Der kleine Herr Friedemann

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Der kleine Herr Friedemann ist eine kurze Novelle von Thomas Mann . Erstmals publiziert wurde sie im Mai 1897 als Zeitschriftenbeitrag zur Neuen deutschen Rundschau . [1] In Buchform erschien sie ein Jahr spater in der gleichnamigen Novellensammlung [2] von 1898 in der Collection Fischer .

Erstausgabe (1898)

Die Novelle erzahlt in funfzehn knappen Kapiteln die Lebensgeschichte von Johannes Friedemann, der als Kleinkind vom Wickeltisch fiel und seitdem an einer korperlichen Missbildung leidet. ?Er war nicht schon […] mit seiner spitzen und hohen Brust, seinem weit ausladenden Rucken und seinen viel zu langen, mageren Armen“ und ?bot einen hochst seltsamen Anblick. Seine Hande und Fuße aber waren zartgeformt und schmal, und er hatte große rehbraune Augen, einen weichgeschnittenen Mund und feines lichtbraunes Haar. Obgleich sein Gesicht so jammerlich zwischen den Schultern saß, war es doch beinahe schon zu nennen.“

Seine Familie gehort zwar zu den ersten Kreisen der mittelgroßen Handelsstadt, ist aber seit dem fruhen und plotzlichen Tod des Vaters, eines niederlandischen Konsuls, nicht mehr vermogend. Seine Mutter behutet den kleinen Johannes mit ?wehmutiger Freundlichkeit“, und auch seine drei alteren Schwestern, die, ebenfalls ?ziemlich haßlich“, unverheiratete Jungfern bleiben, kummern sich liebevoll um ihren Bruder.

Als er sich mit sechzehn Jahren in die hubsche Schwester eines Schulfreunds verliebt und beobachten muss, wie diese einen anderen kusst, wurgt er seinen Schmerz hinunter und beschließt, sich ?niemals wieder um all dies zu bekummern. […] Er verzichtete, verzichtete auf immer. Er ging nach Hause und nahm ein Buch zur Hand oder spielte Violine, was er trotz seiner verwachsenen Brust erlernt hatte“.

Nach dem Tod seiner Mutter, dem zweiten großen Leid in seinem Leben, wird er vollends zum ?Epikureer“ . Dankbar fur die wenigen Freuden, die ihm zuganglich sind, weiß er auch die unerfullten Wunsche und Sehnsuchte zu genießen, denn er sagt sich, dass mit deren ?Erfullung das Beste vorbei sein“ werde. Da er erkennt, ?daß zur Genußfahigkeit Bildung gehort, ja daß Bildung immer Genußfahigkeit ist“, widmet er sich neben seinem Beruf verstarkt der Musik und Literatur und entwickelt eine große Leidenschaft fur das Theater. So erreicht er sein dreißigstes Jahr und erwartet den Rest seines Lebens ?mit Seelenfrieden“.

Doch dann wechselt die Bezirkskommandantur der Stadt und aus Berlin kommen der ?ganz außerordentlich vermogende“ Oberstleutnant von Rinnlingen und seine Frau Gerda, eine rothaarige [3] junge Dame, erst 24 Jahre alt und von herber Schonheit, die raucht und reitet und von ihrer neuen Umgebung als zu liberal und burschikos, ja als eiskalt empfunden wird. Johannes Friedemann jedoch ist schon bei ihrem ersten Anblick wie betaubt und empfindet sofort eine starke Zuneigung zu ihr. Glucklich registriert er bei seinem Anstandsbesuch, dass Gerda von Rinnlingen nicht nur den Wunsch außert, mit ihm zusammen zu musizieren, sondern auch eine geheime Wesensverwandtschaft andeutet, indem sie auf ihre eigene Kranklichkeit hinweist. [4]

Bei einem großen abendlichen Empfang im Hause von Rinnlingen, zu dem auch Friedemann geladen ist, fordert Gerda ihn auf, sie in den parkahnlichen Garten der prachtigen Villa zu begleiten. Auf einer Bank am Ufer des angrenzenden Flusses spricht sie ihn direkt auf sein korperliches Gebrechen an und entlockt ihm das Gestandnis, dass sein ganzes bisheriges Leben nur scheinbar glucklich und in Wahrheit ?Luge und Einbildung war“. Sie lobt seine ?Tapferkeit“ und bestatigt erneut ihre Seelenverwandtschaft, indem sie betont, auch sie ?verstehe sich ein wenig auf das Ungluck“. Da sinkt Johannes vor Gerda auf die Knie und offenbart ihr ungestum sein Liebesbedurfnis, das er auf Grund seiner Krankungen und Verletzungen in der Jugend lange zu verdrangen versuchte. Sie wehrt ihn nicht ab, beugt sich aber auch nicht zu ihm nieder, sondern blickt starr uber ihn hinweg ins Weite. Dann jedoch stoßt sie ihn plotzlich mit einem verachtlichen Lachen von sich und lasst ihn allein.

