Belcanto

aus Wikipedia, der freien Enzyklopadie
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Belcanto (von italienisch bel canto ?schoner Gesang“) bezeichnet in der Musik eine Gesangstechnik , eine Asthetik und einen Gesangsstil, der in Italien Ende des 16. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Monodie und der Oper entstand. Wichtige Elemente des Belcanto sind Weichheit des Tons, ausgeglichene Stimmregister uber den gesamten Umfang der Stimme, das Legato , das Messa di voce , die Appoggiaturen und Portamenti sowie die Agilitat der Stimme und in Folge die Ausschmuckung des Gesangs durch Koloraturen , Fiorituren und Triller . Entscheidende Grundlage dafur sind eine gute Atemtechnik ? der canto sul fiato ? und die technisch korrekte Projektion der Stimme in den Raum. [1]

Bis etwa 1840 war der Belcanto bestimmend fur den Gesang vor allem in der italienischen Musik und in der Oper. Grundsatzlich wurden Asthetik und Technik des Belcanto auch in anderen europaischen Landern ? wie vor allem in Deutschland ? ubernommen, doch waren die Standards meistens nicht so hoch wie in Italien. In Frankreich lehnte man italienischen Gesang (und Kastratensanger ) seit der Entstehung der franzosischen Oper unter Lully um 1670 bis zum fruhen 19. Jahrhundert ab. [2]

?Die Kunst, die geringsten Gradationen auszudrucken, den Ton aufs feinste abzutheilen, unmerkliche Verschiedenheiten fuhlbar zu machen, die Stimme aneinander zu hangen, sie abzusetzen, zu verstarken, und zu vermindern; die Geschwindigkeit, das Feuer, die Starke, die unerwarteten Ausgange, die Mannigfaltigkeit in den Modulationen, die Geschicklichkeit in den Appoggiaturen, Passagen, Trillern, Cadenzen…; der feine, kunstliche, [3] gesuchte, polierte Styl, der Ausdruck der sanftesten Leidenschaften, bisweilen bis auf den hochsten Grad von Wahrheit gebracht; sind daher lauter Wunder des italienischen Himmels, die von wenigen noch lebenden Sangern vortrefflich in Ausubung gebracht werden.“

? Stefano Arteaga : in Johann Nikolaus Forkel , Stephan Arteagas Geschichte der italienischen Oper , 1783. [4]

Der Begriff ?Belcanto“ an sich stammt erst aus dem 19. Jahrhundert und wurde zu dieser Zeit entweder nostalgisch verwendet in Erinnerung an bessere, fruhere Zeiten mit hoheren Gesangsstandards und großerer Gesangskunst oder polemisch -abwertend [5] z. B. von Verfechtern der romantischen oder veristischen Oper (im Sinne von Verdi , Puccini u. a.) oder eines anderen Nationalstils (insbesondere eines deutschen Musikdramas mit schlichterem oder rein dramatischem Gesang).

Der Begriff Belcanto wird auch als Sammelbegriff fur die Opernkomposition von etwa 1810 bis 1845 in Italien verwendet. Die wichtigsten Vertreter dieser Schule waren Gioachino Rossini , Vincenzo Bellini und Gaetano Donizetti , obwohl die beiden letzteren bereits begannen, eine Dramatik zu fordern, die den eigentlichen Prinzipien des Belcanto widersprechen. [6] Mit den Opern von Giuseppe Verdi und noch mehr des Verismo ( Puccini , Mascagni , Leoncavallo u. a.) wurde der Belcanto vollig verdrangt, weil Dramatik und Lautstarke noch mehr anstiegen und die Sanger sich auch gegen einen vergroßerten Orchesterapparat durchzusetzen hatten.

Jurgen Kesting definiert Belcanto als ?[Gesangs]stil, der einer bestimmten Technik bedarf, um sich zu verwirklichen, oder auch als Technik fur einen Stil“. [7] Der Begriff ?Belcanto“ wird oft auf Sanger angewendet, die lediglich uber eine schone Stimme und eine klassische Gesangstechnik verfugen, ohne dass sie Werke der Belcanto-Epoche oder im Belcanto-Stil singen (oder singen konnten).

