Anthropologie
(im 16. Jahrhundert als
anthropologia
gebildet
[1]
aus
altgriechisch
?νθρωπο?
anthr?pos
, deutsch
‚Mensch‘
, und
-logie
:
Menschenkunde, Lehre vom Menschen) ist die
Wissenschaft
vom
Menschen
. Sie wird im
deutschen Sprachraum
und in vielen europaischen Landern vor allem als
Naturwissenschaft
verstanden. Die
naturwissenschaftliche
oder
Physische Anthropologie
betrachtet den Menschen im Anschluss an die
Evolutionstheorie
von
Charles Darwin
als
biologisches Wesen
.
Dieser
naturalistischen
Betrachtung des Menschen, die sich beispielsweise mit der
Konstitution
(fruher auch mit der
Rassenlehre
und
Humangenetik
) und der
Abstammung des Menschen
befasst, stehen verschiedene andere Ansatze gegenuber, beispielsweise die
philosophische Anthropologie
. Hier wird der Mensch nicht nur als Objekt, sondern auch als Subjekt wissenschaftlich untersucht. Dabei geht es unter anderem um
qualitative
Eigenschaften wie die
Personalitat
, die
Entscheidungsfreiheit
und die Moglichkeit zur
Selbstbestimmung
. Im englischen Sprachraum wird auch die
Ethnologie
als
Kultur-
beziehungsweise
Sozialanthropologie
als Teil der Anthropologie verstanden und ist mit der physischen Anthropologie haufig auch in gemeinsamen Fakultaten oder Instituten vereinigt. In der deutschen Wissenschaftspolitik ist die Anthropologie als
Kleines Fach
eingestuft.
[2]
Die Bezeichnung
Anthropologie
geht zuruck auf den deutschen Philosophen, Arzt und Theologen
Magnus Hundt
(1449?1519), der das 1501 erschienene Werk ?Antropologium de hominis dignitate, natura, et proprietatibus, de elementis, partibus et membris humani corporis“ (
Anthropologie uber Wurde, Wesen und Eigenschaften des Menschen, uber die Elemente, Teile und Glieder des menschlichen Korpers
) schrieb.
[3]
Zu den ersten Dozenten fur das Fach gehorte der Anatom und Physiologe
Heinrich Palmatius Leveling
, der die Anthropologie 1799 an der Ingolstadter Universitat als Vorlesung anbot. Ein Lehrstuhl fur ?Allgemeine Naturgeschichte und Anthropologie“ wurde 1826 in Munchen eingerichtet.
Friedrich Nasse
gab von 1823 bis 1826 in Leipzig die aus der
Zeitschrift fur psychische Arzte
hervorgegangene
Zeitschrift fur die Anthropologie
heraus.
[4]
Auf den ersten eigenstandigen Lehrstuhl Deutschlands fur (physische) Anthropologie wurde am 1. August 1886
Johannes Ranke
berufen, dem 1917
[5]
der Schweizer
Rudolf Martin
(1864?1925) folgte, der 1918 Direktor des Anthropologischen Instituts und der Anthropologisch-Prahistorischen Staatssammlung wurde. Martin war 1900 zum Extraordinarius und 1905 zum Ordinarius fur Anthropologie an der Universitat Zurich ernannt worden.
[6]
Die biologische Anthropologie ist mit ihren Teilgebieten
Primatologie
,
Evolutionstheorie
,
Palaoanthropologie
,
Bevolkerungsbiologie
,
Industrieanthropologie
,
Genetik
,
Sportanthropologie
, Wachstum (
Auxologie
),
Konstitution
und
Forensik
ein Fachbereich der
Humanbiologie
. Ihr Ziel ist die Beschreibung, Ursachenanalyse und evolutionsbiologische Interpretation der Verschiedenheit biologischer Merkmale der
Hominiden
(
Familie
der
Primaten
, die fossile und
rezente
Menschen einschließt). Ihre Methoden sind sowohl beschreibend als auch analytisch.