Johannes Friedemann fuhlt sich behandelt wie ein Hund ? und vernichtet. Er eilt die wenigen Schritte zum Flussufer und sturzt zu Boden: ?Auf dem Bauch schob er sich noch weiter vorwarts, erhob den Oberkorper und ließ ihn ins Wasser fallen. Er hob den Kopf nicht wieder; nicht einmal die Beine, die am Ufer lagen, bewegte er mehr.“ Die unbekummerte Natur in der mondhellen Nacht nimmt keinen Anteil an der Tragodie. Nur kurz unterbrechen die Grillen ihr Zirpen, dann setzen sie wieder ein und der Park rauscht leise wie zuvor. [5] Aus der Ferne klingt gedampftes Lachen.

Selbstkommentar Thomas Manns

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?Die Hauptgestalt ist ein von der Natur stiefmutterlich behandelter Mensch, der sich auf eine klug-sanfte, friedlich-philosophische Art mit seinem Schicksal abzufinden weiß und sein Leben ganz auf Ruhe, Kontemplation und Frieden abgestimmt hat. Die Erscheinung einer merkwurdig schonen und dabei kalten und grausamen Frau bedeutet den Einbruch der Leidenschaft in dieses behutete Leben, die den ganzen Bau umsturzt und den stillen Helden selbst vernichtet.“

? On Myself . Vortrag in zwei Teilen, gehalten am 2. und 3. Mai 1940 in der Princeton University.

Thomas Manns Motiv der ?Heimsuchung“

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Thomas Mann hat diesen Einbruch der Leidenschaft in ein behutetes Leben ?Heimsuchung“ genannt. Sie wird in Der Tod in Venedig wieder gestaltet. In den Josephsbanden ist es Potiphars Weib, das von einer zerstorerischen Liebe zu Joseph ( Joseph in Agypten ) heimgesucht wird. Spielerisch einmontiert ist das Motiv der Heimsuchung in Doktor Faustus . Es findet sich dort in der Binnenerzahlung der Frau Schweigestill (Kapitel XXIII) uber ein junges Madchen aus der gesellschaftlichen Oberschicht, das sich in einen schmucken Chauffeur verliebt hatte und von ihm geschwangert wurde ? vor dem Ersten Weltkrieg ein Verhangnis, das letztendlich zum Verloschen dieses jungen Lebens fuhrte.

Die Novelle wurde 1990 von Peter Vogel fur das Fernsehen verfilmt, mit Ulrich Muhe in der Hauptrolle.

  1. Neue deutsche Rundschau , Berlin, 8. Jahrgang, Heft 5 (1897).
  2. Thomas Mann, Der kleine Herr Friedemann . Berlin: S. Fischer Verlag (1898).
  3. Rote Haare bedeuten bei den Kunstfiguren Thomas Manns zumeist nichts Gutes. In Doktor Faustus ist der Teufel rothaarig. Die Todesboten in Der Tod in Venedig sind es auch.
  4. ?Auch ich bin viel krank, (…) aber niemand merkt es. Ich bin nervos und kenne die merkwurdigsten Zustande.“ Sie als morbide Schonheit und femme fatale zu begreifen, liegt nahe, zumal sie spater bekennt: ?Ich verstehe mich ein wenig auf das Ungluck (…).“
  5. Die Natur in ihrer moralischen Indifferenz war schon dem jungen Thomas Mann nicht geheuer. Gegen Ende seines Lebens, in Der Erwahlte (1951) lasst er den fiktiven Erzahler außern: ?Die Natur ist des Teufels, denn ihr Gleichmut ist bodenlos“.
  • Tobias Kurwinkel: Apollinisches Außenseitertum. Konfigurationen von Thomas Manns ?Grundmotiv“ in Erzahltexten und Filmadaptionen des Fruhwerks. Mit einem unveroffentlichten Brief von Golo Mann zur Entstehung der Filmadaption ?Der kleine Herr Friedemann“. Konigshausen & Neumann, Wurzburg 2012, ISBN 978-3-8260-4624-7