Als Hochblute des verzierten Gesanges (Canto fiorito ) gilt die Zeit vom 17. Jahrhundert bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts. Schon in der Polyphonie der Renaissance wurde ein sußer, lieblicher und eleganter Gesang gefordert (?Ars suaviter et eleganter cantandi“), wobei man unter ?elegant“ die Fahigkeit eines Sangers verstand, lange Noten, z. B. in Kadenzen, zu umspielen und auszuzieren. [8] Fruhe Belege fur einen hochvirtuosen Sologesang in Italien finden sich bereits im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts in den Solo- Madrigalen und Ensembles, die z. B. Luzzasco Luzzaschi fur das beruhmte Concerto delle donne am Hofe von Ferrara komponierte, ein Terzett von drei Sangerinnen, die sich selber auf Harfe , Theorbe , Lira und Cembalo begleiteten; und ebenso in den Intermedi zu Bargaglis Komodie La pellegrina , die Ende 1589 als Hohepunkt der prachtigen Hochzeitsfeierlichkeiten von Ferdinando de’ Medici mit Christine de Lorraine in Florenz aufgefuhrt wurden. Aus dieser Partitur stechen als belcantistisch besonders die einleitende Solonummer ?Dalle piu alte sfere“ fur die beruhmte Sangerin Vittoria Archilei (von Antonio Archilei?) [9] und das ?Godi turba mortal“ von Cavalieri im letzten Intermedio heraus; dieses wurde von einem der zahlreich mitwirkenden Kastratensanger (italienisch: Evirati ) in der Rolle des Jupiter gesungen. [10]

Bereits zu dieser Zeit spielten improvisierte Verzierungen und Umspielungen (Diminutionen) eine große Rolle. Als Marksteine des Belcanto konnen Giulio Caccinis Publikationen Le nuove Musiche (Florenz 1601) und Le nuove musiche e nuova maniera di scriverle (Florenz 1614) gelten. [11] Diese waren allerdings als Vorlage fur einen weniger ornamentierten Gesang gedacht, da viele Sanger beim Improvisieren von Verzierungen bereits ubertrieben. Hieraus wird deutlich, dass es beim Ideal des historischen canto di garbo (anmutiger Gesang) [12] nicht nur um moglichst viele Verzierungen oder pure Demonstration von Virtuositat geht, sondern zwar einerseits um moglichst große Eleganz und Schonheit und andererseits um einen moglichst ausdrucksvollen Einsatz der Stimme. Hierzu gehoren neben ?vielfaltigen Farben und Farbschattierungen“ und einer ?hingebungsvollen Ekstase des Lyrismus“ [13] auch eine Ornamentik, die entsprechend der Stimmungslage einer Arie oder bestimmter Worte eingesetzt wird und den Ausdrucksgehalt erhohen und vertiefen soll. Die Ornamente mussen also bei traurigen, pathetischen oder bei schwarmerischen Liebesarien zwangslaufig anders ausfallen als beim Ausdruck von Wut, Rache oder Freude.

Der Belcanto spielte von vornherein fur die Geschichte der Oper eine entscheidende Rolle, wo nicht nur ein rezitativisches Singen, sondern auch ein verzierter Gesang eingesetzt wurde. Beruhmtes Beispiel ist die Klage des Protagonisten in Monteverdis Oper L’Orfeo (1607), fur die der Komponist sowohl eine schlichte als auch eine beispielhaft verzierte Version lieferte. Die schlichte Version war allerdings weniger als Alternative zur verzierten gedacht, sondern als Ausgangspunkt fur eigene Fiorituren begabter Sanger.

Monteverdi und andere Zeitgenossen hinterließen in ihren Briefen zahlreiche Beschreibungen von Stimmen, aus denen hervorgeht, dass es bereits zu dieser Zeit ?große“ Stimmen gab, die geeignet waren, große Raume wie Kirchen und Theater zu fullen, und keineswegs nur schmale, schlanke Stimmen, die eher fur die Kammer geeignet sind (und die im 20. Jahrhundert in der Alten Musik-Szene in dieser Art von Repertoire besonders beliebt waren). Zu solchen großen Stimmen, die eine perfekte Technik der Projektion besessen haben mussen ? neben allen ubrigen Kunsten des Belcanto ?, gehorten z. B. auch die beiden Sangerinnen Adriana Basile [14] und Leonora Baroni , [15] obwohl diese nicht in der Oper, sondern ausschließlich in Konzerten auftraten (sie lebten meistens in Rom, wo Frauen in der Oper verboten waren).

