beiden bezeichnen eine normale Abbildung zwischen Form und Funktion, die zusatzliche ?mittlere Diathese“, griechisch
mesotes,
dagegen ein nicht standardmaßiges Verhaltnis zwischen Form und Funktion. Zum einen erscheint
energeia
als die Kategorie, wonach das Subjekt des Verbs aktiv handelt und auf anderes einwirkt, gekoppelt mit der Konjugationsform des Aktivs;
pathos
ist die Bedeutung, wonach in irgendeiner Form auf das Subjekt eingewirkt wird und dies durch die Medium-Konjugation angezeigt wird. Die Konjugationsform namens Medium wie z. B. in
lou-omai
hat also alle im obigen Beispiel genannten Interpretationen (Passiv, Reflexiv, Reziprok, Antikausativ) als Standardfall von
pathos / passivum;
die zusatzliche ?mittlere Diathese“ des Verbs betrifft andere, untypische Falle, in denen der medialen Konjugationsform eine aktivische Interpretation zugeordnet ist ? die ?mittlere Diathese“ in diesem Sinn (
mesotes
) deckt sich also gerade nicht mit der medialen Konjugationsform.
[27]
Die antiken romischen Grammatiker ubernahmen diese Konzeption, und hier erscheint als Ubertragung von
mesotes
nun das
Deponens
als zusatzliche Diathese neben dem
genus activum
und dem
passivum,
namlich als der Fall, dass die passivische Flexionsform die standardmaßige passivische Funktion ?abgelegt“ hat (so der wortliche Sinn von ?Deponens“).
[28]
Im heutigen Sinn ist hingegen mit einer ?Diathese“ in der Regel die Interpretation der medialen Konjugationsform gemeint. Die Kategorie ?Medium“ im Sinne von
pathos
verallgemeinert uber verschiedene Bedeutungsfunktionen, die im heutigen Sinn alle fur sich als eigene Diathesen zahlen (Passiv, Antikausativ etc.).
[29]
Das Medium bildet keine einheitliche, bedeutungsmaßig definierte Diathese, sondern ein ?Bedeutungsnetzwerk“.
[30]
Die Verallgemeinerung, die dieses Netzwerk zusammenhalt, betrifft einen besonderen Faktor, von dem bei Valenzalternationen weniger die Rede ist, namlich die Relation zwischen dem Pradikat und der semantischen Rolle, die sein Subjekt hat. Es liegt auch sonst nicht nahe, das Medium als Valenzalternation einzustufen, da es durch die Existenz von
media tantum
Zuge einer Klassifikation von Verbbedeutungen hat.
Es ergibt sich so auch ein anderer Kontrast zwischen Medium und Aktiv als im Deutschen zwischen Passiv und Aktiv (siehe unten unter
#Der Sonderfall ?Aktiv“
).
Die traditionelle Kategorie des Mediums nimmt die Generalisierung vor, dass das Subjekt keine Kontrolle nach außen ausubt, sondern dass ein Geschehen auf das Subjekt wirkt, entweder weil das Subjekt nur betroffen ist oder als Komponente bei einer aktiven Handlung, von der das Subjekt auch selbst betroffen wird. Ein ?nur betroffenes“ Subjekt wie bei Passiv oder Antikausativ und ein ?auch betroffenes“ Subjekt wie beim Reflexiv sind verschiedene Diathesen im modernen Sinn. Das Medium ergibt aber eine Gruppe (oder ?Cluster“) von Diathesen, die in verschiedenen Sprachen unabhangig voneinander zusammen auftreten. Beispielsweise besitzt die amerikanische Indianersprache
Halkomelem
ein Verbaffix
-m,
mit einer Verteilung, die an die griechische Mediumflexion erinnert:
[31]
t??m??-
?flechten“ →
t??m??-?n??
