Baldur Benedikt von Schirach
(*
9. Mai
1907
in
Berlin
; †
8. August
1974
in
Krov
an der
Mosel
,
Rheinland-Pfalz
) war ein deutscher
Politiker
wahrend der
Zeit des Nationalsozialismus
. Er war
Reichsjugendfuhrer
der
Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei
(NSDAP).
Schirach gehorte zu den 24 Angeklagten im
Nurnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher
vor dem
Internationalen Militargerichtshof
. Er wurde am 1. Oktober 1946 wegen
Verbrechens gegen die Menschlichkeit
zu 20 Jahren Haft verurteilt; von der Anklage des
Verbrechens gegen den Frieden
wurde er freigesprochen.
Baldur von Schirach entstammte dem
sorbisch-deutschen Adelsgeschlecht Schirach
. Er war der Sohn des ehemaligen Offiziers und spateren
Theaterintendanten
Carl von Schirach
. Dieser war 1909 bis 1918 Intendant des
Hoftheaters Weimar
, wo Schirach aufwuchs, und 1935 bis 1943 Intendant des
Staatstheaters Wiesbaden
. Seine Mutter war die US-Amerikanerin Emma Lynah Tillou Bailey Middleton von Schirach (1872?1944). Sie war Nachfahrin von
Arthur Middleton
, einem der
Grundervater der USA
.
[1]
Schirach wuchs in einem gleichermaßen liberalen und progressiv-aufgeklarten wie konservativen und
kaisertreuen
Milieu auf. Bis zu seinem funften Lebensjahr sprach er nur Englisch.
[2]
Sein sieben Jahre alterer Bruder Karl (* 1900) erschoss sich 1919 in
Roßleben
,
[3]
offensichtlich aus Gram uber die Abdankung des Kaisers und den Abschluss des
Friedensvertrages von Versailles
. Zudem hatte er zwei Schwestern, Rosalind und Viktoria. Viktoria starb jung an
Diphtherie
,
Rosalind
wurde Opernsangerin. Schirach wurde im Waldpadagogium
Bad Berka
im Sinne des Reformpadagogen
Hermann Lietz
erzogen.
[4]
Er heiratete am 31. Marz 1932 in Munchen
Henriette Hoffmann
(1913?1992), die Tochter des
Hitler
-Fotografen
Heinrich Hoffmann
. Henriette brachte vier Kinder zur Welt: Angelika Benedikta (* 1933), Klaus (* 1935), Robert (1938?1980) und
Richard
(1942?2023). Die Ehe der Schirachs wurde am 20. Juli 1950 in Munchen geschieden.
Der Rechtsanwalt und Schriftsteller
Ferdinand von Schirach
, die Essayistin
Ariadne von Schirach
, die Schriftsteller
Norris von Schirach
und
Benedict Wells
sowie
Eva von Schirach
sind seine Enkel.
Als 17-Jahriger traf Schirach 1925 erstmals
Adolf Hitler
und wurde zu dessen begeistertem Anhanger. Mit Erreichen der Volljahrigkeit trat er mit der Mitgliedsnummer 17.251 in die NSDAP ein. Als Student der
Germanistik
und Kunstgeschichte
[5]
wurde er 1928 Fuhrer des
Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbunds
(NSDStB). 1929 grundete er in Munchen die Zeitschrift
Akademischer Beobachter
als Fuhrerorgan des NSDStB. Am 30. Oktober 1931 wurde er zum
Reichsjugendfuhrer
der NSDAP ernannt und erhielt den Rang eines Gruppenfuhrers in der
SA
. Sein Studium schloss er nicht ab. Nach der
Reichstagswahl vom 31. Juli 1932
zog Schirach als Mitglied der NSDAP-Fraktion in den
Deutschen Reichstag
ein.
Nach der
Machtergreifung
und der
Gleichschaltung
aller Jugendverbande ernannte ihn Hitler am 17. Juni 1933 zum
Jugendfuhrer des Deutschen Reiches
. Am selben Tag loste Schirach den
Großdeutschen Bund
? und seine Mitgliedsbunde ? auf, zu dem sich die Freischaren und
Pfadfinderbunde
erst im Marz davor zusammengeschlossen hatten.
Von 1936 bis 1940 wohnte Schirach mit seiner Familie auf
Schloss Aspenstein
in
Kochel am See
.
Im Jahr 1936 wurde er
Staatssekretar
und machte die Mitgliedschaft in der
Hitlerjugend
(HJ) zur Pflicht, sodass die HJ auf sechs Millionen Mitglieder anwuchs. Schirach hatte 1936 zudem ein ?Jahr des
Deutschen Jungvolks
“ ausgerufen.