Die Asthetik des Belcanto durchdrang jedoch die gesamte italienische Musik, nicht nur die Oper. Als Idealtyp des Belcantosangers galten die Kastraten , deren technische und stimmliche Fahigkeiten bis in unsere Tage legendar geblieben sind. Sie waren ursprunglich vor allem im kirchlichen Bereich tatig, wo ihr uberirdisch schoner Gesang den Gesang der Engel evozierte. Auch im Bereich der Kirchenmusik lieferte Monteverdi bedeutende Beispiele, z. B. in seiner Marienvesper (1610), wo es neben den Sopranen auch hochvirtuose Tenorpartien gibt. In Allegris Miserere waren die improvisierten Ornamente der Kastraten der Sixtinischen Kapelle , die direkt vom Himmel herabzuklingen schienen, das Entzucken der Zuhorer vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Ein beruhmtes Beispiel von Belcanto in der Kirche ist auch Mozarts Motette Exsultate, jubilate (1773) fur den Sopranisten Venanzio Rauzzini .

Die Kastraten mit ihrem scheinbar engelhaften Gesang traten im 17. Jahrhundert immer mehr auch in der Oper auf und verstarkten auch dort das Element des ?Wunderbaren“, das ohnehin bereits eine große Rolle in der barocken Oper spielte. [16] Sie verdrangten gemeinsam mit den Frauenstimmen nach und nach die tiefen Stimmlagen, besonders die Tenorstimme, die zwischen ca. 1650 bis 1770 kaum verwendet wurde, jedenfalls im Sologesang. Rodolfo Celletti spricht in diesem Zusammenhang von einer Ablehnung ?vulgarer“ (= gewohnlicher) Stimmen, zu denen er vor allem den baritonalen Tenor und bis zu einem gewissen Grade auch den Bass zahlt. [17]

Die Stimmen von Falsett isten (heute oft Countertenor genannt), die in Mittelalter und Renaissance in der Kirchenmusik verwendet wurden, entsprachen im Gegensatz zu Kastraten- (und Frauen-)stimmen, die man als voci naturali (naturliche Stimmen) bezeichnete, nicht den Maßstaben des barocken Belcanto, galten als unnaturlich [18] und wurden nicht in der Oper eingesetzt (im Gegensatz zu heute). [19] [20]

Wahrend die Gesangstechnik in Bezug auf Agilitat und Koloraturfahigkeit bereits vor 1600 voll entwickelt war, wurde der Umfang der Stimmen nach und nach ausgedehnt. Dabei waren vermutlich die Kastraten richtungweisend, [21] die auch haufig als Gesangspadagogen wirkten (wie Pistocchi , Tosi u. v. a.) und ihr Wissen und Konnen so an andere Sanger und Sangerinnen weitergaben. Obwohl in der notierten Musik noch bis ins 18. Jahrhundert z. B. im Sopran ein Umfang bis zum g’’ die Norm war, begegnen schon Mitte des 17. Jahrhunderts auch Partien, die bis a’’ oder sogar bis c’’’ hinaufsteigen. Wahrend man im Spatbarock, zur Zeit Handels, noch viele Alt- oder Mezzosopranstimmen findet und es als Vorteil galt, wenn ein Kastratensanger oder eine Primadonna ihre Stimme nach unten erweitern konnten, [22] [23] hatte man in der zweiten Halfte des 18. Jahrhunderts eine besondere Vorliebe fur moglichst hohe Stimmen, die dann auch oft bis uber das c’’’ gefuhrt wurden. [24] Beruhmteste Beispiele sind Mozarts Partie der Konigin der Nacht ( Die Zauberflote ) , die mehrmals bis zum gleißenden f’’’ hinaufsteigen muss, oder einige Arien, die er fur Aloysia Weber komponierte und die sogar ein hohes g’’’ verlangen (z. B. ?Alcandro lo confesso“ KV 294 & 295 (1778), ?Vorrei spiegarvi, oh Dio!“ KV 418 und ?No, che non sei capace“ KV 419 (1783)). [25]

?Denn ich liebe daß die aria einem sanger so accurat angemessen sey, wie ein gutgemachts kleid.“