-m
?seine Haare flechten“
kw?n-
?nehmen“ →
kw?n-?t-
?m
?genommen werden“
?il?q-
?kaufen“ →
?il?q-?łc-
?m
?sich etwas kaufen“
In diesem Abschnitt wird die Frage nach der Gesamt-Ordnung des Gebiets der Diathesen behandelt und weitere, noch nicht genannte Unterkategorien werden nachgetragen. In einem einflussreichen neueren Ubersichtswerk,
Zuniga & Kittila (2019)
, wird das Phanomen der Diathesen in vier Familien eingeteilt. Dabei sind jedoch terminologische Entscheidungen zu beachten: Erstens, diese Autoren folgen der Terminologie der ?Leningrader Schule“ und verstehen unter
Diathese
den grammatisch-semantischen Prozess der Zuordnung von Teilnehmerrollen auf grammatische Funktionen (?diathetical operation“) ? nicht den Diathesebegriff wie er in der germanistischen Literatur vorherrscht, der sich auf das Passiv konzentriert. Zweitens besteht die Themenstellung dieses Ubersichtswerks in Kategorien des Typs ?Voice“ ? dieser Begriff wird definiert als eine grammatische Kategorie bzw. grammatische Markierung fur eine Diathese (im Sinn von ?dathetical operation“). Zunachst ergibt sich aber aus jeder solcher
Voice
auch eine Diathese. Nachfolgend wird eine erste Ubersicht uber die Einteilung gegeben; die Kategorien werden anschließend jeweils in eigenen Unterkapiteln naher erlautert:
- Valenzanderungen durch Operationen auf der Bedeutungsebene
,
[32]
z. B.
Kausativ
,
Antikausativ
- Reine Valenzanderung ohne Bedeutungseffekte:
v. a. Passiv.
[33]
- Diathesen, die die semantische Rolle des Subjekts modifizieren,
die es im Verhaltnis zum Gesamtsatz hat. Beispiele:
Reflexiv.
[34]
- Diathesen, die die Gesamt-Anordnung aller Erganzungen des Verbs andern
(aber nicht die Anzahl der Erganzungen). ? Hierzu gibt es keine Analogie im Deutschen; Beispiele sind die sogenannten ?Fokus“-Formen des Verbs in den
Austronesischen Sprachen
sowie
Direkt/Invers-Systeme
in nordamerikanischen Indianersprachen.
[35]
Diese Typen bilden nicht einfach eine Liste verschiedener moglicher Diathesen, sondern ordnen sich auf verschiedenen Ebenen an. Dies zeigt sich auch daran, dass verschiedene Falle miteinander kombiniert werden konnen. Zum Beispiel gibt es oft (wie im Deutschen) die Ableitung eines Passivs (Typ 2) oder Reflexivs (Typ 3) vom Kausativ (Typ 1), oder Sprachen mit Direkt/Invers-Diathesen des vierten Typs haben zugleich ?normales“ Passiv und Kausativ.
[36]
Im System von
Zuniga & Kittila (2019)
wird das Aktiv aussortiert und nicht mitbehandelt. Dies liegt daran, dass das System dieser Autoren eigentlich sogenannte ?Voice“ behandelt, definiert als grammatische Markierung fur eine diathetische Operation. Das Aktiv ist im Deutschen oder Englischen jedoch gerade die unmarkierte Form (im Gegensatz zum Passiv als grammatisch markierter Kategorie). Aus diesem Grund kann definiert werden, dass das Aktiv keine
Voice
ist, was die Autoren aber als eine moglicherweise kontroverse Entscheidung eigens hervorheben.