Institutionen im deutschsprachigen Raum gibt es an Universitaten und an Museen in Tubingen, Kiel, Hamburg, Berlin, Gottingen, Jena, Gießen, Mainz, Ulm, Freiburg im Breisgau, Munchen, Zurich und Wien. Meist ist dort die Bezeichnung nur ?Anthropologie“, Zusatze wie ?biologisch“ wurden in jungerer Zeit notwendig, weil der konkurrierende US-amerikanische Begriff der
anthropology
auch hier bekannt ist.
Die
forensische
Anthropologie ist eine der drei gerichtlichen Wissenschaften vom Menschen, neben der
Rechtsmedizin
und der
forensischen Zahnmedizin
.
Gebiete der forensischen Anthropologie:
Die forensische Anthropologie dient mit den Mitteln der Anthropologie bei der Aufklarung von
Verbrechen
. Forensische Anthropologen haben vor allem mit der Identifikation von Bankraubern, Schnellfahrern etc. zu tun, aber auch haufig mit stark verwesten oder vollstandig skelettierten Leichen. Nicht selten sind sie die letzte Hoffnung zur Aufklarung eines Verbrechens. In Deutschland gibt es eine starke institutionelle Dominanz der Rechtsmedizin, aber gerade das verhindert manchmal den Zugang zu der eigenstandigen Kompetenz der Anthropologie.
Die Sozialanthropologie gilt als Wissenschaft der kulturellen und sozialen Vielfalt ? oder allgemeiner als ?Wissenschaft vom Menschen in der Gesellschaft“.
[7]
Sie analysiert die soziale Organisation des Menschen. Im deutschen Sprachraum war der Begriff ?Sozialanthropologie“ eine seit den 1960er Jahren gebrauchte Bezeichnung fur die britische
social anthropology
oder die franzosische
anthropologie sociale
, wurde dann aber zugunsten der Fachbezeichnung ?
Ethnosoziologie
“ aufgegeben (Fachbereich der
Ethnologie
). In den letzten Jahren ist jedoch eine Renaissance des Anthropologie-Begriffs zu beobachten, die einer durch
Transnationalisierungs-
und
Globalisierungs
prozesse veranderten Forschungslandschaft Rechnung tragen mochte.
Die Kulturanthropologie ist eine empirisch gestutzte Wissenschaft von der
Kultur
(im Sinne von ?menschliche Kultur“). Sie entwickelte sich im 20. Jahrhundert aus der
Volkskunde
, hat ihren Schwerpunkt im Gegensatz zu dieser aber in
interkulturellen
,
ethnologischen
und
soziologischen
Themen und Modellen. Unter den anthropologischen Fachrichtungen nimmt die Kulturanthropologie eine Mittelposition zwischen den biologisch und den philosophisch orientierten Richtungen ein; sie ist in ihrem Themenspektrum am weitesten gefasst.
Im deutschen Sprachraum hat sich bisher keine genauere Definition des Forschungsgegenstandes
durchgesetzt
. In den USA dagegen bezeichnet
cultural anthropology
die
Ethnologie
(Volkerkunde). Im Deutschen wird die ungenaue englische Bezeichnung
anthropology
teils falsch mit ?Anthropologie“ ubersetzt, wahrend eigentlich die Ethnologie gemeint ist.
Die Rechtsanthropologie bildet eine eigenstandige Unterform der Kulturanthropologie. Sie untersucht Inhalt und Funktionsweisen rechtlicher Strukturen des Menschen unterschiedlicher kultureller Traditionen von Stammen und Volkern (siehe auch
Rechtsethnologie
). Zudem bezeichnet dieser Begriff eine
rechtswissenschaftliche
Forschungsrichtung, die sich den naturalen Grundkonstanten von
Gesetzgebung
und
Rechtsprechung
verschrieben hat. Dabei beschaftigt sich die Rechtsanthropologie vorwiegend mit dem (westlich-demokratischen) ?Menschenbild der Verfassung“, das demgegenuber vom im Willen freien und eigenverantwortlich handelnden Menschen ausgeht. Dafur wahlt sie zumeist einen pragmatisch-dualen Ansatz. Der Begriff Kultur, gelegentlich auch der politischere Begriff der Zivilisation, beschreibt dann die sozial-reale Welt, in der der Mensch beide Sichtweisen vereint.