? Wolfgang Amadeus Mozart : in einem Brief vom 28. Februar 1778 [26]

Diese beruhmte Bemerkung Mozarts spiegelt ein allgemein herrschendes Prinzip des Belcanto: Arien und Opernpartien wurden einem Sanger oder einer Sangerin auf den Leib geschrieben, dabei wurden im besten Falle alle Vorteile und Fahigkeiten des Sangers ins beste Licht geruckt, Nachteile moglichst vermieden, verborgen oder verschleiert. Wenn ein Sanger eine bereits bestehende Partie sang, die fur jemand anderen geschrieben worden war, der z. B. einen etwas anderen Umfang hatte, so war es mithilfe der ohnehin ublichen Improvisation ein Leichtes, einfach einige Stellen nach oben oder nach unten zu verlegen. Das vielleicht bekannteste Beispiel dafur ist Rossinis Partie der Rosina aus dem Barbier von Sevilla und daraus ganz besonders die beliebte Arie ?Una voce poco fa“, die im Original fur einen Mezzosopran komponiert wurde, aber im 20. Jahrhundert fast nur noch von hohen Koloratursopranen mit entsprechenden Zusatzornamenten in der Hohe gesungen wurde.

Umgekehrt ware es auf keinen Fall erwunscht gewesen, dass sich beispielsweise ein tiefer Mezzosopran standig hohe Noten abringt, die eigentlich fur eine hohere Stimme gedacht waren, weil dies zu einem angespannten Gesang fuhrt, der dem Belcanto-Prinzip einer weichen Tongebung und schonen Stimme widerspricht, [27] und weil damit außerdem fruhzeitige Stimmschaden drohen. Im Zweifelsfalle wurden Komponisten gebeten, eine ganz neue Arie zu schreiben, die besser auf die Stimme des neuen Interpreten passte, daher hinterließen Mozart und seine Kollegen zahlreiche Einlegearien auch fur Werke anderer Komponisten. [28] Und von Handel wurden ganze Opern fur eine neue Produktion mit anderen Sangern umgearbeitet. Einige Sanger hatten auch eine sogenannte aria di baule (= Kofferarie), d. h. eine Lieblingsarie, die sie besonders gut beherrschten und immer dabei hatten, und die sie im Extremfall in jeder Oper singen wollten; z. B. war die aria di baule des beruhmten Sopranisten Luigi Marchesi ?Mia speranza pur vorrei“ von Sarti . [29]

Zu verschiedenen Arienformen des Belcanto siehe: Arie#Geschichte und Formen

Letzter Hohepunkt und Ende des Belcanto

[ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Mit dem Verschwinden der Kastraten von den Opernbuhnen schon ab Ende des 18. Jahrhunderts ging nach 1810 eine Entwicklung der Oper einher, in der ein großerer Realismus und die Dramatik der nun oft tragisch-todlichen Handlung im Vordergrund stand. [30] Vorbild dafur war die franzosische Oper, die von Anfang an (schon bei Jean-Baptiste Lully ) den Kastratengesang ablehnte und vor allem eine tragodienhafte Deklamation forderte und der man von belcantistischer, italienischer Seite schon im 17. und 18. Jahrhundert vorwarf, dass die Sanger schreien wurden; dazu kam jedoch um 1800 insbesondere die sogenannte Revolutions- oder Schreckensoper nach Luigi Cherubini , die mit ihrer Dramatik einen starken Einfluss auf Beethoven , aber nach und nach auch auf die italienische Musik nach 1810 hatte.

Einen letzten Hohepunkt erlebte der Belcanto mit Gioachino Rossini und allen seinen italienischen Zeitgenossen in den 1810er und 1820er Jahren, die eine betont virtuose Musik voller Koloraturen schrieben. Auf der anderen Seite sind fur den romantischen Belcanto des fruhen 19. Jahrhunderts aber auch besonders weiche und anmutige Melodien von einer großen Suße ( dolcezza ) kennzeichnend, die unter anderem durch eine raffinierte Verwendung von Vorhalten erreicht wird und auch durch eine manchmal terzen - und sexten -?selige“ Begleitung (besonders in Duetten) und durch eine ?suße“ Instrumentation , die viel mit Soloinstrumenten (wie Floten) arbeitet. Der großte Meister solcher Arien war Vincenzo Bellini , der es verstand, seine Melodien besonders lang und ausdrucksvoll auszuformen.