[37]
Im Englischen ist sonst traditionell von einer
active voice
die Rede, ebenso wird im Deutschen das Aktiv zusammen mit dem Passiv als
Genus Verbi
bezeichnet. Hier ist jedoch die Mehrdeutigkeit der Terminologie zu beachten: Wenn in deutschsprachiger Literatur ?Genus Verbi“ als gleichbedeutend mit ?Diathese“ verstanden wird, ergibt sich kein Widerspruch, denn das Aktiv kann eine ?diathetische Operation“ sein, ohne eine ?Voice“ im Sinne von
Zuniga & Kittila (2019)
zu sein. Das Aktiv ist dann die ?Nulldiathese“ (die unveranderte Abbildung aus der Hierarchie der Teilnehmerrollen auf grammatische Funktionen), aber insofern eine Diathese, selbst wenn es sich mangels Markierung zugleich nicht um ?Voice / Genus Verbi“ handelt.
Das Aktiv ist vor allem im Kontrast zu Passiv und Medium identifizierbar. Bei Valenzalternationen gibt es meist keine solche Gegenuberstellung, beispielsweise ist ein Kausativ oder Applikativ immer noch zugleich ein Aktiv. Der unmarkierte Status des Aktivs betrifft ebenfalls in erster Linie nur den Kontrast zum Passiv. Bei Systemen wie dem des Griechischen, wo eine Kategorie Medium vorliegt, ist dies hingegen nicht so:
[38]
Im Griechischen gibt es zwei verschiedene Konjugationsreihen fur Aktiv und Medium, und daneben auch Verben, die nie im Aktiv, sondern nur im Medium vorkommen. Das Medium kann also nicht so betrachtet werden, dass es vom Aktiv abgeleitet ware. Umgekehrt erhalt das Aktiv im System des Griechischen den Status einer Bedeutungskategorie, anders als es mit der Opposition
Aktiv und Passiv im Deutschen
der Fall ist.
Diese Kategorie wird definiert uber ?Operationen, die die morphosyntaktische Struktur des Satzes auf verschiedene Weisen andern, wobei wesentlich ist, dass die semantische Struktur sich auch andert.“
[39]
Dieser Beschreibung entsprechen:
- Kausativ
(
siehe eigener Abschnitt oben
): Dieser Konstruktionstyp ist außerordentlich vielfaltig und produktiv und kann teils durch zusatzliche Verben gebildet werden, teils durch Affixe am Verb, manchmal auch unmarkiert sein. Es gibt unterschiedliche Bedeutungsnuancen, wie etwa direkte oder indirekte oder unwillentliche Verursachung. Die Gemeinsamkeit ist jedes Mal der Zusatz eines externen Verursachers, wobei die Konstruktionen sich darin unterscheiden konnen, inwieweit die anderen Argumente ubernommen werden.
- Antikausativ (
siehe eigener Abschnitt oben
): Hier wird ein transitives Verb mit einer zusatzlichen Markierung versehen, um zu bezeichnen, dass das Agens und der ihm zugeordnete Ereignisteil ausgeblendet ist. Diese Bildungen sind nie bei allen agentiven Verben moglich, sondern eher nur bei solchen, die die Rolle des Agens als reinen Verursacher ohne nahere Beschreibung von Art und Weise zeichnen.
[40]
Die Bildung ist also wesentlich eingeschrankter als der Kausativ.
[41]
- Resultativ
: Ubergang von ereignisbeschreibendem Verb auf eine Form, die nur den Resultatszustand des Ereignisses bezeichnet, z. B. deutsch ?die Tur ist geoffnet“ (im Deutschen als ?
Zustandspassiv
“ bezeichnet, wobei nicht klar ist, ob es buchstablich ein Passiv ist). Hierbei geschieht meist eine Argumentreduktion ahnlich der beim Antikausativ: Das Agens entfallt.
[42]
Jedoch bezeichnet das Antikausativ eine Veranderung, das Resultativ einen Zustand.
- Applikativ
: Dies ist eine valenzerweiternde Operation, die das Subjekt unverandert lasst und eine oblique Erganzung ? haufig von einer Praposition eingefuhrt ? zu einem direkten Objekt hochstuft. Sie lasst sich in vielen Fallen als Inkorporation eines zweiten Pradikats ins Verb beschreiben.