Die philosophische Anthropologie ist die Disziplin der Philosophie, die sich mit dem Wesen des Menschen befasst. Die moderne philosophische Anthropologie ist eine sehr junge philosophische Fachrichtung, die erst im fruhen 20. Jahrhundert als Reaktion auf den Verlust von Weltorientierung entstand. Mit Ausnahme von Rene Descartes, der bereits Mitte des 17. Jahrhunderts in seinen
Meditationen uber die erste Philosophie
(1641) gewisse Zweifel am mittelalterlich-christlichen Weltbild hegt und Position zu Verhaltnis von Korper und Seele bezieht. Er vermittelt ein neues philosophisches Gedankengut wie: ?Das Denken (=Bewusstsein ) ist es; es allein kann von mir nicht abgetrennt werden; ich bin; ich existiere - das ist gewiss […] Demnach bin ich genau genommen ein denkendes Ding, d. h. Geist bzw. Seele bzw. Verstand […]“
Historische Anthropologie bezeichnet einerseits die anthropologische Forschung in der
Geschichtswissenschaft
, andererseits eine transdisziplinare Forschungsrichtung, die die historische Veranderlichkeit von Grundphanomenen des menschlichen Daseins untersucht. Dabei bezieht sie die Geschichtlichkeit ihrer Blickrichtungen und methodischen Herangehensweisen sowie die Geschichtlichkeit ihres Gegenstandes, also das Erscheinungsbild des Menschen in den unterschiedenen Epochen, aufeinander.
[8]
Die theologische Anthropologie als Teilbereich der Systematischen Theologie deutet den Menschen aus christlich-theologischer Sicht. Dabei beschaftigt sie sich besonders mit dem Wesen des Menschen und der Bestimmung des Menschen vor Gott. Im Unterschied dazu untersucht die
Religionsethnologie
als Fachgebiet der
Ethnologie
(Volkerkunde) die
Religionen
bei den weltweit rund 1300
ethnischen Gruppen
und
indigenen Volkern
, in Abgrenzung zur
Religionssoziologie
vor allem bei (ehemals) schriftlosen Kulturen.
Die Industrieanthropologie ist ein Fachbereich der Anthropologie und untersucht die Gebrauchstauglichkeit und
Benutzerfreundlichkeit
von
Industrieprodukten
,
Bedienelementen
,
Software
,
Arbeitsplatzen
, Arbeitsprozessen oder Fahrstanden.
[9]
Die Medienanthropologie (auch Anthropologie der Medien oder Anthropologie des Medialen) ist ein junges,
interdisziplinares
Forschungsgebiet zwischen
Medienwissenschaft
und Anthropologie. In der Medienanthropologie werden die Produktion und Nutzung von Medien sowie deren Effekte zumeist mit kulturwissenschaftlichen und ethnografischen Methoden erforscht. Medienanthropologische Forschung wird zudem oft im Zusammenhang mit
Medienpadagogik
diskutiert. ?Medienanthropologisch verstanden sind Menschen Wesen, die sich in Medienpraktiken und -techniken artikulieren, wahrnehmen und wahrnehmbar machen, weil sie etwas darstellen und sich ihnen etwas darstellt.“
[10]
In den Sozialwissenschaften ist die Vorstellung weit verbreitet, dass der Mensch seinem Wesen nach in seinen Antrieben und Bedurfnissen unbestimmt ist, weshalb erst in
Vergesellschaftungsprozessen
eine Orientierung und Stabilisierung des Verhaltens und Antriebslebens entstehen kann. Dieses Menschenbild bildet die allgemeine anthropologische Voraussetzung fur die Analyse von sozialen Prozessen, so etwa bei
Karl Marx
,
Max Weber
,
George Herbert Mead
oder
Talcott Parsons
.