Bezuglich der Instrumentation wurde den italienischen Komponisten wie Rossini, Bellini und Donizetti oft vorgeworfen, dass sie das Orchester nur ?wie eine große Harfe“ einsetzen wurden (z. B. von Wagner). In Wirklichkeit wurde der Orchesterklang schon vor und erst recht mit Rossini und durch einen gewissen Einfluss deutscher und franzosischer Komponisten, wie z. B. Giovanni Simone Mayr , durch Blaser angereichert und dadurch gewichtiger und lauter. Dies betrifft besonders den Einsatz von Blechblasern und Schlagwerk wie Trommeln , Becken und Pauke bei dramatischen Hohepunkten. Rossinis Instrumentalpartien sind außerdem oft von großer Virtuositat, besonders die Holzblaser . Trotzdem behielt man in Italien einen ?Primat der Stimme“ bei und bemuhte sich daher, die Stimmen nicht zu uberdecken. Daher schrieb man in Solonummern und Rezitativen eine moglichst durchsichtige Orchesterbegleitung, die eine relativ große Textverstandlichkeit garantiert und einen sublimen Gesang auch mit feinsten Nuancen, Schattierungen und pianissimo -Kultur nach den traditionellen Schonheitsidealen des Belcanto ermoglicht. Dies gilt auch noch fur den fruhen Verdi bis ca. 1855.

Ab 1830 musste der immer mehr als manieriert-artifiziell empfundene Canto fiorito nach und nach einem ?naturlicheren“, ?realistischeren“ Gesangsstil weichen, [31] dabei wurden auch die Improvisationsmoglichkeiten der Sanger immer mehr eingeschrankt. Dies betrifft schon bei Bellini und noch mehr bei Donizetti vor allem die Partien der Mannerstimmen, also Tenor- und Basslagen. [32] Frauenrollen wurden in einer Ubergangsphase noch bis in die 1850er Jahre mit Koloraturen versehen. [33] Dies fuhrte jedoch in Kombination mit dem Anspruch an gesteigerte Erregung, Lautstarke und Dramatik schon in Bellinis Norma , vor allem aber beim fruhen Verdi, zu ?hybriden“ Gesangspartien im Fach des sogenannten soprano drammatico d’agilita ( dramatischer Koloratursopran ), die allerhochste und durchaus gefahrliche Anforderungen an die Sangerinnen stellen. Verdi wurde denn auch als ?Attila der Stimmen“ bezeichnet, und man warf ihm haufig vor, die Stimmen seiner Sangerinnen zu ruinieren, [34] darunter auch die seiner spateren Geliebten und Ehefrau Giuseppina Strepponi , der ersten Abigaille in Nabucco (1842).

Einige in dieser Zeit ausgebildete Sanger hielten noch bis in die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts an bestimmten Prinzipien und Techniken des Belcanto fest, so dass auch noch einige fruhe Grammophonplatten bzw. Phonographenwalzen die Tradition des Belcanto erkennen lassen und eine wertvolle Quelle sind. [35]

Musikbeispiel: Bellinis Sonnambula mit Adelina Patti

[ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]
Vincenzo Bellini: ?Ah! non credea mirarti“ aus La Sonnambula (1831), gesungen von Adelina Patti (1906).

Adelina Patti (1843?1919) ist die vielleicht alteste Sangerin, von der Tonaufnahmen gemacht wurden. Als sie geboren wurde, lag die eigentliche Epoche des Belcanto in ihren letzten Zugen. Es ist bekannt, dass sie Rossini in Paris bei einer seiner Samstags-Soireen die Arie der Rosina aus dem Barbier von Sevilla vorsang. Ihre Interpretation der Aria finale der Amina aus La Sonnambula (Die Nachtwandlerin) zeigt einige typische Merkmale des traditionellen Belcanto:

