Arbeitskurve

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Die physiologische Arbeitskurve

Die Arbeitskurve (?Kraepelinsche Arbeitskurve“) ist in der Arbeitsphysiologie eine Kurve , die den Verlauf der Arbeitsleistung einer Arbeitsperson wahrend der Arbeitszeit beschreibt.

Allgemeines [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Die menschliche Arbeitsleistung bleibt im Zeitverlauf nicht konstant, sondern unterliegt mehr oder weniger großen Schwankungen. Diese konnen sich auf das Arbeitsvolumen und das Arbeitsergebnis ( Produktqualitat / Dienstleistungsqualitat ) auswirken. Den Arbeitskraften und Fuhrungskraften muss deshalb die Existenz derartiger Leistungsschwankungen im Rahmen des Qualitatsmanagements und Zeitmanagements bewusst sein, damit sie Leistungshochs verstarkt ausnutzen und Leistungstiefs moglichst uberbruckend ausgleichen konnen. Die der Arbeitskurve zugrunde liegenden Erkenntnisse gelten generell fur die Arbeit auch im Privatleben des Menschen und konnen dann als Leistungskurve bezeichnet werden.

Die Arbeitskurve und Arbeitsleistung sind Erkenntnisobjekte insbesondere in der Arbeitsphysiologie , Arbeitspsychologie , Arbeitsmedizin , Sportmedizin und Betriebswirtschaftslehre .

Geschichte [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Der Psychiater Emil Kraepelin begann im Jahre 1890 mit Versuchen zur ? wie er es nannte ? ?Hygiene der Arbeit“ und erforschte arbeitspsychologische Zusammenhange von Ermudung und Ubung bei der Arbeit . Er erhoffte sich Aufschluss uber die Beziehung zwischen Arbeitszeit und Arbeitsleistung und das Eintreten von Ermudungserscheinungen, um hieraus arbeitshygienische Maßnahmen ableiten zu konnen. [1] Seine Analysen des Arbeitsablaufs mit den Mitteln der modernen naturwissenschaftlichen Psychologie waren damals neu und erfolgversprechend. [2] In einer Festschrift zum 70. Geburtstag seines Lehrers Wilhelm Wundt veroffentlichte Kraepelin im Jahre 1902 in seinem Aufsatz ?Die Arbeitskurve“ eine m-formig verlaufende Kurve, die die Leistungsschwankungen der Arbeitskraft innerhalb von 24 Stunden wiedergab. [3] Der m-formige Kurvenverlauf gab der Arbeitskurve auch den Namen ?physiologische m-Kurve“. Kraepelins Mitarbeiter Otto Graf (1893?1973) erkannte, dass neben anderen Einflussen auch die Circadiane Rhythmik (Leistungsschwankungen im Tagesverlauf) die physiologische Arbeitskurve beeinflusst. Er stellte im Jahre 1934 eine allgemeingultige ?physiologische Arbeitskurve“ vor, die die ?tagesperiodischen Schwankungen der Leistungsfahigkeit“ abbilden sollte. [4] Graf spiegelte 1954 die Arbeitskurve und bezeichnete die Spiegelung als ?Fehlerkurve“, weil die Leistungstiefs zu Fehlerhaufungen neigten. [5]

Einflussgroßen [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Die geistige und korperliche Arbeitsleistung ist physiologisch ein Verbrauchsvorgang, der zunachst die Energievorrate der beteiligten Organe erschopft, gleichzeitig aber auch den gesamten Organismus in Mitleidenschaft zieht; mit dem Energieverbrauch sinkt die Arbeitskurve. [6] Wesentliche Einflussgroßen der Arbeitsleistung sind der Biorhythmus , Ubung , eintretende menschliche Ermudungs- und Erholungsphasen , Ablenkung und die Arbeitsbelastung am Arbeitsplatz . Ubung sind physiologisch betrachtet alle Erleichterungen und dadurch mogliche Beschleunigungen eines Arbeitsvorganges , die sich durch die Wiederholung einer Tatigkeit einstellen. [7] Die Ermudung ist als Wesensbestandteil mit jeder Tatigkeit verbunden und wirkt auf die Arbeitsleistung hemmend ein. Ubersteigt sie ein bestimmtes Niveau nicht, kann man fast ohne Ermudungsempfindung arbeiten ( englisch steady state ). Die Erholung ? nach Arbeitspausen ? ist reversibel und lasst leistungsmindernde Veranderungen verschwinden. [8]