[43]
Applikative konnen normalerweise passiviert werden, so dass das neugeschaffene direkte Objekt in die Subjektposition weitertransportiert wird.
[44]
Applikative lassen sich durch deutsche Verben mit
be-
Prafix illustrieren: ?[auf den Berg] steigen“ → ?den Berg besteigen“. Sprachen unterscheiden sich jedoch, ob es sich wie im Deutschen um Wortbildung handelt oder um einen starker syntaktischen Prozess.
- Possessor-Anhebung
kann als ahnlich zum Applikativ eingestuft werden: Hierbei wird durch Inkorporation eines Objekts ins Verb ein Possessor des Objekts zum direkten Objekt. In der brasilianischen Indianersprache Tupinamba wird eine Konstruktion beschrieben, die ubersetzt so funktioniert: ?ich wasche [sein Gesicht]“ → ?ich gesichtswasche ihn.“
[45]
- Sogenannte
Nukleative
sind Konstruktionen, in denen ein neues Subjekt zusatzlich im Satz hinzugefugt wird (also ein peripherer Teilnehmer des Ereignisses in einer ?Kernfunktion“ eingesetzt wird). Im Japanischen geschieht so etwas in einer Konstruktion, die oberflachlich einem Kausativ ahnelt, deren Bedeutung aber ist, dass das neue Subjekt vom Geschehen negativ betroffen ist, z. B.:
[46]
Taro-ga Hanako=ni piano=o hik-are-ta.
T.-nom H.-dat Klavier-acc spiel-NUCL-prat
Etwa: ?Taro musste zu seinem Leidwesen erleben, dass Hanako Klavier spielte.“
Die grammatischen Markierungen, die bei solchen Diathesen erscheinen, sind oft auch mehrdeutig, zum Beispiel werden in manchen Sprachen Kausativ-Formen auch zum Ausdruck eines Passivs verwendet (etwa im
Koreanischen
[47]
) oder Antikausativ-Markierungen fur den Ausdruck von unwillentlicher Verursachung (analog zum deutschen Satz: ?Mir ist ein Glas zerbrochen“).
[48]
Die wichtigste Unterkategorie in dieser zweiten Abteilung ist das Passiv, das in vielfaltigen Ausformungen und Varianten vorkommt (siehe
Passiv (Grammatik)
). Typische Passivkonstruktionen entkoppeln das erste Argument aus der Hierarchie der Teilnehmerrollen (vor allem Agens) von der Subjektfunktion und konnen ein Objekt zum neuen Subjekt machen. In manchen Sprachen gibt es aber auch Konstruktionen, in denen ein Objekt auch im Passiv in dieser grammatischen Funktion bleibt. Das unterdruckte Agens kann in manchen Sprachen bzw. Konstruktionen herabgestuft auf die Funktion eines Adverbials oder obliquen Arguments wieder eingefuhrt werden, in anderen ist eine solche Wiedereinfuhrung nicht moglich.
Entgegen einer haufig geaußerten Verallgemeinerung gibt es durchaus auch
Ergativsprachen
, die die Kategorie Passiv besitzen, z. B. unter den Eskimo- oder Maya-Sprachen.
[49]
Als einzige weitere Kategorie wird zu dieser Abteilung noch das sogenannte
Antipassiv
gezahlt. Es besteht darin, dass nicht das erste, sondern das zweite Argument eines transitiven Satzes von seiner normalen grammatischen Funktion (Objekt) entkoppelt wird und ggf. nur als Obliquus wiedereingefuhrt wird. In Ergativsprachen, wo dies besonders regelmaßig vorkommt, wechselt hierdurch auch der Kasus des anderen Arguments.