  1. Ihr Gesang ist fast ohne Vibrato und wirkt dadurch sehr rein, klar und grundsatzlich auch schlicht. Die Betonung liegt auf der Melodie- Linie . Nur an wenigen Stellen lasst sie sich zu kleinen oder minimalen Schwingungen hinreißen, aus emotionalen Grunden oder zugunsten eines emotionalen Effekts. Ein Nebeneffekt des ziemlich glatten Tons besteht in der Tatsache, dass bereits kleine Unsauberkeiten oder Schwankungen der Tonhohe wesentlich deutlicher horbar sind als bei einem antrainierten ?Dauervibrato“, wie es erst im 20. Jahrhundert aufkam; noch im fruhen 19. Jahrhundert wurden selbst kleinere Vibrato-Schwingungen oder Unsauberkeiten bereits als beginnende Zeichen der Stimmalterung und eines Stimmverfalls angesehen (z. B. von Stendhal bei Isabella Colbran ). Dies ist jedoch bei Patti (im großen Ganzen) kein Problem, obwohl sie hier schon uber 60 Jahre alt ist.
  2. Die Melodie (und der Text) wird auf sublime Weise mithilfe feiner dynamischer Schattierungen und messa di voce geformt; dazu kommen emotionale Inflexionen.
  3. Zu den musikalischen Gestaltungsmitteln gehoren außerdem zusatzliche improvisierte oder quasi improvisierte Ornamente, die hier sparsam, aber gekonnt eingesetzt werden, um den Ausdruck der Arie zu unterstutzen. Besonders zu nennen ware hier z. B. eine kleine chromatische Linie kurz nach dem Ausdruck ?… il pianto mio …“ (mein Weinen, meine Tranen), die nicht von Bellini stammt, sondern von Patti.
  4. Patti besitzt einen hubschen Triller: im Belcanto eines der wichtigsten Merkmale eines guten Sangers. Es wurde allerdings schon von Tosi und seinem deutschen Ubersetzer Agricola gewarnt, dass man sich nicht im Triller verlieren solle, ihn also nicht allzu lang aushalten solle. Das ist ein weit verbreiteter Fehler von Koloratursopranistinnen des fruhen 20. Jahrhunderts und selbst noch nach 1960 von Sangerinnen wie Beverly Sills oder Joan Sutherland . Patti ist hier gerade noch im Bereich des Akzeptablen.
  5. Fur den Belcanto ? und besonders fur die Spatphase im 19. Jahrhundert ? ist auch ein ziemlich freier Umgang mit dem Tempo, sprich Rubato , typisch. Dies wird gesteuert vom Sanger, die Begleitung hat eventuellen Verzogerungen zu folgen und gegebenenfalls zu pausieren.
  6. Auffallig ist die Art, wie Patti die kleine (vorgeschriebene) Cadenza singt: die Laufe sehr schnell, geradezu rapide. Zumindest in dieser Aufnahme ist dies der einzige negative Punkt, da sie hier etwas aus der Rolle und aus dem Ausdruck herausfallt und es wunschenswert ware, wenn die Cadenza etwas improvisierter klange.

Bedeutende Komponisten

[ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Große Sanger des Belcantostils

[ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]
  • Johann Agricola: Anleitung zur Singkunst (Ubersetzung von Tosis Opinioni de cantori antichi e moderni…, 1723). Reprint der Ausgabe 1757, hrsg. v. Thomas Seedorf . Barenreiter, Kassel et al. 2002.
  • Patrick Barbier: Historia dos Castrados (portugiesische Version; Titel des franzosischen Originals: Histoire des Castrats ), Lissabon 1991 (urspr. Editions Grasset & Fasquelle, Paris 1989).
  • Peter Berne: Belcanto. Historische Auffuhrungspraxis in der italienischen Oper von Rossini bis Verdi. Ein praktisches Lehrbuch fur Sanger, Dirigenten und Korrepetitoren. Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 2008, ISBN 978-3-88462-261-2 .
  • Giulio Caccini: Le nuove Musiche (Florenz 1601) und Le nuove musiche e nuova maniera di scriverle (Florenz 1614). Facsimile-Ausgabe von S.P.E.S. (studio per edizioni scelte), Archivum musicum 13, Florenz 1983.
  • Rodolfo Celletti: Geschichte des Belcanto. Barenreiter-Verlag, Kassel u. a. 1989, ISBN 3-7618-0958-1 .
  • Rene Jacobs : ?Es gibt keine Kastraten mehr, was jetzt?“, Booklettext zur CD: Arias for Farinelli , Vivica Genaux , Akademie fur Alte Musik Berlin, R. Jacobs, erschienen bei Harmonia mundi, 2002?2003.
  • Hugh Keyte: ?Intermedien (1589) fur La pellegrina “, Text zur LP: Una Stravaganza dei Medici. Intermedi (1589) per ?La Pellegrina“. Andrew Parrott (Dirigent), Taverner Consort, Choir & Players. EMI Reflexe 47998 (1986).
  • Cornelius L. Reid : Bel Canto. Principles and Practices. 3rd printing. The Joseph Patelson Music House, New York NY 1978, ISBN 0-915282-01-1 .
  • H. C. Robbins Landon (Hrsg.): Das Mozart-Kompendium ? sein Leben seine Musik . Droemer Knaur, Munchen 1991.
Wiktionary: Belcanto  ? Bedeutungserklarungen, Wortherkunft, Synonyme, Ubersetzungen

