Tradition
(von
lateinisch
tradere
?hinuber-geben“ oder
traditio
?Ubergabe, Auslieferung, Uberlieferung“) bezeichnet die Weitergabe (das
Tradere
) von
Handlungsmustern
,
Uberzeugungen
,
Glaubensvorstellungen
oder Anderem oder das Weitergegebene selbst (das
Traditum
, beispielsweise in Gepflogenheiten,
Konventionen
, Brauche oder Sitten). Tradition geschieht innerhalb einer
Gruppe
oder zwischen
Generationen
und kann mundlich oder schriftlich uber
Erziehung
,
Vorbild
oder
spielerisches
Nachahmen
erfolgen.
Die soziale Gruppe wird dadurch zur
Kultur
oder
Subkultur
. Weiterzugeben sind jene Verhaltens- und Handlungsmuster, die im Unterschied zu
Instinkten
nicht angeboren sind. Dazu gehoren einfache Handlungsmuster wie der Gebrauch von
Werkzeugen
oder komplexe wie die
Sprache
. Die Fahigkeit zur Tradition und damit die Grundlage fur Kulturbildung beginnt bei Tieren, wie beispielsweise
Krahen
oder
Schimpansen
, und kann im Bereich der menschlichen Kulturbildung umfangreiche religios-sittliche, politische, wissenschaftliche oder wirtschaftliche Systeme erreichen, die durch ein kompliziertes Bildungssystem weitergegeben wurden. Tradition kann ein
Kulturgut
sein.
Aus dem Wort
Tradition
werden zwei
Adjektive
abgeleitet: In der
Gemeinsprache
wird in der Regel nur der Ausdruck
traditionell
verwendet.
Semantisch
korrekt wird damit etwas bezeichnet, das auf einer alteren Geschichte aufbaut, das jedoch
nicht
unverandert weiterhin gultig ist. Soll diese auf die Zukunft projizierte Gultigkeit konkret enthalten sein, spricht man in der
Bildungssprache
von
traditional
.
[1]
Der
sichtbare
Ausdruck der Traditionen einer
Ethnie
oder eines
indigenen Volkes
wird als
Folklore
bezeichnet (siehe auch
Folklorismus
).
Die Redeweise ?Es ist Tradition, dass …“ bezieht sich in der Regel auf das Uberlieferte
(traditum)
, haufig im Sinne von ?Es ist seit langer Zeit ublich, dass …“. Umgangssprachlich seltener wird mit
Tradition
der Uberlieferungsvorgang an sich
(tradere)
bezeichnet. Zur Unterscheidung wird im
Deutschen
manchmal von ?Tradition“ im Sinne von
traditum
und ?Tradierung“ entsprechend dem
tradere
gesprochen. Diese Unterscheidung verweist auf zwei Hauptbedeutungen von Tradition:
- kulturelles Erbe
- Tradierung
Forschungen zum Begriff und zum Verhaltnis der beiden Hauptbedeutungen fallen in den Bereich der Traditionstheorie (
siehe unten
).
Unter Tradition wird in der Regel die Uberlieferung der Gesamtheit des
Wissens
, der
Fahigkeiten
sowie der Sitten und Gebrauche einer
Kultur
oder einer
Gruppe
verstanden. Nach
Hans Blumenberg
besteht Tradition daher nicht aus Relikten, also dem aus der Geschichte ubrig Gebliebenen, sondern aus ?
Testaten
und
Legaten
.“
[2]
Tradition
ist in dieser Hinsicht das
kulturelle Erbe
(Legat), das in
Arbeits
- und
Kommunikationsprozessen
von einer Generation zur nachsten weitergegeben wird. Wissenschaftliches Wissen und handwerkliches Konnen gehoren ebenso dazu, wie
Rituale
, kunstlerische Gestaltungsauffassungen, moralische Regeln und Speiseregeln.
Traditionen
im Sinne von
Brauchtum
und kulturellem Erbe begegnen beispielsweise bei Hochzeiten, Dorffesten und im Zusammenhang mit kirchlichen Feiertagen. Auch Alltagsgesten bei Begrußung und Verabschiedung sind Brauchtumstraditionen. Die
Ethnologie
untersucht, wie solches Brauchtum konkret entsteht und
tradiert
wird.