[11]
Daruber hinaus gibt es in den Sozialwissenschaften zwei klassische Menschenbilder, die als analytische und idealtypische
Modelle
fungieren: der
homo oeconomicus
der Wirtschaftswissenschaften und der
homo sociologicus
der Soziologie. Eine ?realistische“ Variante des individualistischen
homo oeconomicus
ist das
RREEMM-Modell
des Menschen, allerdings wird in der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung wegen Operationalisierungsproblemen auch weiterhin uberwiegend auf die einfacheren Modelle zuruckgegriffen.
Ausgehend von der Einbeziehung amerikanischer Sozialforscher in den Vietnamkrieg (
Project Camelot
)
[12]
wurde im Rahmen der
Critical Anthropology
ab 1970 eine ?reflexive Anthropologie“ entwickelt (Bob Scholte 1970).
[13]
Die Grundannahme der reflexiven Anthropologie besteht darin, dass sozialwissenschaftliche Aussagen nur dann einer Kritik standhalten, wenn sie die soziale und kulturelle Einbettung des Forschers und der Forschung mit bedenken (reflektieren). Gemaß dem Erkenntnisinteresse jeder Anthropologie (?erkenne dich selbst“:
gnothi seauton
) ist auf diesem Weg eine Unterscheidung moglich zwischen einer Sozialforschung als Informationsgewinnung uber andere Menschen (?Ausspahen“, vergleiche
Informationelle Selbstbestimmung
) oder als Beitrag zur
Selbsterkenntnis
des Forschers und seiner Auftraggeber. Bedeutende Ansatze zu einer reflexiven Anthropologie wurden von
Michel Foucault
und
Pierre Bourdieu
vorgelegt.
Das
Konzept der reflexiven Anthropologie
von
Gesa Lindemann
schließt sich im Gegensatz dazu an die historisch-reflexive Richtung innerhalb der deutschsprachigen ?
philosophischen Anthropologie
“ (
Helmuth Plessner
) an.
[14]
Allgemeine Aussagen der philosophischen Anthropologie werden nicht als sozialtheoretisches Fundament begriffen, sondern zum Gegenstand der Beobachtung gemacht. Bei diesem Ansatz geht es um die Bearbeitung der Frage, wie in Gesellschaften der Kreis sozialer Personen begrenzt wird und welche Funktion der Anthropologie in der Moderne zukommt.
In dem verwendeten Schema kann die
Psychologie
des Menschen nicht gut untergebracht werden, denn die Psychologie vereint geisteswissenschaftliche, biologische, verhaltens- und sozialwissenschaftliche Konzepte und Methoden. Als Wissenschaft vom Erleben und Verhalten des Menschen einschließlich der biologischen bzw. neurowissenschaftlichen Grundlagen ist die Psychologie von vornherein interdisziplinar ausgerichtet. Wegen dieses umfassenden Blicks auf den Menschen kann die empirische Psychologie in ein besonderes Spannungsverhaltnis zur Philosophischen Anthropologie geraten, die ebenfalls einen umfassenden theoretischen Ansatz hat, jedoch die empirischen Humanwissenschaften kaum noch zu integrieren vermag. Wichtige Themen der Psychologischen Anthropologie sind u. a. das
Menschenbild
, die
Personlichkeitstheorien
, die Grundlagen von Motiven, Emotionen in der
Neurobiologie
und
Psychophysiologie
, die Beitrage der
Kognitionswissenschaft
,
Sozialpsychologie
und
Kulturpsychologie
, alle Bereiche der
Angewandten Psychologie
und so weiter.
Auch
Psychoanalyse
und
Psychosomatik
galten als anthropologische Disziplinen.