[6]
Seine Bemuhungen, die Kontrolle uber die gesamte Jugenderziehung zu erlangen, fuhrten zu einem Machtkampf mit
Artur Axmann
. Ein Versuch, Einfluss auf die
Erziehung im Nationalsozialismus
zu erlangen, waren auch die
Adolf-Hitler-Schulen
.
Schirach war auch in der Kulturpolitik aktiv. Insbesondere war er ein
Goethe
-Verehrer und hielt im Juni 1937 eine ?Goethe-Rede“, die von Propagandaminister
Joseph Goebbels
nachdrucklich unterstutzt wurde, da ?sich hier zum ersten Male ein verantwortlicher Funktionar des Reiches mit Goethe und seiner Stellung im Kulturwollen des Nationalsozialismus befasst“ habe.
[7]
Zum Inhalt der Rede hieß es in der Verlautbarung des
Propagandaministeriums
, ?die Personlichkeit Goethes sei des Begriffes entkleidet worden,
Weltburger
und liberaler Poet gewesen zu sein“; nach Schirach habe Goethe die Erziehungsprinzipien des Nationalsozialismus prophezeit.
[7]
Die Rede wurde unter dem Titel
Goethe an uns. Ewige Gedanken des großen Deutschen
in mehr als 170.000 Exemplaren gedruckt; das Heft enthielt außerdem zahlreiche Goethe-Zitate auf etwa 100 Seiten.
[8]
Die Rede wirkte maßgeblich zur Propagierung eines nationalistischen Goethe-Bildes im
Dritten Reich
, obwohl Schirach den in anderen nationalsozialistischen Schriften ? etwa von
Franz Koch
? betonten angeblichen
Antisemitismus
Goethes aussparte.
[7]
Zu Beginn des
Zweiten Weltkriegs
1939 trat Schirach freiwillig in die
Wehrmacht
ein. Als Leutnant der Reserve nahm er 1940 in der
12. Kompanie des motorisierten Infanterieregiments ?Großdeutschland“
am
Westfeldzug
teil.
[9]
Axmann wurde am 1. Mai 1940 zunachst Schirachs Stellvertreter und am 7. August 1940 sein Nachfolger. Schirach behielt seinen Rang als
Reichsleiter
, wurde zum Beauftragten fur die Inspektion der gesamten Hitlerjugend und organisierte ab September 1940 die erweiterte
Kinderlandverschickung
, mit der etwa 2,5 Millionen Kinder aus den vom
Luftkrieg
bedrohten Stadten in weniger gefahrdete Teile des Reiches verbracht wurden.
In der
Zeit des Nationalsozialismus
wurden Schirach
homosexuelle
Neigungen nachgesagt, beispielsweise in
Flusterwitzen
. Ihren Ausgangspunkt durften die Geruchte in dem ? im Vergleich zu anderen fuhrenden Nationalsozialisten ? ?wenig ausgepragten Mannlichkeitsgehabe“
[10]
Schirachs gehabt haben, womit er zeitgenossischen Klischees von Homosexuellen entsprach. Auch konnen sie als Anspielung auf seine eher weichen Gesichtszuge gedeutet werden. Derlei Geruchte wurden von auslandischen Rundfunksendern und Kreisen des
Exils
aufgegriffen: So gab der Schriftsteller
Hans Siemsen
in seinem 1940 bei
Lindsay Drummond
in London erschienenen Roman
Hitler Youth
an, Schirach habe eine Beziehung mit dem Hauptdarsteller des Films
Hitlerjunge Quex
,
Jurgen Ohlsen
, gehabt. Belege fur diese Behauptung fehlen.
Der Text des Hitlerjugendliedes
Vorwarts! Vorwarts! schmettern die hellen Fanfaren
stammte von Schirach und wurde in dem 1933 uraufgefuhrten Tonfilm
Hitlerjunge Quex
erstmals der Offentlichkeit prasentiert. Zudem war Schirach im Propagandafilm
Der Marsch zum Fuhrer
von 1940 zu sehen.
Baldur von Schirach hatte u. a. das
Ehrenburgerrecht
der Stadte
Braunschweig
und
Melle
inne. Auch ein Kunstpreis wurde nach ihm benannt.