Im deutschsprachigen Raum wird in mancherlei Variationen gern der Aphorismus zitiert: ?Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme“. Er soll von
Thomas Morus
oder anderen Geistesgroßen stammen oder jedenfalls verwendet worden sein.
[3]
[4]
Die Version ?Tradition ist Bewahrung des Feuers und nicht Anbetung der Asche“ wird falschlich
Gustav Mahler
zugeschrieben.
[5]
Belege werden dafur regelmaßig nicht prasentiert und sind auch sonst nicht zu finden. Die Gegenuberstellung: Bewahrung der Asche oder der Flamme, benutzte allerdings schon
John Denham
in seinem Gedicht
To Sir
Richard Fanshaw
, upon his Translation
[6]
of
Pastor Fido
. Denham vergleicht dort eine poesielose, an den Worten klebende Ubersetzung
Wort fur Wort und Zeile fur Zeile
mit Fanshaws lebendiger, sinngemaßer Ubertragung im Geist des Originals:
- ?That servile path thou nobly dost decline
- Of tracing word by word, and line by line.[…]
- A new and nobler way thou dost pursue
- To make translations and translators too.
- They but preserve the ashes, thou the flame,
- True to his sense, but truer to his fame:“
[7]
.
Das
Bremer Sonntagsblatt. Organ des Kunstlervereins
brachte am 12. Mai 1861 unter der Uberschrift
Englische Dichtungen
eine Verdeutschung von
Georg Pertz
:
- Nicht sclavisch hebst du Deines Dichters Schatz,
- Ihm folgend Wort fur Wort und Satz fur Satz; […]
- Die neue, edl’re Bahn erschlossest du
- Der Kunst, stolz rufend ihren Jungern zu:
- ?Nicht Asche ? wahrt der Flamme Heiligthum!
- Seid treu dem Dichter ? mehr noch seinem Ruhm!“
Darunter folgten Ubertragungen Pertz’ ?nach
Th. Moore
“.
[8]
Dies konnte dazu beigetragen haben, dass spater, als jemand die Asche/Flamme-Metapher von Ubersetzungen auf Traditionspflege ubertrug, irrtumlich Thomas Morus zu ihrem Urheber avancierte.
Seltener bezeichnet
Tradition
die Tradierung, also den Prozess der Uberlieferung selbst, auch wenn in
systematischer
Hinsicht der
Tradition
sprozess die Grundlage fur die
Tradition
als kulturelles Erbe bildet. Die altere Traditionstheorie hat den Traditionsprozess als einen Vorgang beschrieben, bei dem ein Tradent einem Empfanger etwas uberliefert. Neuere Ansatze kritisieren diese Auffassung als zu starke Vereinfachung. So wie das schlichte
Sender-Empfanger-Modell
in der
Kommunikationstheorie
tatsachliche
Kommunikation
unsachgemaß beschreibt, ist das vergleichbare Tradent-Empfanger-Modell unzulanglich. Die Entdeckung des
Subjekts
in der
Neuzeit
macht es nach dieser Auffassung notig, eine Wechselbeziehung anzunehmen, wie es beispielsweise der Kultursoziologe
Stuart Hall
fur das Sender-Empfanger-Modell vorgeschlagen hat. Der vormalige ?Empfanger“ wird als aktiver Teil von Traditionsprozessen verstanden (Tradent-Akzipient-Modell)
[9]
.
Traditionstheorien gibt es in sehr unterschiedlichen Zusammenhangen: In der
Ethnologie
, der
Volkskunde
, der
Soziologie
, der
Philosophie
, der
Theologie
, der
Literaturwissenschaft
und der
Rechtswissenschaft
. Dabei konzentrieren sich die einzelnen
Wissenschaften
jeweils auf Teilaspekte des
Phanomens
Tradition
. Bislang liegt kein Ansatz fur eine systematisch entwickelte Traditionstheorie vor.
Da Tradition zu den Grundlagen des sozialen Lebens und Handels gehort, hat sich insbesondere die
Soziologie
mit dem Phanomen
Tradition
befasst.
Robert Spaemann
sieht im
Franzosischen Traditionalismus
gar eine der Wurzeln der Soziologie selbst.
[10]
In jedem Fall hat die soziologische Auseinandersetzung mit der Tradition die geistes- und kulturwissenschaftlichen Diskussionen insgesamt gepragt. Insbesondere
Max Webers
Verstandnis von Tradition als einem von vier Grundtypen
sozialen Handelns
ist wirkungsgeschichtlich kaum zu uberschatzen. Weber grenzt die Orientierung an Tradition von der zweck- und wertrationalen Orientierung des Handelns ab.