Das Medium wird als eine grammatische Kategorie analysiert, der eine ganze Schar von Diathesen als mogliche Interpretationen zugeordnet ist und die eine eher vage Verallgemeinerung uber diese ausdruckt (wie es fur die Interpretation von
Flexionskategorien
auch sonst typisch ist, vgl.
Tempus
oder
Genus
). Es geht dabei um ein besonderes Verhaltnis zwischen Pradikat und semantischer Rolle des Subjekts. Darunter befinden sich auch Kategorien, die charakteristisch fur diesen allgemeinen Typ des Mediums sind und eine eigene Gruppe unter den Diathesen bilden. Sie werden bei
Zuniga & Kittila (2019)
als ?Duplex-Diathesen“ bezeichnet,
[50]
weil das grammatische Subjekt mit zwei semantischen Rollen zugleich ausgestattet ist. Dies ist bei der
reflexiven
und der
reziproken Diathese
der Fall.
Eine reflexive Diathese ist eine Verbform, die die Rollen eines Agens und eines Patiens auf dasselbe Individuum bezieht, z. B. wie bei der
oben besprochenen
griechischen Verbform
louomai
?ich wasche mich“. Das Individuum erscheint mit einer solchen Verbform dann nur einmal im Satz (als Subjekt). Es handelt sich also um eine diathetische Operation, die zwei Rollen aus der semantischen Ebene fusioniert, sie macht hierdurch aus einem transitiven Verb eine Art intransitives. Hier wird allerdings ein Unterschied sichtbar zwischen Reflexiv als verbaler Diathese (intransitiv) und Reflexivkonstruktionen, in denen ein Reflexivpronomen als formales Objekt auftritt. Auch im Griechischen ist eine Konstruktion aus Verb und selbstandigem Reflexivpronomen als Alternative moglich; wird diese gewahlt, steht das Verb im Aktiv statt in der Mediumform.
[51]
Die inharent
reflexiven Verben
des Deutschen bilden im Hinblick hierauf eine Zwischenstufe, man konnte entweder das
Reflexivpronomen
als Objekt oder als bedeutungsleere Medial-Markierung furs Verb ansehen.
Die reziproke Diathese erfordert ein Plural-Subjekt, eine Gruppe, und besagt, dass die Verbalhandlung zwischen den Individuen dieser Gruppe ablauft. Diese Bedeutung wird sonst auch durch
Reziprokpronomen
ausgedruckt.
Eine weitere Kategorie, in der sich ein eigener Untertyp der Diathesen (und hierbei sogar Flexionskategorien) zusammenfassen lasst, sind ?globale“ oder ?symmetrische Diathesen“.
[52]
Sie beinhalten eine Umpolung und Neuausrichtung der Verbvalenz als ganzer. In europaischen Sprachen kommt dieser Typ nicht vor.
Ein Beispiel sind die
Direkt/Invers-Systeme
mancher amerikanischer Indianersprachen. Idealtypisch funktioniert ein solches System folgendermaßen:
[53]
Im transitiven Satz werden nur die beiden Teilnehmer genannt und zusatzlich steht eine Verbform, die die Handlungsrichtung zwischen ihnen anzeigt, und zwar unterschieden danach, ob die Handlungsrichtung eine ?erwartbare“ oder ?unnormale“ Richtung aufweist. Die Erwartbarkeit richtet sich u. a. nach einer
Belebtheitshierarchie
, worin belebte Teilnehmer hoher als unbelebte eingeordnet sind und unter den Belebten das Ich hoher als das Du und dieses hoher als dritte Personen. Die
direkte
Verbform (d. h. Diathese) besagt, dass die Handlungswirkung zwischen den Teilnehmern der Hierarchie entlang von oben nach unten verlauft (?Ich futtere das Kind“ oder ?Er zertrat einen Kafer“), die
inverse
Form besagt das die Handlungswirkung ?bergauf“ gegen die Hierarchie verlauft (?Du futterst mich“ oder ?Der Skorpion totete den Mann“). Anders als bei einer Passivierung wird die transitive Struktur also nicht reduziert.