[11]
Hauptamtlich wurde Schirach am 7. August 1940
Gauleiter
und
Reichsstatthalter
in
Wien
und zog mit seiner Familie in die
Wiener Hofburg
. In dieser Position, die er bis zum
Kriegsende
1945 behielt, war er fur die
Deportation
der
Wiener Juden
verantwortlich, was er in einer Rede vom 14. September 1942 als Beitrag zur europaischen Kultur bezeichnete: ?Wenn man mir den Vorwurf machen wollte, daß ich aus dieser Stadt Aberzehntausende ins ostliche Ghetto abgeschoben habe, muß ich antworten: Ich sehe darin einen aktiven Beitrag zur europaischen Kultur.“
[12]
Schirach war erklarter
Antisemit
, allerdings außerte er einige Male vorsichtige Kritik an der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Beispielsweise gibt es Hinweise darauf, dass er den Einheitsfuhrern der Hitlerjugend verboten hatte, an den
Novemberpogromen 1938
mitzuwirken. Dies ist jedoch umstritten und bislang nicht belegt. Als er zudem am 24. Juni 1943 eine bessere Behandlung der Osteuropaer forderte, fiel er bei Hitler in Ungnade.
[13]
Am 24. Februar 1945 wurde Schirach nach Berlin zu Adolf Hitler bestellt und bekam den Befehl, als
Reichsverteidigungskommissar
die Stadt Wien bis zum Letzten zu verteidigen. Der
Gaugefechtsstand Wien
am
Gallitzinberg
in
Ottakring
wurde am 4. April 1945 geraumt, weil die
Rote Armee
schon in
Hutteldorf
stand. Als sich die sowjetischen Truppen uber
Klosterneuburg
annaherten, wich der Reichsverteidigungskommissar am 6. April 1945 zunachst von seinem Bunker auf der
Hohen Warte
gezwungenermaßen in die
Hofburg
aus, denn die Widerstandsbewegung hatte Strom und Telefon des Bunkers gekappt,
[14]
und am Nachmittag des 9. April 1945 fluchtartig nach
Floridsdorf
, wo sich in der Nahe
Bisambergs
das Hauptquartier des
II. SS-Panzerkorps
befand. ?Kampf bis zum letzten Mann“, hatte Schirach befohlen, ehe er sich uber die Donau absetzte. Das
Kriegstagebuch
des
Oberkommandos der Wehrmacht
vermerkt: ?Ein Teil der Wiener Bevolkerung hat seine Haltung verloren.“
Joseph Goebbels
schrieb am 10. April 1945 in seinem Tagebuch: ?Es haben in der Stadt Aufruhraktionen in den ehemals roten Vororten stattgefunden, und zwar haben diese Ausmaße angenommen, daß Schirach sich in seiner Hilflosigkeit veranlaßt gesehen hat, sich unter den Schutz der Truppe zu begeben. Das ist so typisch Schirach. Erst laßt er die Dinge laufen, wie sie laufen, und dann fluchtet er sich zu den Soldaten.“
[15]
In den folgenden Wochen floh von Schirach mit seinen Adjutanten weiter nach Westen und versuchte nach dem Ende des
Dritten Reichs
in
Schwaz
in Tirol als ?Kriminalschriftsteller Dr. Richard Falk“ unterzutauchen. Am 4. Juni 1945 stellte er sich US-amerikanischen Einheiten und kam nach Zwischenstationen im Kriegsgefangenenlager Rum bei Innsbruck und im Vernehmungslager
Oberursel
im Taunus am 10. September 1945 ins Kriegsverbrechergefangnis in Nurnberg.
[16]
Im
Nurnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher
wurde er am 1. Oktober 1946 wegen
Verbrechen gegen die Menschlichkeit
zu 20 Jahren Haft verurteilt, da er als Gauleiter fur die Deportation von 185.000 osterreichischen Juden in
Konzentrationslager
verantwortlich war. Sein Verteidiger war
Fritz Sauter
.
Er verbußte seine Strafe zusammen mit den anderen zu Haftstrafen verurteilten Kriegsverbrechern im
Kriegsverbrechergefangnis Spandau
. Wahrend seiner Haftzeit wurde Schirach auf Antrag seiner Frau 1950 geschieden. Nach der gemeinsamen Entlassung mit
Albert Speer
am 1. Oktober 1966 zog von Schirach zunachst in die
Stubenrauch-Villa
in Munchen, die sein Sohn Robert fur ihn gemietet hatte. Unmittelbar nach der Haftentlassung fuhrte
Jochen von Lang
, Redakteur der Illustrierten
Stern
, umfangreiche Interviews mit von Schirach, die Grundlage einer großzugig honorierten Artikelserie im
Stern
[17]
und des 1967 erschienenen Memoirenbandes
Ich glaubte an Hitler
waren.