[15]
Beispielhaft fur die Forschung auf dem Gebiet der
Evolutionaren Anthropologie
sind der Themenschwerpunkte, die das gleichnamige Max-Planck-Institut wie folgt beschreibt: ?Das
Max-Planck-Institut fur evolutionare Anthropologie
erforscht die Geschichte der Menschheit mittels vergleichender Analysen von Genen, Kulturen, kognitiven Fahigkeiten, Sprachen und sozialen Systemen vergangener und gegenwartiger menschlicher Populationen sowie Gruppen dem Menschen nahe verwandter
Primaten
. Die Zusammenfuhrung dieser Forschungsgebiete fuhrt zu neuen Einsichten in die Geschichte, die Vielfalt und die Fahigkeiten der menschlichen Spezies. Das Institut vereint Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen, die sich von einem interdisziplinaren Ansatz her mit der Evolution des Menschen beschaftigen.“
[16]
.
Buchveroffentlichungen aus dem Gebiet der
Evolutionaren Anthropologie
stammen beispielsweise von
Michael Tomasello
(?Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral“, ?Mensch werden. Eine Theorie der Ontogenese“) und von
Richard Wrangham
(?Feuer fangen: Wie uns das Kochen zum Menschen machte“, ?Die Zahmung des Menschen: Warum Gewalt uns friedlicher gemacht hat“).
Die padagogische Anthropologie ist der Teilbereich der
Padagogik
, der sich mit dem Ertrag anthropologischer Fragen, den Zugangsweisen und den Ergebnissen innerhalb der Padagogik befasst. Grob lassen sich hier zwei Richtungen unterscheiden
[17]
: Die
Realanthropologie
widmet sich der empirischen Betrachtung der Wirklichkeit des Menschen unter dem Fokus, der sich aus der Padagogik ergibt. Die
Sinnanthropologie
fragt nach dem Sinn und den Zielen menschlichen Handelns, die in den padagogischen Kontext eingearbeitet werden. Die Sinnanthropologie weist so besondere Bezuge zur
Bildungstheorie
auf, indem sie aus einem je spezifischen Menschenbild Bildungsanspruche ableitet. Sie weist innerhalb der verschiedenen Anthropologien eine besondere Nahe zur philosophischen und theologischen Anthropologie auf. Die Realanthropologie steht besonders der biologischen, daneben auch der philosophischen Anthropologie nahe.
Die Einteilung setzte sich in den 1960er Jahren fort in der Unterscheidung zwischen integrativen und philosophischen Ansatzen. Die ?integrativen“ Ansatze versuchen vor allem, anthropologische Erkenntnisse verschiedener Teildisziplinen (insbesondere der
Biologie
, der
Soziobiologie
und so weiter) fur padagogische Fragen nutzbar zu machen. Vertreter dieses Ansatzes sind unter anderem
Heinrich Roth
und
Annette Scheunpflug
. Der ?philosophische“ Ansatz hat sich in verschiedenen Richtungen ausdifferenziert. So besteht
Otto Friedrich Bollnows
Ansatz darin, anthropologische Fragen (beispielsweise nach dem Wesen des Menschen und seiner Bestimmung) fur padagogische Zusammenhange nutzbar zu machen. Ahnlich wie andere Autoren orientierte er sich in seinen Arbeiten aber auch an der
Phanomenologie
. Er versuchte also nicht, aus der
Philosophie
(oder etwa der Biologie) ein Menschenbild zu gewinnen und es padagogisch auszuwerten, sondern widmete sich dem padagogischen Handeln und darin auftretenden
Phanomenen
wie Krise oder Begegnung unmittelbar, um sie als Bestimmungsgroßen des Menschen zu reflektieren. Der Mensch kommt bei diesen Untersuchungen im Hinblick auf Erziehung in drei Rollen vor: als Erziehender, als Zogling und als Erzieher.