Auch die Konstruktionen, die an Verben sogenannte ?Fokus“-Unterscheidungen markieren und die fur
austronesische Sprachen
charakteristisch sind, fallen in diese Kategorie. Hier tragt das Verb eine Markierung, welche semantische Rolle die hierarchisch hochste grammatische Funktion einnimmt (die als
Subjekt
oder
Topic
gesehen wird). Das Verb kann demnach ?Aktor-Fokus“ oder ?Patiens-Fokus“ markieren, oder periphere Teilnehmer fokussieren wie Instrument, Empfanger etc. (was oben als
?Nukleativ“
bezeichnet wurde). Die genaue Funktionsweise ist in verschiedenen Sprachen unterschiedlich; hier einige Beispiele aus dem Tagalog.
[54]
?Der Mann kaufte Fisch im Laden“
- a. mit Aktor-Fokus (AF) am Verb und Nominativ (
ang
= nom) am Aktor:
B
um
ili
ang lalake
ng isda sa tindahan.
kaufen-AF nom-Mann Fisch im Laden
- b. mit Patiens-Fokus (PF) am Verb und Nominativ am Patiens:
B
in
ili ng lalake
ang isda
sa tindahan.
kaufen-PF Mann nom-Fisch im Laden
- c. mit Lokativ-Fokus (LF) am Verb und Nominativ an der Ortsangabe:
Binilh
-an
ng lalake ng isda
ang tindahan.
kaufen-LF Mann Fisch nom-Laden
Die genaue Analyse dieses Systems gilt weiterhin als schwierig, Konsens ist heute aber, dass auch der ?Patiens-Fokus“ kein Passiv ist (im Gegensatz zu einigen alteren Analysen), denn alle Konstruktionen sind gleichermaßen transitiv und nur nach der globalen Ausrichtung des Satzes auf einen der Teilnehmer unterschieden.
[55]
- Martin Haspelmath, Thomas Muller-Bardey:
Valency change.
In: Geert Booij, Christian Lehmann, Joachim Mugdan, Stavros Skopeteas (Hrsg.):
Morphologie / Morphology. Ein internationales Handbuch zur Flexion und Wortbildung / An International Handbook on Inflection and Word-Formation. Band 2.
(=
HSK,
17-2). Walter de Gruyter, Berlin 2004,
ISBN 3-11-017278-X
, Kapitel 107 = S. 1130?1145.
- Guglielmo Inglese:
The journey of the middle voice: from antiquity to linguistic typology.
In:
Language & History.
Vol. 66-2 (2023), S. 201?222,
doi:10.1080/17597536.2023.2172791
.
- Leonid Kulikov:
Voice typology.
In: Jae Jung Song (ed.):
The Oxford Handbook of Linguistic Typology.
Oxford University Press 2011,
ISBN 978-0-19-928125-1
, S. 368?398.
- Masayoshi Shibatani:
Voice.
In: Gert Booij, Christian Lehmann, Joachim Mugdan, Stavros Skopeteas (Hrsg.):
Morphologie / Morphology. Ein internationales Handbuch zur Flexion und Wortbildung / An International Handbook on Inflection and Word-Formation. Band 2.
(=
HSK,
17-2). Walter de Gruyter, Berlin 2004,
ISBN 3-11-017278-X
, Kapitel 108 = S. 1145?1165.
- Petra Maria Vogel:
Genus Verbi
. In: Elke Hentschel, Petra Maria Vogel (Hrsg.):
Deutsche Morphologie.
(=
De Gruyter Lexikon
). Walter de Gruyter, Berlin 2009,
ISBN 978-3-11-018562-1
, S. 154?168.
- Fernando Zuniga, Seppo Kittila:
Grammatical Voice.
Cambridge University Press, Cambridge (UK) 2019,
ISBN 978-1-107-15924-2
,
doi:10.1017/9781316671399
.