Einzelnachweise

[ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]
  1. Rodolfo Celletti: Geschichte des Belcanto. Barenreiter-Verlag, Kassel u. a. 1989, S. 114?116.
  2. Das anderte sich erst mit Rossini , der einen starken Einfluss auf die franzosische Oper hatte.
  3. ?kunstlich“ ist hier ein altertumlicher Ausdruck im Sinne von ?kunstvoll“.
  4. Hier nach: Rene Jacobs: ?Es gibt keine Kastraten mehr, was jetzt?“, Booklettext zur CD: Arias for Farinelli, Vivica Genaux, Akademie fur Alte Musik Berlin, R. Jacobs, erschienen bei Harmonia mundi, 2002?2003, S. 46?47.
  5. Rodolfo Celletti: Geschichte des Belcanto. Barenreiter-Verlag, Kassel u. a. 1989, S. 20.
  6. Rodolfo Celletti: Geschichte des Belcanto. Barenreiter-Verlag, Kassel u. a. 1989, S. 16 f und S. 194?200.
  7. Jurgen Kesting : Die großen Sanger. Vier Bande. Hoffmann und Campe, Hamburg 2008, ISBN 978-3-455-50070-7 , Band 1, S. 40.
  8. Z. B. von Hermann Finck in Practica Musica (Wittenberg 1556) oder von Adrianus Petit Coclico in Compendium musices descriptum (Nurnberg 1552). Rodolfo Celletti: Geschichte des Belcanto. Barenreiter-Verlag, Kassel u. a. 1989, S. 21?22.
  9. Hugh Keyte: ?Intermedien (1589) fur La pellegrina “, Text zur LP: Una Stravaganza dei Medici. Intermedi (1589) per ?La Pellegrina“. Andrew Parrott (Dirigent), Taverner Consort, Choir & Players. EMI Reflexe 47998 (1986), (ohne Seitenangaben).
  10. Vermutlich von Onofrio Gualfreducci. Hugh Keyte: ?Intermedien (1589) fur La pellegrina “, Text zur LP: Una Stravaganza dei Medici. Intermedi (1589) per ?La Pellegrina“. Andrew Parrott (Dirigent), Taverner Consort, Choir & Players. EMI Reflexe 47998 (1986), (ohne Seitenangaben).
  11. Giulio Caccini: Le nuove Musiche (Florenz 1601) und Le nuove musiche e nuova maniera di scriverle (Florenz 1614). Facsimile-Ausgabe von S.P.E.S. (studio per edizioni scelte), Archivum musicum 13, Florenz 1983.
  12. Das ist ein Ausdruck Monteverdis. Rodolfo Celletti: Geschichte des Belcanto. Barenreiter-Verlag, Kassel u. a. 1989, S. 35 & S. 39.
  13. Rodolfo Celletti: Geschichte des Belcanto. Barenreiter-Verlag, Kassel u. a. 1989, S. 15.
  14. Liliana Pannella:  Basile, Andreana (Andriana), detta la bella Adriana. In: Alberto M. Ghisalberti (Hrsg.): Dizionario Biografico degli Italiani (DBI). Band 7:  Bartolucci?Bellotto. Istituto della Enciclopedia Italiana, Rom 1965.
  15. Liliana Pannella: Baroni, Eleonora (Leonora, Lionora), detta anche l'Adrianella o l'Adrianetta. In: Alberto M. Ghisalberti (Hrsg.): Dizionario Biografico degli Italiani (DBI). Band 6: Baratteri?Bartolozzi. Istituto della Enciclopedia Italiana, Rom 1964.
  16. Celletti spricht von einer ?poetica della meraviglia“ (Poetik des Wunderbaren). Rodolfo Celletti: Geschichte des Belcanto. Barenreiter-Verlag, Kassel u. a. 1989, S. 14 & S. 17.