Die Leistung der Arbeitskraft ist im Arbeitsprozess jedoch nicht nur allein von der physiologischen Leistungsbereitschaft und ihren Schwankungen abhangig, sondern auch wesentlich vom Leistungswillen und Arbeitsmotivation ( positive Kriterien ) und Arbeitsunlust , Konfliktsituationen , schlechten Arbeitsbedingungen (etwa hohe oder niedrige Temperaturen , geringe Luftqualitat ) im negativen Sinne . Bei Arbeitsbeginn nehmen die positiv wirkenden Aspekte zu und die negativen ab, am Ende der Arbeitszeit ist ein Anstieg der physiologischen Arbeitskurve im Sinne des Schlussantriebes zu beobachten, insbesondere am Freitag wegen des nahenden Wochenendes .

Die Leistungsdisposition ? ihr entspricht der typische Verlauf der Arbeitskurve ? ist am Vormittag und am Nachmittag gunstigsten und ungunstig in der Nacht . Daran andert auch das veranderte Schlafverhalten wegen Nachtarbeit nichts. Um Nachtarbeit trotz Leistungstief mit angemessener Arbeitsleistung zu ermoglichen, sind eine uberdurchschnittliche externe Energiezufuhr und Arbeitspausen erforderlich. [9] Die Phasen der ungunstigsten Leistungsdispositionen werden zudem durch erhohten Einsatz des Leistungswillens ausgeglichen. Wechselnde Schichtarbeit oder auch ausschließlich Nachtarbeiten konnen den biologischen Verlauf der Arbeitskurve nicht verandern; es erfolgt lediglich eine Anpassung im Sinne einer Pseudogewohnung, jedoch keine echte Gewohnung und auch keine Umstellung.

Kurvenverlauf [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Die Arbeitskurve ist ein Koordinatensystem mit der Arbeitszeit als Abszisse und der Arbeitsleistung als Ordinate . Die schwankende Leistungsbereitschaft ist von den tageszeitlich unterschiedlichen vegetativen Funktionen des Organismus abhangig. So ermoglicht beispielsweise die Herz - und Kreislauffunktion ? gemessen durch Pulsfrequenz und Blutdruck ? in den Vormittags- und Nachmittagsstunden ein Leistungshoch, wahrend sich die Kreislauffunktion nachts zwischen 02:00 Uhr und 04:00 Uhr mit ihrem Tiefpunkt, etwa gegen 03:00 Uhr, im Schongang befindet (?physiologischer Kreislaufkollaps“).

Zwischen 09:00 Uhr und 11:00 Uhr gibt es bei den meisten Arbeitspersonen ein Leistungshoch (ansteigendes Denkvermogen , Kreativitat und Konzentration ), ab 10.00 Uhr kommt eine hohe Leistungsfahigkeit ( Kurzzeitgedachtnis ) hinzu, der Leistungshohepunkt liegt gegen 11:00 Uhr. Das Leistungstief beginnt durch das zu verdauende Mittagessen zwischen 13:00 Uhr und 15:00 Uhr, gegen 16:00 Uhr beginnt ein kleiner ausfallendes Leistungshoch, zwischen 17:00 Uhr und 19:00 Uhr funktioniert das Langzeitgedachtnis gut, doch es tritt bereits Mudigkeit ein. Die Arbeitsleistung nimmt seitdem schnell ab, um nach Mitternacht ihren Tiefpunkt zu erreichen. Es verbleibt mithin fur die tagliche Maximalleistung an einem Achtstundentag ein Zeitfenster von etwa 2 Stunden (25 % der gesamten Arbeitszeit).