[11]
Er greift damit ein Traditionsverstandnis auf, das am Ende des
19. Jahrhunderts
vorrationale Tradition und rational orientierte
Moderne
gegenuberstellt. Diese Gegenuberstellung ist auch die Folge einer kritischen Abwendung vom Traditionsverstandnis des Traditionalismus.
Neben seinem Versuch, den Traditionsbegriff mit vier Grundtypen sozialen Handelns greifbar zu machen, formuliert Weber gleichsam eine Theorie der politischen
Herrschaft
, wobei er zwischen
charismatischer
,
rationaler
,
legaler
und traditioneller Herrschaft unterschied.
[12]
Hierbei knupfte er den Begriff der Tradition eng an eine herrschende Einzelperson, die uber einen von ihm abhangigen
Verwaltungsstab
verfugt. Merkmal der auf Tradition beruhenden Herrschaft sei Weber zufolge, dass die politische Ordnung primar auf uberliefertem Wissen beruhe, auf personlichem
Gehorsam
basiere und ? im Gegensatz zur charismatischen Herrschaft ? einen alltaglichen Charakter habe.
[12]
Laut Samuel Eisenstadt ist das Traditionsverstandnis von Max Weber nur bedingt geeignet, das Phanomen der Uberlieferung und Ubernahme zwischen den Generationen und den
Einfluss
auf die Bildung sozialer Gruppen angemessen zu beschreiben. Ware es so, dass der Modernisierungsprozess das Uberkommene allmahlich abstreift, musste dieses Phanomen weltweit zu beschreiben sein. Tatsachlich biete der Modernisierungsprozess aber ein differenziertes Bild: Zum Teil wurden Traditionen von modernen Entwicklungen und Auffassungen abgelost (Traditionsabbruch), zum Teil gerieten Moderne und Tradition in einen unuberwindbaren Konflikt (Traditionalismus,
Fundamentalismus
), zum Teil bestunden Tradition und Moderne konfliktlos nebeneinander oder erganzten sich sogar (
Alternativmedizin
). Wie wenig sich die Begriffe ausschließen, zeige sich aber insbesondere daran, dass
Modernitat
selbst zu einer neuen ?großen Tradition“
[13]
geworden ist. Statt Tradition als vormodern zu betrachten, was zu kurz greifen wurde, gilte es darum, die soziale Funktion der Tradition auch in modernen und post-modernen Gesellschaften zu beschreiben. Fur
Anthony Giddens
besteht diese Funktion darin, das
kollektive Gedachtnis
einer Gesellschaft zu organisieren.
[14]
Fur die soziologische Analyse des Phanomens Tradition bieten sich nach
Edward Shils
drei Aspekte an: 1. formal, 2. inhaltlich und 3. strukturell. In formaler Hinsicht ist Tradition abhangig vom Prozess der Tradierung. Inhalte, die nicht tradiert wurden bzw. werden, mogen kulturhistorisch interessant sein, sind aber soziologisch uninteressant fur die Betrachtung von Tradition. Inhaltlich zeichnen sich Traditionen durch eine besondere Wertschatzung oder einen besonderen Anspruch aufgrund der Vergangenheitsorientierung aus. Strukturell ist Tradition auf
Wiederholung
, Weitergabe und
Ritualisierung
angelegt. In der Perspektive dieser drei Aspekte wird deutlich, wie Tradition kulturelle Leitmuster
(guiding patterns)
ausbildet und so die Vergangenheit in die Gegenwart hineinreicht und diese beeinflusst.