- ↑
Duden. Die Grammatik
(=
Der Duden,
Band 4). 10. Auflage. Dudenverlag, Berlin 2022, e-
ISBN 978-3-411-91447-0
, S. 374 / Randnr. 602.
- ↑
Grammis.de / Grammatische Terminologie
, unter dem Titel ?Genus Verbi“, aber mit Gleichsetzung zur Bezeichnung ?Diathese“ (siehe am Ende der Seite). Abgerufen am 10. Marz 2024.
- ↑
Vgl. fur die Darstellung der Passivierung
Shibatani (2004)
, S. 1146.
- ↑
Michael Cysouw:
Encylopedia of German Diatheses.
Language Science Press, Berlin 2023, e-
ISBN 978-3-96110-407-9
. Aus der Formulierung auf S. 7 wurde hier ?remapping“ als ?Umverteilung“ ubersetzt: ?A diathesis is a clause alternation in which at least one of the lexical roles has a different form between the clausal alternants, i.e. at least one of the roles is remapped to a different grammatical expression.“
- ↑
Kulikov (2011)
, S. 370, Fußnote 2.
- ↑
Haspelmath & Muller-Bardey (2004)
, S. 1139.
- ↑
Inglese (2023)
, S. 203, Fußnote 3.
- ↑
Kulikov (2011)
, 369
- ↑
Shibatani (2004)
, S. 1146.
- ↑
Diathese und Voice so definiert auf S. 4.
- ↑
Nicht vertreten, aber erwahnt in
Kulikov (2011)
, S. 370, Fußnote 2.
- ↑
Haspelmath & Muller-Bardey (2004)
, S. 1140 li. Sp.
- ↑
So Dieter Wunderlich:
Diathesen.
In: Joachim Jacobs, Arnim von Stechow, Wolfgang Sternefeld, Theo Vennemann (Hrsg.):
Syntax
(=
HSK,
9). Band 1. De Gruyter, Berlin, 1993,
ISBN 3-11-009586-6
, S. 730?747. ? Auch ubernommen, allerdings mit Angabe von
voice
als englische Ubersetzung hierfur, in Philipp Stockle:
Diathese.
In: Stefan Schierholz, Pal Uzonyi (Hrsg.):
Grammatik: Syntax.
(=
Worterbucher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft (WSK),
1.2). Walter de Gruyter, Berlin 2022, e-
ISBN 978-3-11-069852-7
), S. 204.
- ↑
Dass Applikativ als Diathese in der Literatur umstritten sei, ist angedeutet in
Zuniga & Kittila (2019)
, S. 2, sowie in Michael Durr, Peter Schlobinski:
Deskriptive Linguistik. Grundlagen und Methoden.
Vandenhoeck & Ruprecht, Gottingen 2006,
ISBN 3-525-26518-2
, S. 138.
- ↑
So unterschieden bei: Christian Lehmann:
Valenz.
In: Susanne Anschutz (Hrsg.):
Texte, Satze, Worter und Moneme. Festschrift fur Klaus Heger zum 65. Geburtstag.
Orient-Verlag, Heidelberg 1992, S. 435?454.
Manuskriptversion Online
- ↑
Haspelmath & Muller-Bardey (2004)
, S. 1140: Diese Einteilung sei ?haufig“. Hier wird statt ?Diathese“ allerdings die Bezeichnung
voice
verwendet, gemeint sind jedenfalls Kategorien wie v. a. Passiv.
- ↑
Hans-Werner Eroms:
Syntax der deutschen Sprache.
Walter de Gruyter, Berlin 2000,
ISBN 3-11-015666-0
, S. 384ff.
- ↑
Zum Beispiel en passant in
Kulikov (20011)
, S. 368.
- ↑
Aus
Zuniga & Kittila (2019)
, S. 168f. ? Vgl. auch
Inglese (2023)
, S. 203 zum Aorist
- ↑
Zitiert in
Shibatani (2004)
, S. 1148.