[18]
Von Schirach gab auch Fernsehinterviews mit Lang und 1968 mit dem britischen Journalisten
David Frost
. Darin bestritt er jede Mitverantwortung am
Holocaust
. Das publizistische Aufsehen um von Schirach ließ jedoch, anders als bei seinem Mitgefangenen Albert Speer, rasch wieder nach.
[19]
1968 zog von Schirach auf das Anwesen des Unternehmers
Fritz Kiehn
in Deibhalde bei
Trossingen
. Kiehn, Inhaber der
Efka-Werke
, eines fuhrenden Herstellers von Zigarettenpapier, war wahrend der NS-Zeit als NSDAP-Mitglied seit 1930, NSDAP-Reichstagsabgeordneter von 1932 bis 1945, Parteifunktionar und SS-Obersturmbannfuhrer ein prominenter Nationalsozialist gewesen, der sich nach Internierung und Entnazifizierung ab 1949 wieder als Unternehmer etablieren konnte. Der personliche Adjutant von Schirachs in Wien, Fritz Wieshofer, der wahrend von Schirachs Haft als ?
Abwesenheitspfleger
“ seines Vermogens fungiert hatte, war eine Zeitlang mit Kiehns Tochter Gretl verheiratet und als Geschaftsfuhrer in dessen Unternehmen tatig, bevor es nach der Scheidung zur Trennung kam. Von Schirachs Sohn Robert heiratete 1968 Kiehns Enkelin Elke und ubernahm eine leitende Stellung im Unternehmen. 1970 wurde die Ehe geschieden. Wahrend der Zeit in Deibhalde wurde von Schirach zeitweise von Gretl Kiehn betreut.
[20]
1971 zog der inzwischen stark sehbehinderte von Schirach, der wahrend der Haft auf einem Auge erblindet war,
[21]
in die bescheidene Pension Mullen (fruher Hotel Montroyal) in
Krov
an der Mosel, die von den Schwestern Kathe und Ida Mullen, zwei ehemaligen BDM-Fuhrerinnen, gefuhrt wurde.
[22]
Hier starb er am 8. August 1974 an Herzversagen.
[23]
Auf seinen Grabstein auf dem Krover Friedhof ließ er schreiben: ?Ich war einer von euch“.
[24]
Das Grab wurde Anfang 2015 eingeebnet, nachdem die Ruhezeit nach einer Verlangerung endgultig abgelaufen war.
[25]
- Die Pioniere des Dritten Reiches.
Essen 1933.
- Wille und Macht. Fuhrerorgan der nationalsozialistischen Jugend.
Eher, Berlin 1934?1939.
- Revolution der Erziehung. Reden aus den Jahren des Aufbaus.
Eher, Munchen 1938.
- Ich glaubte an Hitler.
Mosaik Verlag, Hamburg 1967.
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(NDB). Band 23, Duncker & Humblot, Berlin 2007,
ISBN 978-3-428-11204-3
, S. 4 f. (
Digitalisat
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Schirach: Eine Generation zwischen Goethe und Hitler.
Molden Verlag, Wien 2020,
ISBN 978-3-222-15058-6
. (
Rezension im
Standard
, 5. Oktober 2020, S. 19,
Rezension in der Suddeutschen Zeitung, 2. Oktober 2020, S. 7
); siehe dazu auch ein
Interview mit Oliver Rathkolb uber das Buch
, gefuhrt am 30. Januar 2021 im
Bruno-Kreisky-Forum fur internationalen Dialog
.
- Roman B. Kremer:
Autobiographie als Apologie. Rhetorik der Rechtfertigung bei Baldur von Schirach, Albert Speer, Karl Donitz und Erich Raeder.
V&R unipress, Gottingen 2017,
ISBN 978-3-8471-0759-0
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- Jochen von Lang
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Der Hitlerjunge. Baldur von Schirach, der Mann, der Deutschlands Jugend erzog
(= Knaur 4045; Sachbuch). Droemer Knaur, Munchen 1991,
ISBN 3-426-04045-X
.
- Henriette von Schirach:
Der Preis der Herrlichkeit. Erfahrene Zeitgeschichte
(=
Ullstein-Buch
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ISBN 3-548-35457-2
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Oliver Rathkolb:
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Oliver Rathkolb:
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Keine Erinnerung mehr an ehemaligen "Reichsjugendfuhrer" Baldur von Schirach in Krov.
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