[15]
In Anlehnung an Shils definiert der amerikanische
Organisationspsychologe
Karl E. Weick
Tradition als etwas, das in der Vergangenheit erzeugt, durchgefuhrt oder geglaubt wurde oder von dem [heute] geglaubt wird, dass es existierte, ausgefuhrt oder in der Vergangenheit geglaubt wurde und das von einer Generation zur nachsten weitergegeben wird oder wurde. Weiter spezifizieren Shils und Weick: ?Um als Tradition zu qualifizieren muss ein Muster mindestens zweimal in drei Generationen ubergeben werden.“
[16]
In der
Ethnologie
bildete sich ab 1982 eine eigene Debatte zum Thema
Tradition
, die durch das Verstandnis von Tradition als kulturellem Konstrukt gepragt ist (siehe auch
Sozialkonstruktivismus
). Ausgangspunkt waren Anfang der 1980er Jahre die Arbeiten des Briten
Eric Hobsbawm
und des Amerikaners Roger Keesing. Großen Einfluss auf die Diskussion hatte 1983 die These von der ?
erfundenen Tradition
“, welche die beiden Sozialhistoriker Eric Hobsbawm und
Terence Osborn Ranger
in ihrem Sammelband
The Invention of Tradition
ausfuhrten. Danach sind viele Traditionen, denen eine alte Herkunft zugeschrieben wird, verhaltnismaßig jung, aufgezeigt auch am Beispiel
schottischer
und
walisischer
Kultur, deren Wurzeln zumeist im 19. Jahrhundert liegen. Bekanntestes Beispiel ist die so genannte
Highlander-Tradition
mit
Kilt
und
Dudelsack
, die als Protestkleidung erst nach der Vereinigung mit England aufkam, aber als ursprungliche Highland-Tradition angesehen wird.
[17]
Ein Jahr zuvor hatten Roger Keesing und Robert Tonkinson in ihrem Aufsatz
Reinventing Traditional Culture
auf der Basis von ethnologischen Forschungen in
Melanesien
am Beispiel der Bezeichnung
kastom
(ein
Pijin
-Wort auf den
Salomonen
, vom
englischen
custom
abgeleitet, ubersetzbar als ?Tradition“) versucht aufzuzeigen, dass das kulturelle Selbstverstandnis stark von kolonialen Einflussen gepragt ist und sich deutlich vom
vorkolonialen
Brauchtum
unterscheidet.
Jocelyn Linnekin und Richard Handler verstanden 1984 Tradition als symbolische Konstruktion und Reprasentation.
[18]
Sie grenzten ihren analytischen Gebrauch des Wortes vom Alltagsverstandnis ab, wonach Tradition wie eine Sache erscheint, die weitergegeben werden kann. Dagegen betonten Linnekin und Handler, Traditionen seien als symbolische Konstruktionen der aktuellen Generation immer Interpretationen und konnten durch die Interpretation verandert werden. Dadurch entsteht, was Linnekin und Handler das ?Paradox der Tradition“ nennen: Der Versuch, eine Tradition authentisch zu bewahren, bedarf der Interpretation dieser Tradition, und genau dadurch verandert sie sich. Kern dieser symbolischen Konstruktion ist die Verwendung von Material aus der Vergangenheit, um Handlungen, Verhalten, Beziehungen und Artefakte in der Gegenwart zu verstehen.
Weitere wichtige ethnologische Positionen vertreten Geoffrey Miles White und Lamont Lindstrom
(Tradition als Diskurs)
sowie Kathleen M. Adams
(Tradition und Agency)
.
In der
Geschichtswissenschaft
wird unter ?Tradition“ die mundliche oder schriftliche Uberlieferung von Informationen zum Zweck der Erhaltung fur die Nachwelt verstanden. Der Begriff dient zur Unterscheidung von Tradition als bewusster Uberlieferung vom
Uberrest
als unbewusster Uberlieferung, etwa in Form Gebrauchstexten und -gegenstanden wie Rechnungen, Bestandslisten etc. (vgl. Artikel
Tradition (Geschichtswissenschaft)
). Der in der Sozialgeschichte eingefuhrte Begriff der ?
erfundenen Tradition
“ nimmt im Unterschied zum Begriffspaar ?Tradition/Uberrest“ die umgekehrte Perspektive der (bewussten oder unbewussten) Traditionskonstruktion der Nachwelt in den Blick und betont die soziale Konstruktion der Geschichtsschreibung selbst.
In der antiken Rechtssprache (
Romisches Recht
) war
Tradition (
traditio
)
der Ubergabeakt einer (beweglichen)
Sache
zum Beispiel bei der Vererbung und beim
Kauf
. Daher ruhrt auch die noch heute manchmal begegnende Verwendung von Tradition als Auslieferung (vergleiche englisch:
trade
).