- ↑
Zuniga & Kittila (2019)
, S. 170.
- ↑
Beispiel aus
Zuniga & Kittila (2019)
, S. 169.
- ↑
Zuniga & Kittila (2019)
, S. 170.
- ↑
Dies sei eine klassische Formulierung fur die Funktion des Mediums, laut
Inglese (2023)
, S. 205 unten.
- ↑
Karl Bayer, Josef Lindauer (bearb.):
Lateinische Grammatik.
C. C. Buchners Verlag, Bamberg 1977,
ISBN 3-7661-5635-7
, S. 83.
- ↑
Darstellung im Folgenden nach
Shibatani (2004)
, S. 1149f. und
Vogel (2009)
, S. 154f.
- ↑
Shibatani (2004)
, S. 1149 r. Sp.
- ↑
Die romischen Grammatiker unterschieden allerdings noch weitere Falle der Beziehung Form?Funktion und kamen auf bis zu funf
genera verbi.
Siehe die Tabelle in
Vogel (2009)
, S. 155.
- ↑
Zuniga & Kittila (2019)
, S. 175f.
- ↑
Zuniga & Kittila (2019)
, S. 171.
- ↑
Zuniga & Kittila (2019)
, S. 176, dort zitiert aus einer Arbeit von Gerdts & Hukari.
- ↑
Zuniga & Kittila (2019)
, S. 12.
- ↑
Zuniga & Kittila (2019)
, S. 82.
- ↑
Zuniga & Kittila (2019)
, S. 152.
- ↑
Zur Zusammenfassung dieser Typen in eine Kategorie:
Zuniga & Kittila (2019)
, S. 142.
- ↑
Zuniga & Kittila (2019)
, S. 247.
- ↑
Zuniga & Kittila (2019)
, S. 5.
- ↑
Ingrid Kaufmann:
Aktiv.
In: Stefan Schierholz, Pal Uzonyi (Hrsg.):
Grammatik: Formenlehre.
(=
Worterbucher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft
(WSK), 1.1). Walter de Gruyter, Berlin 2022, e-
ISBN 978-3-11-070591-1
, S. 162?165. Siehe S. 163 r. Sp.
- ↑
Zuniga & Kittila (2019)
, S. 12.
- ↑
Zuniga & Kittila (2019)
, S. 51.
- ↑
Zuniga & Kittila (2019)
, S. 41.
- ↑
Zuniga & Kittila (2019)
, S. 43.
- ↑
Zuniga & Kittila (2019)
, S. 55.
- ↑
Zuniga & Kittila (2019)
, S. 63 sowie S. 75.
- ↑
Zuniga & Kittila (2019)
, S. 59f.
- ↑
Zuniga & Kittila (2019)
, S. 77f., zur Vereinfachung mit Nominativsubjekt statt Topic, wie in den anderen Beispielen dort.
- ↑
Zuniga & Kittila (2019)
, S. 23.
- ↑
Zuniga & Kittila (2019)
, S. 46.
- ↑
Zuniga & Kittila (2019)
, S. 102.
- ↑
S. 153.
- ↑
Zuniga & Kittila (2019)
, S. 169.
- ↑
?Symmetrical voice alternation“ in
Zuniga & Kittila (2019)
, Kapitel 4.
- ↑
Allgemein hierzu: Guillaume Jacques, Anton Antonov:
Direct/Inverse Systems.
In:
Language and Linguistics Compass
2014 (Online), S. 1?17,
doi:10.1111/lnc3.12079
. Siehe besonders Abschnitt 2.2.
- ↑
Zuniga & Kittila (2019)
, S. 124, dort zitiert aus einer Arbeit von Kroeger (1993).
- ↑
Zuniga & Kittila (2019)
, S. 97f. sowie S. 126.