[18]
In der neueren padagogischen Anthropologie wird zum einen der integrative Ansatz fortgefuhrt (beispielsweise auch in der Betrachtung neuerer humanmedizinischer Ergebnisse fur Padagogik). Die philosophische Anthropologie wird heute verstarkt als historische padagogische Anthropologie fortgesetzt, indem reflektiert wird, dass anthropologische Kenntnisse sowohl auf bestimmte Menschen in bestimmten Epochen bezogen als auch aus einer je spezifischen historischen Position heraus gewonnen werden und deshalb keine uberzeitlich allgemeine Gultigkeit beanspruchen konnen.
[19]
Kybernetische Anthropologie bezeichnet den Versuch der begrifflichen Kopplung von Anthropologie und
Kybernetik
mit dem Vorhaben, den Gegensatz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu uberwinden. Die Cyberanthropologie ist ein neueres Fachgebiet der
Ethnologie
(Volkerkunde) oder
Sozialanthropologie
und untersucht
transnational
zusammengesetzte
Online-Gemeinschaften
unter Berucksichtigung kybernetischer Perspektiven.
Die im 16. Jahrhundert aufgekommene medizinische Anthropologie beschaftigt sich mit der Wechselwirkung von Kultur und Medizin.
[20]
[21]
Manchmal wird ?Anthropologie“ als Oberbegriff fur mehrere der oben genannten Einzel- und
Humanwissenschaften
aufgefasst. Insbesondere in den USA gibt es dementsprechende Bestrebungen, biologische Anthropologie,
Kulturanthropologie
,
Ethnolinguistik
und
Archaologie
unter einem Dach zu vereinen (sog. ?Vier-Felder-Anthropologie“). Diese weit verbreitete Auffassung leitet sich von dem Tatbestand her, dass Anthropologie ? im Gegensatz und oft in Konkurrenz zur
Theologie
? Selbsterkenntnis des Menschen als Mensch ist, gemaß der delphischen Maxime
Gnothi seauton
, ?erkenne dich selbst“.
In diesem Sinne geben
Detlev Ganten
,
Volker Gerhardt
, Jan-Christoph Heilinger und
Julian Nida-Rumelin
die umfangreiche Buchreihe "Interdisziplinare Anthropologie" mit derzeit 19 Banden heraus.
[22]
Die
Systematische Anthropologie
, ein 1977 veroffentlichtes Werk der deutschen
Ethnologen
Wolfgang Rudolph
und
Peter Tschohl
, bringt anthropologisch grundlegende Erkenntnisse in einen integrierten Zusammenhang. Mit Hilfe eines eigenen Begriffssystems wird ein gesamtanthropologisches Modell entwickelt, das die Grenzen und Uberschneidungen von Disziplinen wie Ethnologie, Biologie, Humangenetik, Psychologie, Soziologie, Philosophie, Geschichte theoretisch auflost (vergl. zu diesem Ansatz:
Interdisziplinaritat
). ?Ziel der Untersuchung ist eine wissenschaftliche Theorie, die dasjenige abdeckt, was systematisch sinnvoll zu einem ?Mensch“ genannten Untersuchungsgegenstand gerechnet werden kann, und die damit nicht von einer einzelnen Fachrichtung beherrscht wird.“
[23]
Die Untersuchung erschließt ausgehend von allgemeinen Bedingungen der Gesamtwirklichkeit die besonderen Bedingungen des biotischen und humanen Bereichs. Dafur wurde eine global orientierte Auswahl an Studien ausgewertet und die daraus entwickelte interdisziplinare Systematik theoretisch konsequent ausformuliert. So lautet ein zentrales Untersuchungsergebnis in Kurzform: ?Anthropologie ist zu explizieren als Theorie der Klassenexistenz ?Menschliche Existenz‘ ME. Sie hat damit den vorverstandlichen Gegenstandsbereich Mensch als Existenzklasse M aufzufassen und systematisch darzulegen.“
[24]
Gegenstand ist die menschliche Existenz als empirisch beschreibbare Tatsache.