Auch im heutigen deutschen
Zivilrecht
ist zur
rechtsgeschaftlichen
Ubertragung des
Eigentums
an einer beweglichen Sache grundsatzlich neben der
dinglichen Einigung
die
Ubergabe
der Sache erforderlich, es gilt also das
Traditionsprinzip
. Jedoch wird das Traditionsprinzip haufig durchbrochen, indem die Ubergabe durch eines der gesetzlich vorgesehenen Ubergabesurrogate ersetzt wird (zum Beispiel Vereinbarung eines
Besitzkonstitutes
oder Abtretung des Herausgabeanspruchs).
In der modernen Rechtswissenschaft bezeichnet
Traditionstheorie
einen bestimmten Ansatz zur Abgrenzung des
offentlichen Rechts
vom
Privatrecht
. Die
Traditionstheorie
bezeichnet danach die Auffassung, dass bestimmte Rechtsgebiete
traditionell
dem offentlichen Recht zugeordnet werden. Dazu gehoren zum Beispiel Rechtsstreitigkeiten innerhalb des
Verwaltungsrechtes
.
Neben der Traditionstheorie gibt es als weitere Abgrenzungstheorien die
Interessentheorie
, die
Subordinationstheorie
(auch: Subjektstheorie) und die
modifizierte Subjektstheorie
.
Im Bereich der
Historischen Hilfswissenschaften
ist eine der rechtswissenschaftlichen Bedeutung nahe liegende Verwendung gebrauchlich, wenn die Ubertragungen von
Grundeigentum
an Kloster und ihre
Beurkundung
als
Tradition
bezeichnet wird (vgl.
Traditionsbuch
)
In der
Philosophie
spielt der Traditionsbegriff kaum eine Rolle. Selbst in etablierten Handbuchern fehlt haufig eine Erorterung des Themas und eine Analyse des Begriffs. Der
Philosoph
Karl Popper
sah die Entwicklung einer Traditionstheorie vor allem als Aufgabe der Soziologie, nicht der Philosophie. Insofern wird in der Regel auf soziologische oder sozialanthropologische Begriffsklarungen zuruckgegriffen. Dennoch haben sich einige Philosophen wie
Josef Pieper
, die sogenannte
Ritter-Schule
und
Alasdair MacIntyre
mit der Theorie der Tradition befasst. Pieper hat vor allem die Verbindung von mittelalterlicher Philosophie und Katholizismus in den Blick genommen. Die Ritter-Schule hat Tradition vor allem wegen der geschichtlichen Einbettung allen kulturellen Lebens diskutiert. MacIntyre hat als
Kommunitarist
auf die Notwendigkeit traditionaler und regional gultiger Maßstabe fur die gegenwartige Ethik und Politik verwiesen. In Abgrenzung zu Pieper und MacIntyre und im Ruckgriff insbesondere auf die
Diskurstheorie
von
Jurgen Habermas
hat in jungster Zeit Karsten Dittmann versucht Tradition als Bedingung entgrenzter, generationsubergreifender Diskurse zu verstehen, die langwahrende Wandlungsprozesse wie das Projekt der Aufklarung erst verstandlich machen.
Chesterton
verweist auf die Parallelen zwischen Tradition und Demokratie und betont, dass die Tradition aus Regeln und Uberzeugungen besteht, die in einer Gesellschaft in der Vergangenheit mehrheitlich entschieden wurden. In diesem informellen Prozess liegen nach Chesterton die gleichen Prinzipien wie in formalisierten demokratischen Entscheidungen und er formuliert plakativ, dass ?alle Demokraten gegen den Ausschluss von Menschen aufgrund des Zufalls ihrer Geburt“ seien, wahrend die ?Tradition gegen ihren Ausschluss aufgrund des Zufalls ihres Todes“ argumentiere.
[19]
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Der Begriff Traditionelle Religion wird nicht selten als Synonym fur die mundlich uberlieferten
Ethnischen Religionen
verwendet, deren Vorstellungen praktisch ausschließlich auf den Tradierungsprozess zuruckgehen. Doch auch in den
Weltreligionen
spielen Traditionen eine wichtige Rolle:
Tradition ist im
Judentum
immer im Zusammenhang von Tradierung,
Lehre
und
Erinnerung
gesehen worden. In
Deuteronomium
6 (5. Mose 6) findet sich die Anweisung, das judische
Glaubensbekenntnis
als Summe des (gottlichen) Gesetzes an den Sohn weiterzugeben, dass dieser es an seinen Sohn weitergebe. Außerdem soll die Erinnerung an die Geschichte des eigenen Volkes, seine Entstehung und an den mit Gott am Berge
Sinai
geschlossenen Bund tradiert werden.