Diese Tageskurve kann auch auf die gesamte Woche ubertragen werden, hier liegt das Leistungshoch am Dienstagvormittag, das Leistungstief am Donnerstagnachmittag steigt fur Freitag wieder wegen des Schlussantriebs geringfugig an. Nicht zufallig fallen viele Jour fixe auf einen Dienstagvormittag. Die Lernkurve entspricht genau dieser Arbeitskurve. [10]

Konsequenzen [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Die Kenntnis dieser Leistungsschwankungen versetzt Arbeitspersonal in die Lage, hierauf zu reagieren, um diese Schwankungen moglichst zu nutzen. Auf diese Weise kann ein Leistungshoch fur besonders komplizierte oder hohe Konzentration erfordernde Aufgaben genutzt werden ( Analysen , komplizierte Ablauffolgen ), wahrend Leistungstiefs mit weniger schwierigen Tatigkeiten ( Abheften ) oder Arbeitspausen uberbruckt werden konnen. Arbeitspausen setzen wiederum einen nachfolgenden Erholungsprozess in Gang. Die Kombination zwischen der Tages- und der Wochenkurve ergibt, dass am Dienstagvormittag moglichst effektive Besprechungen ( Vorstandssitzungen ) abgehalten werden sollten, wahrend am Donnerstagnachmittag taktische Termine anberaumt sind, bei denen der Einladende die Eingeladenen wegen deren Ermudung zur schnellen Zustimmung bewegen mochte.

Kritik [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Die generelle Anwendung dieser Leistungskurve ist im Alltag problematisch. Individuelle Unterschiede von Fruhaufstehern und Nachtmenschen werden in ihr ebenso wenig berucksichtigt wie die aktuelle gesundheitliche Disposition . Zudem wird in der popularwissenschaftlichen Literatur oft ubersehen, dass die Leistungskurven Durchschnittswerte und Verallgemeinerungen von Daten darstellen und deshalb der Mittelwert nicht auf jeden Menschen angewendet werden kann. Beispielsweise kritisiert der Mainzer Sportphysiologe Hans-Volkhart Ulmer die Methode, auf der die Leistungskurve beruht und bemangelt ?die Langlebigkeit von Lehrmeinungen, wenn sie von Autoritaten verkundet werden“ und ?den sorglosen Umgang mit Statistik und biologischen Streuungen“. Er spricht in diesem Zusammenhang von ?Datentotschlag“. [11]

Weblinks [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Einzelnachweise [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

  1. Gangolf Hubinger/Rudiger vom Bruch/Friedrich Wilhelm Graf: Kultur und Wissenschaften um 1900: II Idealismus und Positivismus. 1997, S. 192
  2. Hans W. Gruhle: Kraepelins Bedeutung fur die Psychologie , in: Archiv fur die Psychiatrie und Nervenkrankheiten 87 , 1929. S. 43
  3. John P. Hylan, Emil Kraepelin: Uber die Wirkung kurzer Arbeitszeiten , in: Emil Kraepelin (Hrsg.): Psychologische Arbeiten , Band 4, Heft 3, 1902, S. 454?494
  4. Otto Graf, Untersuchungen uber die Wirkung zwangslaufiger zeitlicher Regelung von Arbeitsvorgangen (III) , Arbeitsphysiologie 7, 1934, S. 358?380
  5. Otto Graf: Arbeitsphysiologie. 1960, S. 15
  6. Oswald Passkonig, Wilhelm Max Wundt: Die Psychologie Wilhelm Wundts: zusammenfassende Darstellung der Individual-, Tier- und Volkerpsychologie , Teil 1, 1912, S. 90
  7. Otto Graf: Arbeitsphysiologie , 1960, S. 56
  8. Otto Graf: Arbeitsphysiologie , 1960, S. 57
  9. Hedwig Mitis: Das Buch der jungen Hausfrau , Band 1, 1972, S. 105
  10. Welf Hamer: Uberfachliche Kompetenzen. 2012, S. 12
  11. Hans-Volkhart Ulmer: Das Graf’sche Konzept von ?Tagesperiodischen Schwankungen der Leistungsfahigkeit“ ? ein paradigmatischer Irrtum infolge falschlicher Verallgemeinerung , o. J. In: uni-mainz.de (PDF; 117 kB)