Die Theorie transportierte einen damals fortschrittlichen, humanen und weit gefassten Kulturbegriff. Wegen technokratisch anmutender Formulierung wurde sie aber nur in der ethnologisch und soziologisch orientierten Fachwelt rezipiert. Gerust und Inhalt der Theorie mussten heute aktualisiert werden, bieten jedoch ?eine Basis fur Einzeluntersuchungen von beliebigen Ausschnitten des Gegenstandsbereichs Mensch“.
[25]
Die praktische Relevanz und damit die Rezeption der "systematischen Anthropologie" von Rudolph und Tschohl waren bereits bei Erscheinen des Werks 1977 außerst begrenzt. Kritiker wiesen darauf hin, dass die positivistische Begriffssystematik vollig abgehoben von den aktuellen Diskussionen in den Sozialwissenschaften entwickelt worden war. Ihr theoretischer Wert lag in der Einubung einer hierarchisch vernetzten
Nomenklatur
, die zwar als Ausgangspunkt fur empirische Untersuchungen hatte dienen konnen, wenn sie allgemeine Akzeptanz gefunden hatte, aber uber die Wirklichkeit menschlicher Lebensverhaltnisse nicht viel mehr aussagte als ein systematisch geordneter Katalog der europaischen wissenschaftlichen
Terminologie
in den Humanwissenschaften. Ungeklart blieb auch die Frage, wie die Begriffssystematik von Rudolph und Tschohl in andere Sprach- und Kultursysteme hatte ubertragen werden konnen. Fruchtbarere Ansatze wie das
Konzept der reflexiven Anthropologie
(vergl. dazu
Pierre Bourdieu
) und
Ethnomethodologie
wurden dagegen aus dem anthropologischen Lehrbetrieb verdrangt.
Die
Basis-Theorie der Anthropologie
[26]
ist ebenfalls Orientierungswissen, das Zusammenhange zwischen den Disziplinen und Schulen der Humanwissenschaften aufzeigt. Ein Bezugsrahmen ergibt aus den vier Grundfragen der biologischen Forschung (nach
Nikolaas Tinbergen
): Verursachungen (= Ursache-Wirkungs-Beziehungen bei den Funktionsablaufen),
Ontogenese
,
Anpassungswert
,
Phylogenese
. Diese vier Aspekte sind jeweils auf verschiedenen Bezugsebenen zu berucksichtigen (vergleiche
Nicolai Hartmann
), beispielsweise
Zelle
,
Organ
,
Individuum
,
Gruppe
:
|
1. Verursachungen
|
2. Ontogenese
|
3. Anpassungswert
|
4. Phylogenese
|
a.
Molekul
|
|
|
|
|
b.
Zelle
|
|
|
|
|
c.
Organ
|
|
|
|
|
d.
Individuum
|
|
|
|
|
e.
Familie
|
|
|
|
|
f.
Gruppe
|
|
|
|
|
g.
Gesellschaft
|
|
|
|
|
Dem tabellarischen Orientierungsrahmen aus Grundfragen und Bezugsebenen lassen sich alle anthropologischen Fragestellungen (siehe PDF-Ubersichtstabelle, Absatz A
[27]
), ihre Ergebnisse (siehe Tabelle, Absatz B) und Spezialgebiete zuordnen (siehe Tabelle, Absatz C); er ist Grundlage fur eine Strukturierung der Ergebnisse. Mit Hilfe der Basistheorie kann die anthropologische Forschung in Theorie und Empirie vorangetrieben und fundiertes sowie spekulatives Wissen besser auseinandergehalten werden (betrifft z. B. den Schulenstreit in der
Psychotherapie
).
- Allgemein
- Detlev Ganten
,
Volker Gerhardt
, Jan-Christoph Heilinger,
Julian Nida-Rumelin
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Band 5:
Psychologische Anthropologie.
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(nicht mehr online verfugbar) am
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abgerufen am 9. Oktober 2019
(Ubersichtstabelle).