Kern des judischen Traditionsverstandnisses ist das Gesetz, die
Tora
. Bei der Uberlieferung der Tora wird unterschieden zwischen der schriftlichen Tora (die sogenannten funf Bucher Mose) und der mundlichen Tora, der (zunachst) mundlich uberlieferten Auslegung der schriftlichen Tora. Diese ist wiederum zum Teil verschriftlicht im
Talmud
.
Einen eigenen Begriff fur solche Tradition gibt es im
Tanach
nicht. Es gibt wohl das Wort
magan
, das
uberliefern
im Sinne von
ausliefern
meint, nicht aber im hier behandelten Sinn. Ein solches Wort entwickelt sich erst spater aus dem Wort
masorat
(das Verpflichtende, Bindende). Daraus leiten sich die Bezeichnung
Masoreten
ab, die im Speziellen fur eine judische Gelehrtengruppe des
Mittelalters
gebraucht wird. Die Masoreten bemuhten sich um eine moglichst genaue schriftliche Uberlieferung der
Tora
. Sie erstellten unter hinzufugen der
Masora
, einem umfangreichen textkritischen Apparat, den sogenannten
Masoretischen Text
. Masora gilt heute als Kernbegriff des judischen Uberlieferungsverstandnisses.
Eine bekannte Tradition im Judentum ist die
Brit Mila
(
Beschneidung
mannlicher Neugeborener kurz nach der Geburt).
Brit Shalom
, die unblutige Variante, ist wenig verbreitet.
In der
romisch-katholischen Kirche
wird unter Tradition die neben der
Bibel
stehende, aber genauso verbindliche Glaubenslehre seit den
Aposteln
und
Kirchenvatern
verstanden. Als
Traditionsprinzip
dient diese Glaubenslehre in der romisch-katholischen
Exegese
zur Auslegung der christlichen
Heiligen Schrift
; nach romisch-katholischer Auffassung kann die wahre Aussage christlich-biblischer Texte nur durch die Auslegungstradition der Kirche verstanden werden. Das Traditionsprinzip erganzt demnach das
Schriftprinzip
.
Seit der Reformationszeit ist der Bezug auf Tradition zu einem besonderen Merkmal vor allem des konservativen Katholizismus geworden. So widmete sich das
Tridentinum
, das als Beginn der Gegenreformation gilt, in seiner ersten Sitzungsperiode von 1545 bis 1547 dem Verhaltnis von Bibel und Tradition. Im ?Dekret uber die Annahme der heiligen Bucher und der Uberlieferungen“ wird der Anspruch der Tradition in Abgrenzung zur protestantischen Auffassung dokumentiert. Allerdings wird zu diesem Zeitpunkt der Traditionsbegriff selbst noch nicht ausdrucklich reflektiert. Das geschieht erst mit dem Franzosischen Traditionalismus, der eine konservative, katholische Reaktion auf die Franzosische Revolution darstellt, getragen von katholischen Adligen und Gelehrten wie
Louis-Gabriel-Ambroise de Bonald
und
Joseph de Maistre
. Der ausdruckliche Bezug auf Tradition und die Vorrangstellung der Tradition gegenuber der Vernunft bringt der Bewegung die Bezeichnung ?
Traditionalismus
“ ein, die seither fur viele reform- und aufklarungskritische, anti-moderne Auffassungen steht. Im 20. Jahrhundert steht fur solche traditionalistischen Auffassungen des Katholizismus insbesondere die
Priesterbruderschaft St. Pius X.
Der Begriff der
Orthodoxie
verweist bereits auf die beiden wesentlichen Aspekte des orthodoxen Traditionsverstandnisses: Orthodoxie heißt zugleich ?richtiger Glaube“ und ?richtiger Lobpreis“. Die ?Rechtglaubigkeit“ bezieht sich vor allem auf die biblische Uberlieferung. Fur den orthodoxen Glauben ist wichtig, sich dem Ursprunglichen zuzuwenden und diesem Ursprunglichen treu zu bleiben. Der biblische Text gilt als Garant, Herzstuck und Kern der Tradition. An diesem Punkt unterscheidet sich die Orthodoxie wesentlich vom romischen Katholizismus, der die kirchliche Lehrtradition eher gleichberechtigt neben die Bibel stellt. In den Anfangen der Reformation sahen die ersten Reformatoren in den orthodoxen Kirchen mogliche Verbundete. Erste Kontaktaufnahmen bereits in der ersten Halfte des 16. Jahrhunderts blieben am Ende aber folgenlos.