  17. Rodolfo Celletti: Geschichte des Belcanto. Barenreiter-Verlag, Kassel u. a. 1989, S. 14. Es ist allerdings die Frage, ob es nicht wegen der vielen Kastrationen an sangerisch begabten Knaben einfach kaum noch gute Tenore und Basse gab.
  18. Falset-Stimme, Falsetto [ital.] heisset: 1. … (2. Bei erwachsenen Sangern, wenn sie anstatt ihrer ordentlichen Bass- oder Tenor-Stimme, durch Zusammenzwingen und Dringen des Halses, den Alt oder Discant singen. Man nennet es auch deswegen eine unnaturliche Stimme. Siehe: Johann Gottfried Walther: ''Musicalisches Lexikon'', 1732.
  19. Rene Jacobs : Es gibt keine Kastraten mehr: Was jetzt? , Booklettext zur CD: Arias for Farinelli , mit Vivica Genaux , Akademie fur Alte Musik Berlin , Rene Jacobs; harmonia mundi, 2002?2003. S. 45?51, hier: S. 47?48
  20. In der Kirche konnten sie zuweilen Altpartien singen, insbesondere in Choren (und wiederum insbesondere in Nordeuropa, weniger in Italien).
  21. Rodolfo Celletti: Geschichte des Belcanto. Barenreiter-Verlag, Kassel u. a. 1989, S. 118?120.
  22. Rene Jacobs : ?Es gibt keine Kastraten mehr, was jetzt?“, Booklettext zur CD: Arias for Farinelli , Vivica Genaux , Akademie fur Alte Musik Berlin, R. Jacobs, erschienen bei Harmonia mundi, 2002?2003, S. 47.
  23. Rodolfo Celletti: Geschichte des Belcanto. Barenreiter-Verlag, Kassel u. a. 1989, S. 119.
  24. Rodolfo Celletti: Geschichte des Belcanto. Barenreiter-Verlag, Kassel u. a. 1989, S. 111?112, und S. 120.
  25. H. C. Robbins Landon (Hrsg.): Das Mozart-Kompendium ? sein Leben seine Musik , Droemer Knaur, Munchen 1991, S. 376 und S. 379 ff.
  26. H. C. Robbins Landon (Hrsg.): Das Mozart-Kompendium ? sein Leben seine Musik, Droemer Knaur, Munchen 1991, S. 174.
  27. Rodolfo Celletti: Geschichte des Belcanto. Barenreiter-Verlag, Kassel u. a. 1989, S. 13 (Suße des Timbres), S. 202 (zum angespannteren Gesang in der Romantik)
  28. Siehe beispielsweise: H. C. Robbins Landon (Hrsg.): Das Mozart-Kompendium ? sein Leben seine Musik , Droemer Knaur, Munchen 1991, S. 374?382.
  29. Patrick Barbier: Historia dos Castrados (portugiesische Version; Titel des franzosischen Originals: Histoire des Castrats ), Lissabon 1991…, S. 129?130.
  30. Rodolfo Celletti: Geschichte des Belcanto. Barenreiter-Verlag, Kassel u. a. 1989, S. 195.
  31. Rodolfo Celletti: Geschichte des Belcanto. Barenreiter-Verlag, Kassel u. a. 1989, S. 193?198.
  32. Rodolfo Celletti: Geschichte des Belcanto. Barenreiter-Verlag, Kassel u. a. 1989, S. 198?200.
  33. Rodolfo Celletti: Geschichte des Belcanto. Barenreiter-Verlag, Kassel u. a. 1989, S. 200 ff.
  34. Rodolfo Celletti: Geschichte des Belcanto. Barenreiter-Verlag, Kassel u. a. 1989, S. 202.
  35. Vgl. hierzu: Jurgen Kersting: Die großen Sanger, 4 Bande, Hamburg 2008.