Der ?rechte Lobpreis“ bezieht sich auf den
liturgischen
Gottesdienst. Die sogenannte ?
Gottliche Liturgie
“ geht im Kern auf judische und fruhestchristliche Formen zuruck; seit gut 1000 Jahren wird sie in unveranderter Form gefeiert. Allerdings haben sich unterschiedliche Varianten dieser Liturgie entwickelt. Die bekannteste Form geht auf die Liturgie aus Konstantinopel zuruck und ist in allen orthodoxen Kirchen in Gebrauch. Diese liturgische Tradition, zu der neben den Texten auch Melodien, Handlungsablaufe, Gewander, liturgische Gerate, der Kirchenbau selbst, Ikonen etc. gehoren, hat eine ebenso große Bedeutung wie die biblische Lehre und wird auch oft zur Auslegung der Bibel herangezogen.
Seit der
Reformationszeit
, in der das
romisch-katholische
Traditionsverstandnis kritisiert wurde, entwickelte sich der Begriffsgegensatz von christlicher Heiliger Schrift und Tradition. Das Traditionsprinzip wurde zugunsten des
Schriftprinzips
als notwendiges Element des wahren Schriftverstandnisses aufgegeben; nach evangelischer Lehre ist die heilige Schrift selbsterklarend und deshalb allein die
Schrift
verbindlich fur Fragen des Glaubens (vergleiche
sola scriptura
). In einer gewissen Spannung hierzu stehen die neuen Traditionen, die sich in den einzelnen evangelischen Konfessionen herausgebildet haben.
Die neuzeitliche Traditionskritik der
Aufklarung
verdankt sich wesentlich des traditionskritischen Impulses der Reformation, ging aber auch wesentlich daruber hinaus, indem sie auch die Bibel selbst als zu kritisierende Tradition verstand.
Traditionskritik
ist zum einen der Name einer Methode in der historisch-kritischen Textforschung, zum anderen eine Bezeichnung der
Kritik
an Tradition und den tradierten Inhalten selbst.
- Traditionskritik als
historisch-kritische Methode
dient dazu, in verschriftlichten Texten die zugrundeliegenden mundlich verbreiteten Fassungen zu rekonstruieren (beispielsweise bei biblischen Texten, Lehrmarchen, Gebetssammlungen, Mythen). Die Traditionskritik steht im Verbund mit anderen historisch-kritischen Methoden, zum Beispiel der
Textkritik
und der
Formkritik
, und lasst sich aus diesem Forschungszusammenhang nicht als eigenstandige Methode herauslosen.
- Traditionskritik meint auch
Kritik
an Tradition als dem uberlieferten, kulturellen Bestand. Tradition wird dann problematisch, wenn sich Formen verselbstandigen, deren ursprunglicher Sinn verloren gegangen ist: ?Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage“ (Goethe).
In Europa begann mit der
Reformation
, spater mit
Rationalismus
und Aufklarung, ein kritisches Infragestellen uberlieferter Formen des
Wissens
,
Glaubens
und der
Moral
. Mit der Betonung des Vernunftprinzips (das an die Stelle des reformatorischen
Schriftprinzips
trat) wurde die Gultigkeit jedes Traditionsprinzips in Frage gestellt. Darauf reagierte schon fruhzeitig der
Franzosische Traditionalismus
, Ausdruck der
Reaktion
. Das Kraftemessen von Tradition und
Vernunft
halt bis in die Gegenwart an. Zusammen mit der Eigendynamik eines rationalisierenden
Kapitalismus
und den Folgen kultureller und okonomischer
Globalisierung
ist derzeit eine weltweite Revision uberkommener
Werte
und Uberlieferungen zu beobachten. Als Gegenreaktion sind ebenfalls weltweit
fundamentalistische
Tendenzen zu verzeichnen. Wie schon der
Franzosische Traditionalismus
ist die Reaktion in der Gegenwart haufig religios motiviert und gewaltbereit.
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